„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 1. April 2014

Herfried Münkler, Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 3/2013

1. Methode
2. Kontingenz
3. Rolle der Intellektuellen
4. Paradoxien
5. Lernen aus der Geschichte

Max Webers im letzten Post angesprochene Kritik an den Intentionalisten, die den Ersten Weltkrieg vor allem unter dem Gesichtspunkt der moralischen Qualität der kriegsführenden Parteien beurteilten, verweist auf eine der zahlreichen Paradoxien, die Herfried Münkler zufolge auf beiden Seiten, den Mittelmächten wie der Entente, verhinderten, daß sie ihre strategischen Absichten umsetzen konnten. Letztlich erreichten nur die USA, die erst spät in das Kriegsgeschehen eintraten, die Ziele, die sie mit ihrem Kriegseintritt verbanden.

Die Liste der Paradoxien, die Münkler aufzählt, ist tatsächlich beeindruckend und rechtfertigt seine Beschreibung des Krieges als „Meister der Paradoxien“. (Vgl. Münkler 2013, S.785) Münkler zählt insgesamt acht auf:

(1) Großbritanniens Niedergang als Weltmacht, obwohl es genau diesen Niedergang mit seinem Kriegseintritt hatte verhindern wollen. (Vgl. Münkler 2013, S.786)

(2) Das Deutsche Reich sollte als Weltmachtkonkurrent ausgeschaltet werden, was aber nur dazu führte, daß nun die USA zur Weltmacht wurden. (Vgl. Münkler 2013, S.786)

(3) Deutschland als der Verlierer des Ersten Weltkrieges nimmt zu Beginn des 21. Jhdts. wieder eine Position ein, „die sich strukturell nicht wesentlich von der unterscheidet, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts innehatte.()“ (Vgl. Münkler 2013, S.787)

(4) Die schon erwähnte, von Max Weber beschriebene „Dämonie der Macht“ beinhaltet, daß es für das Handeln des Politikers „nicht wahr ist, daß aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne, sondern oft das Gegenteil ...“ (Vgl. Münkler 2013, S.791)

(5) Der Krieg brachte weder den bürgerlichen noch den aristokratischen Schichten in Deutschland den Machtzuwachs bzw. Machterhalt, den sie sich von ihm versprochen hatten. Stattdessen profitierte die Arbeiterschaft von den „im Krieg immer wieder beschworenen Solidaritätsvorstellungen“. (Vgl. Münkler 2013, S.793)

(6) Statt die Stellung der Frau in der Gesellschaft zu stärken und ihre Emanzipation zu fördern, wie es dem Ersten Weltkrieg oft zugeschrieben wurde – nach dem Ersten Weltkrieg erhielten die Frauen das Wahlrecht –, führte der Erste Weltkrieg zu einer „Konservierung der traditionellen Rollenvorstellungen zwischen Mann und Frau“ und zu einer Stärkung der Männlichkeitsideale. (Vgl. Münkler 2013, S.793f.)

(7) Anstatt in einen autoritativen Staat zu führen, beförderte der Krieg den Sozialstaat: „Die Geschichte des deutschen Sozialstaats wird im Allgemeinen auf die Sozialgesetzgebung Bismarcks und das spätere Wirken der Sozialdemokratie zurückgeführt. Dabei wird die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für diese Entwicklung zumeist unterschätzt: Der Krieg hatte Millionen Menschen zu Versorgungsempfängern gemacht, die nun dauerhaft von staatlicher Hilfe abhängig waren.()“ (Münkler 2013, S.794)

(8) Eine weitere „Paradoxie des Großen Krieges“ bestand Münkler zufolge schließlich darin, „dass er technologische, wissenschaftliche und künstlerische Entwicklungen in Gang gesetzt oder beschleunigt hat, die in der ‚Welt von Gestern‘ (Stefan Zweig) unvorstellbar waren. ... Als der Fortschritt der Naturwissenschaften und der technologischen Naturbeherrschung gesellschaftliche Folgen zeitigte, zerbrach der geschichtsphilosophische Optimismus, der das 19. Jahrhundert hindurch vorgeherrscht hatte.“ (Münkler 2013, S.795)

Das letzte Paradox ist insofern noch einmal besonders bemerkenswert, weil es – auch mit Blick auf das Scheitern der Weimarer Republik und auf den darauf folgenden Nationalsozialismus mit seinen Technologien der Menschenvernichtung – mit einem besonders in Deutschland auftretenden, grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber einer technologischen Gesamtauflösung des Existenzproblems des Menschen auf diesem Planeten verknüpft ist. Nirgendwo ist das Krieg und Frieden, Vernichtung und Bewahrung umfassende Paradox der Technik offensichtlicher zutage getreten als in der ersten Hälfte des 20. Jhdts.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen