„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 13. April 2014

Ute Frevert, Vergängliche Gefühle, Göttingen 2/2013

(Wallstein Verlag, 96 S., franz. brosch., 9,90 €)

1. Expressivität und Apperzeption
2. Ort und Zeit
3. Nähe und Ferne

Ute Frevert spricht in ihrem Buch „Vergängliche Gefühle“ (2013) von drei verschiedenen Dimensionen dieser Vergänglichkeit, von denen allerdings die erste und die dritte Dimension auf dasselbe hinauslaufen. Bei der ‚ersten‘ Dimension handelt es sich um die Kontingenz, um die Flüchtigkeit und Instabilität von Gefühlen. (Vgl. Frevert 2013, S.7) Weil Gefühle nicht dauerhaft sind, sie aber gleichwohl ein konstitutives Moment zwischenmenschlicher, sozialer Beziehungen bilden, bedarf es eines gesellschaftlichen, kulturell stabilisierenden Umgangs mit Gefühlen, der zu verschiedenen historischen Epochen sehr unterschiedlich ausfallen kann.

Als Beispiel verweist Frevert auf die neueste Ausgabe des Diagnosemanuals der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (DSM), demzufolge eine ‚normale‘ bzw. ‚gesunde‘ Trauerzeit nicht länger als zwei Wochen dauern darf. Alles, was darüber hinausgehe, sei als pathologisch einzustufen. Die 1980 erschienene, dritte Ausgabe des DSM hatte eine ‚normale‘ Trauerphase noch auf insgesamt ein Jahr angelegt. (Vgl. Frevert 2013, S.7) Wie vergänglich und wie dauerhaft also Gefühle sein dürfen, ist gesellschaftlich und historisch äußerst variabel.

Damit befinden wir uns aber schon bei der dritten, historischen Dimension, von der Frevert spricht: „Um die Historizität von Gefühlen als dritter Dimension geht es in diesem Buch.“ (Frevert 2013, S.9) – Inwiefern sich diese dritte Dimension von der ersten unterscheidet, wird aus dem vorliegenden Text nicht weiter klar. Irgendwie hat man den Eindruck, daß die Autorin ihren Lesern eine Vergänglichkeitsdimension der Gefühle vorenthält. Darauf werde ich im nächsten Post noch zurückkommen.

Bei der zweiten Dimension handelt es sich um die individuelle Wandelbarkeit von Gefühlen im Verlauf von verschiedenen Lebensphasen: „Dass Gefühle vergänglich sind, bildet sich zweitens im individuellen Lebensverlauf ab. ... Positive Gefühle sind bei älteren Erwachsenen signifikant häufiger zu finden als bei jüngeren.“ (Frevert 2013, S.8)

Bei dieser Dimension wird nicht so recht klar, wo hier die Betonung liegt: auf der Individualität oder auf der Biologie. Bei der ‚jüngeren‘ Lebensphase, von der hier die Rede ist, handelt es sich ganz offensichtlich um die Pubertät und ihre Biochemie („biologische Funktionstüchtigkeit“ (Frevert 2013, S.8)). Da hätten wir es also eher mit der Biologie zu tun. Bei der ‚älteren‘ Lebensphase haben wir es vor allem mit der größeren Erfahrung im Umgang mit Gefühlen zu tun. Hier liegt die Betonung auf der Individualität. Frevert zufolge setzt sich also die zweiten Dimension des „individuellen Lebensverlauf(s)“ aus zwei verschiedenen Momenten zusammen: aus Individualität und Biologie.

Frevert selbst will sich jedenfalls in ihrem Buch hauptsächlich nur mit der dritten Dimension, mit der „Historizität von Gefühlen“ befassen. (Vgl. Frevert 2013, S.9) Dabei geht es um einen Vergleich zwischen verschiedenen kulturellen Epochen und um den semantischen Raum, also die Sprache, die diese Epochen dem „kreativ-gestaltende(n)“ Umgang (vgl. Frevert 2013, S.15) mit Gefühlen zur Verfügung stellen: „Dieser Umgang wird im Folgenden an zwei prominenten Beispielen erläutert. Zunächst geht es um die moderne Geschichte von Scham und Ehre, anschließend um die Entwicklung von Mitleid und Empathie. Beide Gefühlspaare stehen für historische Vergänglichkeit ein, allerdings mit umgekehrter Dynamik.“ (Frevert 2013, S.15f.)

Mit „umgekehrter Dynamik“ meint Frevert, daß die kulturhistorische Bedeutung von „Scham und Ehre“ im westlichen Kulturraum – allerdings mit regional unterschiedlicher Tendenz – im Übergang vom 19. zum 20. Jhdt. abnimmt, während die kulturhistorische Bedeutung von „Mitleid und Empathie“ bis heute ununterbrochen zunimmt. Dabei sind die beiden Begriffspaare von unterschiedlicher begrifflicher Qualität: ‚Scham‘ und ‚Ehre‘ unterscheiden sich trotz ihrer inhaltlichen Nähe hinsichtlich der sozialen Kontexte, denen wir sie zuordnen, während wir es bei ‚Mitleid‘ und ‚Empathie‘ bloß um zwei additiv zusammengestellte verbale Variationen zur selben Gefühlslage zu tun haben. Auch darauf wird noch in einem der folgenden Posts zurückzukommen sein.

Wenn Frevert die verschiedenen historischen und regionalen Umgangsweisen mit Gefühlen wie Scham, Ehre und Mitleid thematisiert, spricht sie gerne von einer unterschiedlichen kulturellen „Semantik“, mit der auf diese Gefühle Bezug genommen wird. (Vgl.u.a. Frevert 2013, S.39) Damit hebt Frevert eine bezeichnende Differenz zwischen bloß biologischen – hier bezieht sich Frevert gerne vor allem auf die Neurobiologie – und einer kulturhistorischen Betrachtungsweise hervor: „Offensichtlich ist es eine Sache, Gefühle in bestimmten Gehirnregionen zu lokalisieren und zu messen, und eine andere, dieses Gefühl bewusst zu empfinden. ... Erst der kognitive Akt der Zuschreibung hebt das, was physiologisch-neuronal wahrgenommen werden kann, in die subjektive Erfahrung.“ (Frevert 2013, S.10)

Wenn es also die unsere Gefühle begleitenden Worte sind – als kognitiven Akten der Zuschreibung –, die die Gefühle in unser Bewußtsein heben, so bedeutet das, daß wir es hier mit einer Apperzeption zu tun haben, wie sie Kant beschrieben hat. (Vgl.u.a. meinen Post vom 07.04.2014) Nicht die biologischen Vollzüge als solche bilden also schon die Bewußtseinsakte, die sie ermöglichen. Der Bewußtseinsakt muß vielmehr in Form einer ‚Zuschreibung‘ bzw. in Form eines ‚ich denke‘ zu den neurophysiologischen Prozessen hinzukommen.

Damit eröffnet Ute Frevert den Blick auf einen Aspekt der Expressivität, den ich in diesem Blog bislang übersehen habe. Mit Plessner hatte ich Expressivität bislang als ein Moment der Doppelaspektivität von Innen und Außen verstanden. ‚Expressivität‘ bedeutete für mich im Sinne des Plessnerschen Noli-me-tangere ein beständiges Schwanken zwischen sich Zeigen und sich Verbergen auf der Grenze zwischen Innen und Außen. (Vgl. u.a. meine Posts vom 26.10. und vom 14.11.2010) Expressivität beinhaltet aber ganz offensichtlich auch eine rekursive Ebenentranszendenz (vgl. meine Posts vom 13.07. und vom 16.07.2012), die uns über die physiologischen Vollzüge erhebt und Bewußtsein ermöglicht. Erst, indem wir über unsere Gefühle reden, werden wir uns ihrer bewußt und machen sie uns zueigen: „Dem Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal wird das Bonmot zugeschrieben, man verliebe sich, indem man viel über die Liebe rede ...“ (Frevert 2013, S.13)

Es ist genau diese Ebene der Wandelbarkeit von Gefühlen, um die es Ute Frevert geht. Es geht ihr um die kulturhistorischen Formen, in denen wir sie thematisieren und damit allererst erlebbar machen: „Gefühle und ihre Sprache, heißt das, sind in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet, die ihnen Bedeutung verleihen. Sie haben einen Ort und eine Zeit, und sie sind keineswegs sozial amorph und unbeschrieben.“ (Frevert 2013, S.12)

Mit dieser kulturhistorischen Orts- und Zeitbestimmung entgeht ihr aber die anthropologische Dimension von Gefühlen wie Scham, Ehre und Mitleid. Es fehlt die individuelle Positionierung im Wechselverhältnis biologischer und kultureller Entwicklungslinien. Darum wird es in den folgenden zwei Posts gehen.

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