„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 14. April 2014

Ute Frevert, Vergängliche Gefühle, Göttingen 2/2013

(Wallstein Verlag, 96 S., franz. brosch., 9,90 €)

1. Expressivität und Apperzeption
2. Ort und Zeit
3. Nähe und Ferne

Im letzten Post konnte ich von Ute Freverts drei Dimensionen zur Vergänglichkeit der Gefühle nur zwei nachvollziehen. Die erste und die dritte Dimension laufen auf dasselbe hinaus, nämlich auf die kulturhistorische Relativität von Gefühlen. Dagegen schien sich mir die zweite Dimension, die Vergänglichkeit der Gefühle „im individuellen Lebensverlauf“ (Frevert 2013, S.8), aus zwei Teilen zusammenzusetzen: aus einem biologischen und einem individuellen Teil. Wenn man an dieser Stelle mit der Zählung noch einmal neu ansetzt, so können wir immer noch von drei Vergänglichkeitsdimensionen von Gefühlen sprechen: der biologischen, der kulturellen bzw. kulturhistorischen und der individuellen. Und diese drei Vergänglichkeitsdimensionen entsprechen den drei Entwicklungslinien, wie ich sie meinem Blog als anthropologische Perspektive auf den Menschen systematisch zugrundelege. (Vgl.u.a. meine Posts vom 21.04.2010 und vom 31.01. und 01.02.2013)

Mit dieser anthropologischen Perspektive komme ich zu einer anderen Orts- und Zeitbestimmung von Gefühlen als Ute Frevert, die dabei vor allem an „gesellschaftliche Zusammenhänge“ denkt. (Vgl. Frevert 2013, S.12) Sicher sind „Gefühle und ihre Sprache“ gesellschaftlich eingebettet. Aber diese gesellschaftlichen Zusammenhänge bilden als Momente einer kulturellen Entwicklungslinie nur den einen Aspekt menschlicher Individualität. Einen anderen Aspekt bildet die menschliche Biologie, die sich keineswegs auf neurophysiologische Befunde reduzieren läßt, wie Frevert selbst anzunehmen scheint. Darauf deuten zumindestens ihre Bemerkungen bezüglich einer „affektiven Neurowissenschaft“ hin, die Frevert zufolge den Gefühlen „auf der Spur“ ist. (Vgl. Frevert 2013, S.10)

Zwar steckt diese affektive Neurowissenschaft, wie Frevert selber einwendet, (noch) „in den Kinderschuhen“ und „phylogenetische Untersuchungen bleiben ihr prinzipiell verschlossen“. Aber so ‚prinzipiell‘ scheint dieser Befund nun doch nicht zu sein, da es lediglich nur der zu kurze „Atem“ bzw. das mangelnde „Geld“ sind, die „Langzeitstudien“ „bislang“ behindern. (Vgl. Frevert 2013, S.10) Freverts Herumlaviererei um eine Neurobiologie, die mal prinzipiell und dann wieder nur momentan ungeeignet ist, Gefühle zu untersuchen, zeigt, daß ihr mit ihrem ausschließlich kulturhistorischen Ansatz die anthropologische Grundlage fehlt. Deshalb kann sie die Vergänglichkeit der Gefühle nur unter dem Aspekt der „Objektverlagerung“ thematisieren: im Verlauf kulturhistorischer Epochenwechsel „schämt (man) sich für anderes, fühlt sich von anderem geehrt oder in seiner Ehre verletzt.“ (Frevert 2013, S.78)

Auch ihre Diagnose, daß die „Intensität“ der Gefühle Scham und Ehre im Unterschied zur Empathie im Verlauf des 20. Jhdts. bis heute abgenommen habe (vgl. Frevert 2013, S.80), kann Frevert nur treffen, weil ihr die anthropologische Perspektive fehlt. Außerdem hätte ein Blick in die Klassenzimmer und auf die Schulhöfe unserer Tage gereicht, um festzustellen, daß die Intensität des Erlebens von Scham und Ehre keineswegs abgenommen hat. Die größten Effekte beim Mobben erzielen Schüler jeden Alters immer noch damit, daß sie ihre ‚Opfer‘ öffentlich bloßstellen und ihre Ehre verletzen.

Mit Hilfe der folgenden Graphik möchte ich deshalb Ute Freverts kulturhistorische Analysen gegen den Strich lesen, indem ich ihnen die von mir beklagte fehlende anthropologische Perspektive hinzufüge.


Dabei lege ich die von Frevert thematisierten Gefühle, Scham, Ehre und Empathie, zugrunde. Scham und Ehre bilden einen eigenen, kulturhistorischen Konnex, in dem die Scham, ursprünglich auf beide Geschlechter bezogen, vor allem im 19. Jhdt. vor allem dem Gefühlshaushalt der Frau zugeordnet wurde, so sehr, daß die ‚Scham‘ nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein primäres, weibliches Geschlechtsmerkmal bezeichnet. Die Ehre wiederum war vor allem Sache des Mannes, so sehr, daß er selbst gar nicht mehr zur Scham fähig war. Wurde seine ‚Ehre‘, die immer auch mit den weiblichen Angehörigen seiner Familie eng verbunden war, verletzt, schlug er entweder reflexartig gleich zu oder man duellierte sich auf zivilisierte Weise. Zum Sich-Schämen blieb dem Mann da nicht viel Spielraum. Wie Frevert sich ausdrückt, hing die „männliche Ehre am seidenen Faden körperlicher Gewaltbereitschaft und physischen Mutes ...“ (Vgl. Frevert 2013, S.41)

Die Ehre der Frau war passiver Art. Ihr blieb angesichts tatsächlicher oder vermeintlicher Fehltritte nur die Möglichkeit, sich zu schämen. Damit war nun interessanterweise ein höchst subtiles Spiel aus Verbergen und Zeigen verbunden, das nun tatsächlich auf eine transhistorische, also anthropologische Dimension der Scham verweist. Im öffentlichen Umgang mit der Sexualität hob insbesondere die Mode die sekundären Geschlechtsmerkmale der Frauen extrem hervor, vom Korsett bis zum Reifrock, die im Wortsinn Brüste und Becken anhoben und aufblähten. Zu dieser regelrechten ‚Prostitution‘ weiblicher Geschlechtsmerkmale gehörten nun „züchtige Blicke und Gesten“, die Bereitschaft, jederzeit zu erröten, die – im Widerspruch zu den modischen Accessoirs – die unversehrte Unschuld und damit die weibliche ‚Ehre‘ demonstrieren sollten. (Vgl. Frevert 2013, S.30)

An dieser Stelle ist tatsächlich eine anthropologische Erörterung angebracht, nicht nur in Form eines Verweises auf Darwin und seine Deszendenztheorie, derzufolge die „Schamröte“ „erst spät entstanden“ sei. (Vgl. Frevert 2013, S.28) Denn mit der Scham verbinden sich biologische und kulturhistorische Komponenten zu einer individuellen Haltung. In der Graphik habe ich das mit zwei von der Biologie und der Kultur ausgehenden Entwicklungslinien darzustellen versucht, die sich im Individuum treffen bzw., wie ich lieber sage, ‚brechen‘. Der Körperleib des Individuums setzt sich zusammen aus den biologischen Funktionen der Scham und ihrer kulturhistorischen ‚Expression‘, die auch Frevert als einen Mix aus Physiologie, Mimik, Gestik und Sprache beschreibt: „Wer sich schämt, fühlt sich gelähmt, senkt den Blick, vermeidet den des anderen, wendet das Gesicht ab oder vergräbt es in den Händen. Mimik und Gestik der Scham haben eine lange Geschichte, die mitnichten auf den westlichen Kulturraum beschränkt ist.()“ (Vgl. Frevert 2013, S.9f.)

Wie körperliche und geistig-seelische Momente ineinandergreifen, hat Plessner besonders eindrucksvoll in „Lachen und Weinen“ (1950/1941) beschrieben. (Vgl. meine Posts vom 31.12.2010 bis 01.01.2011) Wie die Schamröte zeigt, ist die Scham immer auch etwas unmittelbar Körperliches bzw. Physiologisches. Schon deshalb macht es keinen Sinn, hier von einem Verlust an Intensität zu sprechen. Individualisiert wird die Scham im Laufe des Lebens durch ihre Verwandlung in ein Gewissen. Wer sich schämen kann, hat auch die Chance, ein Gewissen zu entwickeln.

Die anthropologische Qualität der Scham aber besteht nicht in irgendwelchen Inhalten oder Objekten, derentwegen man sich schämt, sondern in dem von Plessner beschriebenen noli me tangere. Die Scham beendet das gleichermaßen kokette wie expressive Spiel mit der Sichtbarkeit. Wir schämen uns immer dann, wenn wir allzu sehr sichtbar geworden sind, – wenn sich plötzlich alle Blicke auf uns richten und wir uns von ihnen ‚berührt‘ (tangiert) bzw. ‚getroffen‘ fühlen. Das ist kulturunabhängig und universell. Die von Frevert erwähnten „Unvollkommenheiten“, deren wir uns ertappt fühlen, sind eigentlich Nebensache. (Vgl. Frevert 2013, 22) Die Hauptsache ist, daß wir uns jetzt verstecken wollen und genau das jetzt nicht mehr können. Man hat uns in ein Licht gezerrt, dem wir nicht entkommen können.

Bei allen Gefühlen geht es immer wieder um diese Doppelaspektivität von Innen und Außen, und diese Doppelaspektivität ist weder biologisch noch kulturhistorisch ‚verortet‘. „Ort“ und „Zeit“ (vgl. Frevert 2013, S.12) von Gefühlen sind immer das Individuum. Auch die männliche Ehre ist so ein Spiel mit der Sichtbarkeit. Allerdings ist sie viel exhibitionistischer als die Scham. Sie ist von vornherein ein Bestandteil der gesellschaftlichen Bühne, und sie mag es, im Scheinwerferlicht zu stehen. Wird sie verletzt, bedarf es nur eines Duells, und alles ist wieder bestens. Dennoch ist die Ehre eine Maske der Scham. Nicht umsonst ging es bei den Duellen meistens um Frauen. Heutzutage haben wir es vor allem mit sogenannten Ehrenmorden zu tun.

Frevert beschreibt, wie man im Laufe des 18. und 19. Jhdts. versuchte, der äußeren Ehre eine „innere“ bzw. „wahre“ Ehre entgegenzustellen, die von „gruppenbezogenen Vorstellungen“ abstrahierte. (Vgl. Frevert 2013, S.35) Daraus entwickelte sich dann, wie Frevert sich ausdrückt, eine „Semantik der Würde, die allen Menschen eigen und unverletzbar sei.“ (Vgl. Frevert 2013, S.39) Auch hier haben wir es wieder mit dem „noli me tangere“ zu tun, von dem Plessner spricht.

Bei der Empathie beschreibt Ute Frevert, wie sich hier unter verschiedenen kulturhistorischen und ideologischen Umständen die Menschen darum stritten, ob das ‚Mitleid‘ nun ein ursprünglich natürliches, also biologisches Phänomen sei oder ein kulturell bzw. religiös vermitteltes Phänomen. Dabei wurde auch viel politisch argumentiert, etwa wenn es um die Abschaffung der Sklaverei ging und um die Begründung der Menschenrechte. (Vgl. Frevert 2013, S.64) Hierbei stand vor allem das Naturrecht, also die biologische Verwurzelung des Mitleids im Vordergrund. Es gab aber auch kulturimperialistische Argumentationsweisen, denen zufolge das Mitleid vor allem eine zivilisatorische Errungenschaft sei, mit dem man barbarische Naturvölker beglücken müsse: „Wer die Überzeugung teilte, Mitgefühl sei eine Errungenschaft des christlichen Abendlandes und anderen nicht zugänglich, tat dies im Bewusstsein eigener zivilisatorischer Überlegenheit.“ (Frevert 2013, S.62)

Bei der Darstellung dieser Zusammenhänge verbleibt Ute Frevert immer wieder im Unentschiedenen, obwohl sie sich zwischendurch auch schon mal auf Frans de Waals Buch „Das Prinzip Empathie“ (2011) bezieht. (Vgl. Frevert 2013, S.44; vgl. auch  meine Posts vom 15.05. bis zum 21.05.2011) Gerade bei Frans de Waal zeigt sich sehr schön, wie biologische Wurzeln der Empathie, etwa im Sinne der Mutterliebe, uns regelrecht daran hindern können, das Richtige zu tun, weil wir im Übermaß des Mitleidens nicht die richtigen Mittel verwenden. Eine panische Orang-Utan-Mutter erdrosselt ihre Tochter, die sich in einem Strick verfangen hat, während sie sie zu befreien versucht. In einem anderen Fall gelingt es einem erwachsenen Schimpansen, ein Schimpansenjunges aus genau derselben Situation zu befreien, indem er bedachtsam und überlegt zu Werke geht. (Vgl. meinen Post vom 16.05.2011)

De Waal zieht daraus den Schluß, daß bloße Empathie nicht ausreicht. Ohne geht es allerdings auch nicht, da wir ohne Empathie nicht helfen würden. Es bedarf einer Mischung aus Kognition und Empathie, von Distanz und Beteiligtsein, um helfen zu können. Damit aber haben wir es wieder mit einem spezifisch individuellen Verhalten zu tun. Das Individuum bricht also die biologischen und kulturellen Entwicklungslinien der Empathie und verwandelt sie in Verantwortung.

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