„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 10. April 2014

Beinah ein Buddha

(Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens, Biographie, München 2013)

1. Der dritte Weg
2. Aperçu
3. Anthropologie
4. Karma
5. Nur beinahe

Der Ursache-Wirkungszusammenhang bildet nicht nur im Konzept des Karma einen Kreislauf des Lebens. Auch die biologischen Prozesse bilden einen gemeinhin als ‚Stoffwechsel‘ bezeichneten Kreislauf. Buddhisten versuchen, dem Kreislauf zu entkommen, indem sie auf ein Lebensende hinarbeiten, das ihnen den Übergang ins Nirwana ermöglicht. Goethe hingegen verfolgt an dieser Stelle ein etwas anders gelagertes Projekt. Er will sich mit dem Leben einlassen, in der Hoffnung, daß sein Handeln und seine Werke ihn über den Tod hinaustragen und ihn in einer anderen Dimension fortdauern und fortwirken lassen. (Vgl. Safranski 2013, S.645)

Er stellte sich vor, er könne sich so auf das Leben einlassen, daß es ihn in seinen Kreislauf aufnimmt, wie eben bei einem Stoffwechselprozeß. Dazu gehörte nicht die Entsagung, die völlige Absage an jedes mögliche ‚Karma‘, sondern die Verbindung mit jenen Weltanteilen und ihre innere Verwandlung bzw. Aneignung, die nicht nur dem biologischen Wachstum des gegenwärtigen Körpers förderlich sind, sondern auch eben jenem Übergang in ein anderes Leben: „Über den physiologischen Stoffwechsel wissen wir inzwischen einigermaßen Bescheid, was aber ein gelungener geistig-seelischer Stoffwechsel mit der Welt ist, das kann man am Beispiel Goethes lernen. ... Man muß wissen, was man in sich hereinläßt und was nicht. Goethe wußte es, und das gehörte zu seiner Lebensklugheit.“ (Safranski 2013, S.15)

Was Goethe nicht verstand, wollte er auch nicht wissen. Darin steckt ein Gutteil Selbsterhaltung im besten Sinne. Wer sich selbst zu glauben zwingt, was ihm eine Religion als Offenbarung vorgibt, oder wer das Unanschauliche wissenschaftlicher Erkenntnisse im mikrokosmischen oder makrokosmischen Bereich zum Leitfaden fürs tägliche Handeln erhebt, hat den Anspruch aufgegeben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Aber bei Goethe steckt da noch mehr dahinter. Bei ihm geht es nicht nur um Aufklärung, sondern auch um Todesangst. Er verweigerte sich nicht nur den Autoritätsansprüchen falscher Propheten. Er ging auch einer elementaren Erfahrung aus dem Weg: dem Sterben ihm nahestehender Menschen. Er besuchte weder den kranken und sterbenden Schiller, noch saß er am Bett seiner sterbenden Frau. Sein Wunsch, über den Tod hinauszuleben, war dieser Angst geschuldet. So bildet das „Kunstwerk“ seines Leben, wie es Safranski beschreibt, nur ein Symptom dieser Todesangst. Goethe konnte sich nicht nur, wie Safranski schreibt, „einen Abschluß“ seines Lebens „eigentlich nicht vorstellen“ (vgl. Safranski 2013, S.645). Er wollte es auch nicht. Alle seine kunstfertigen Bemühungen, tätig zu bleiben, bildeten letztlich wohl nur eine Art Sprungbrett, so als hätte er ein ganzes Leben lang Anlauf nehmen müssen, um über den Tod hinauszuspringen.

Seine letzten Lebensstunden beschreibt sein Hausarzt mit folgenden Worten: „Fürchterlichste Angst und Unruhe trieben den seit lange nur in gemessenster Haltung sich zu bewegen gewohnten, bejahrten Greis mit jagender Hast bald ins Bett, wo er durch jeden Augenblick veränderte Lage Linderung zu erlangen vergeblich suchte, bald auf den neben dem Bette stehenden Lehnstuhl. Die Zähne klapperten ihm vor Frost. Der Schmerz, welcher sich mehr und mehr auf die Brust festsetzte, preßte dem Gefolterten bald Stöhnen, bald lautes Geschrei aus. Die Gesichtszüge waren verzerrt, das Antlitz aschgrau, die Augen tief in ihre livide Höhlen gesunken, matt, trübe; der Blick drückte die gräßlichste Todesangst aus.“ (Vgl. Safranski 2013, S.643)

Safranski weiß aber noch von einem letzten, versöhnlicheren Blick auf den Sterbenden zu berichten: „Tags darauf, am 22. März, setzte eine Beruhigung ein. Goethe konnte im Lehnstuhl sitzen, sprach einiges, was man nicht mehr so gut verstand, hob den Arm, zeichnete etwas in der Luft. Buchstaben. Der Arzt wollte ein ‚W‘ erkannt haben. Die überlieferte Bitte nach ‚mehr Licht‘ allerdings hat er selber nicht gehört. Es war zwölf Uhr mittags, als er sich bequem in die linke Ecke des Lehnstuhls schmiegte.“ (Safranski 2013, S.643)

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