„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 11. April 2014

Beinah ein Buddha

(Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens, Biographie, München 2013)

6. Nachtrag

Wenn es mit dem Aperçu um eine besondere Art des Dabeiseins geht, mit dem wir uns unsere Erlebnisse und Wahrnehmungen zueigen machen (vgl. Safranski 2013, S.89f. und meinen Post vom 07.04.2014), so gehört für Goethe zu diesen Erlebnissen das Sterben, dem er selbst bei nahen Freunden und Verwandten konsequent aus dem Weg ging, gewiß nicht dazu. Das Sterben war jener Anteil an der Welt, den er aus seinem „geistig-seelischen Stoffwechsel“ rigoros ausschloß. (Vgl. Safranski 2013, S.15)

Nun ist das Sterben gewiß ein äußerst unbekömmlicher Weltanteil, den kein lebendiger Organismus in sich aufnehmen kann, ohne daran zugrunde zu gehen. Bei jeder vernünftigen Diätetik scheint es also ganz oben auf der roten Liste jener Dinge zu stehen, die man meiden sollte. Wer so denkt und empfindet, übersieht aber, daß unser waches Bewußtsein, also jener Teil unseres Bewußtseins, mit dem wir nach Kant alle unsere Wahrnehmungen begleiten können müssen, nur einen ganz kleinen Teil des Gesamtbewußtseins ausmacht. Es gibt zahlreiche, alltägliche Ereignisse, wie z.B. das Einschlafen und Aufwachen und bestimmte Tiefschlafphasen jenseits des Traumbewußtseins, in denen wir ganz und gar nicht bei uns sind; Ereignisse, an denen wir zwar ‚beteiligt‘ sind, die sich aber ‚ohne uns‘ vollziehen. (Vgl.u.a. meinen Post vom 10.01.2012) Für diese Ereignisse ist deshalb auch der Begriff des Vollzugs reserviert: Vollzüge sind Ereignisse, die ohne uns geschehen.

Wenn wir in das Gesamtbewußtsein eines Lebewesens auch seine Lebensvollzüge miteinbeziehen, so sind alle unsere vegetativen Prozesse von der Art des Vollzugs. Es gibt Zen-Meister, die in der Lage sind, noch solche vegetativen Prozesse wie den Herzschlag, die Temperatur oder den Atem zu kontrollieren, also sogar hier noch ‚dabeizusein‘. Auch das Sterben selbst gehört zu diesen Vollzügen dazu. Allerdings handelt es sich hier um ein seltsames, dem Schmerz vergleichbares Zwischending von blindem Vollzug und erzwungenem, unfreiwilligem Dabeisein. Wahre Meisterschaft würde sich dann darin zeigen, wie wir bei unserem Sterben noch auf eine Weise dabei sein können, daß es sich weder blind noch zwangsförmig vollzieht.

Natürlich ist jeder im Sterben letztlich allein. Aber auch hier gibt es im sozialen Sinne eine Form des Dabeiseins, die im Falle des eigenen bevorstehenden Todes, im Kreise der Freunde und Nächsten, ein letztes Bei-sich-Sein ermöglicht.

Eins aber hat niemand, der sein Leben gelebt hat, verdient: in Schmerzen und in Todesangst aus dem Leben zu treten. So gelungen das Leben auch gewesen sein mag und so lange es auch gewährt haben mag: angesichts von Monaten, Wochen oder auch nur Tagen und Stunden der Todesangst sind es alle persönlichen Leistungen und Errungenschaften letztlich nicht wert gewesen ...

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen