„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 15. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

Al Gores Buch ist in sechs Kapitel unterteilt, die den sechs im Titel seines Buches „Die Zukunft“ (2014) genannten, etwas unschön übersetzten „Kräften“ (drivers) entsprechen. Passender wäre es gewesen, ‚drivers‘ mit ‚Einflußfaktoren‘ zu übersetzen. Was die Sache betrifft, brächte es aber ‚Kontexte‘ besser auf den Punkt. Mit der „Welt AG“ (1) geht es Gore vor allem um die „stark vernetzte globale Wirtschaft“. Beim „Weltgehirn“ (2) denkt Al Gore an das „globale() elektronische() Kommunikationsnetz()“. Bei „Machtfragen“ (3) geht es um den Antagonismus zwischen Lebenswelt und Finanzkapital, den Gore analog zu Habermasens Kolonialisierungsthese beschreibt, ohne diesen eigens zu nennen. Bei den „Auswüchse(n)“ (4) denkt Gore an die Exzesse eines Wirtschaftswachstums, dem er ein mit dem Adjektiv ‚nachhaltig‘ versehenes Wirtschaftswachstum entgegenhält, ohne das Wachstum selbst, zumindestens schon im Rahmen seiner Einleitung, in Frage zu stellen. Mit der „Neuerfindung von Leben und Tod“ (5) geht es um „revolutionäre() Techniken in der Biochemie, der Genetik und de(n) Materialwissenschaften“, und „Am Abgrund“ (6) meint das angesichts des Klimawandels aus dem Gleichgewicht geratene Verhältnis von Zivilisation und Ökosystem. (Vgl. Gore 2014, S.12f.)

Jedem der Kapitel hat Gore ein detailliertes mind map vorangestellt, das einen Überblick über das Geflecht der mit diesem Kapitel verbundenen Themen bietet. Diese mind maps ergänzen das Register am Ende des Buches, indem sie die verschiedenen Schlagworte in Gruppen ordnen und diese Gruppen wiederum gruppieren und eine assoziative Systematik andeuten, die zum Mit-Denken einlädt. Eine schöne Idee.

Die umfassenden Recherchen zu diesen Kapiteln/Kontexten des menschlichen Handelns und Denkens und ihre Analyse haben ihm, so Gore, „neue Möglichkeiten des Verstehens eröffnet“. (Vgl. Gore 2014, S.13) Gore bezeichnet sich selbst als einen Optimisten, der sich weder naiv dem Ernst der Lage verschließen noch der „Neigung zum Pessimismus“ hingeben will, der blind ist für die „Umstände, die legitimen Anlass zu der Hoffnung geben, dass wir doch noch einen gangbaren Weg durch die vor uns liegenden Gefahren finden“. (Vgl. Gore 2014, S.30) Als wichtigste Instrumente auf so einem Weg nennt Gore einen ‚reformierten‘, insbesondere wiederum ‚nachhaltigen‘ „Kapitalismus“ (vgl. Gore 2014, S.25) und eine nicht durch das Geld ‚verzerrte‘ und ‚korrumpierte‘ „Demokratie“, in der „aus der Interaktion von Menschen unterschiedlicher Sichtweisen, Neigungen und Lebenserfahrungen Weisheit und Kreativität“ entstehen können (vgl. Gore 2014, S.24).

Al Gore geht also nicht nur von einer Vereinbarkeit von Nachhaltigkeit und maximaler Profitorientierung aus, sondern glaubt darüberhinaus, daß sich die Kolonialisierungseffekte eines „von der Sphäre des Marktes in die der Demokratie“ vordringenden „konzentrierte(n) Reichtum(s)“ innerhalb desselben kapitalistischen Systems, das diese Kolonialisierung bewirkt hat, wieder rückgängig machen lassen; und er denkt an so etwas wie eine erneuerte, ökologisch ausgerichtete „Allianz von Kapitalismus und repräsentativer Demokratie“. (Vgl. Gore 2014, S.23)

Für diese Naivität, den american way of life nur ein wenig reformieren zu wollen und ihn ansonsten einfach nur fortzusetzen wie gehabt, gibt es ein passendes Sprichwort: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!“

Dabei ist Al Gore durchaus nicht zimperlich in seiner Kritik an den Exzessen und der Korrumpierung von Wirtschaft und Politik der einzigen verbliebenen Supermacht. Er ist sich auch durchaus der singulären Situation der Menschheit im noch jungen 21. Jahrhundert bewußt: „Dass die nahe Zukunft völlig anders sein wird als alles, was wir aus der Vergangenheit kennen, ist unstrittig. Die Unterschiede sind qualitativer, nicht so sehr quantitativer Art. Kein Wandel, der sich in der Vergangenheit vollzogen hat, lässt sich mit dem vergleichen, was der Menschheit bevorsteht.“ (Gore 2014, S.13) – Angesichts einer solchen Feststellung wirkt Al Gores Festhalten an der Vorstellung eines nachhaltigen Kapitalismus nicht einmal mehr naiv, sondern einfach dumm.

Doch ist dieses Urteil vielleicht etwas voreilig. Ich bin noch bei der Einleitung des Buches, das ich in den folgenden Tagen und Wochen Kapitel für Kapitel lesen und besprechen werde. Und dumm ist Al Gore nun wirklich nicht. Schon in der Einleitung finden sich andere, durchaus lesenswerte Stellen, und auf eine will ich hier noch kurz eingehen, weil sie einen umfassenderen Blick auf die Situation des Menschen auf diesem Planeten ermöglicht.

Al Gore unternimmt eine zeitliche Perspektivierung des Menschen auf seinem Planeten, die mich an meine drei Entwicklungslinien (Biologie/Kultur/Individuum) erinnert. (Vgl. meinen Post vom 21.04.2010) Zunächst verweist Gore auf die ‚natürliche‘ Beschränktheit unseres Zeitempfindens auf unsere eigene Lebenszeit, die uns für „kurzfristiges Denken“ anfällig macht. (Vgl. Gore 2014, S.28) Das läßt sich so zwar nicht unbedingt verallgemeinern, weil wir durchaus von anderen, nicht-kapitalistischen Kulturen mit zyklischen Lebensrhythmen wissen, die dazu in der Lage gewesen sind, über mehrere Generationen hinweg zu planen und zu handeln. Diese Fähigkeit ist ja gerade das, was man eigentlich unter ‚Nachhaltigkeit‘ versteht. (Vgl. Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010) Dennoch trifft Gore einen richtigen Punkt, weil es in mündlichen Kulturen eine natürliche Grenze für die Verläßlichkeit des kollektiven Gedächtnisses gibt. Dieses Gedächtnis erstreckt sich nur über drei bis vier Generationen, weil es hier noch eine konkrete Kommunikation zwischen Großeltern und Enkeln gibt. (Vgl. meinen Post vom 07.02.2011) Alles, was noch weiter zurück reicht, beruht auf Hörensagen und ist ‚graue Vorzeit‘. Veränderungen, die außerhalb dieses intergenerativen Erfahrungsaustausches liegen, werden nicht wahrgenommen.

Das Phänomen der ‚shifting baselines‘ gibt es aber nicht nur für mündliche Kulturen. Auch in modernen, schriftbasierten Gesellschaften fällt es schwer, Veränderungen, die sich zu unseren Lebzeiten ereignen, wahrzunehmen, wenn sie nur langsam genug sind. Oder andersrum: wir nehmen Veränderungen bald nicht mehr als solche wahr, selbst wenn wir sie einmal bewußt befürwortet oder abgelehnt hatten. Und genau das hat viel mit dem zu tun, was Gore „kurzfristiges Denken“ nennt. Die Politik muß, um die Aufmerksamkeit der Wähler zu gewinnen und zu erhalten, möglichst den Eindruck erwecken, viele wichtige Entscheidungen zu fällen, und das auch möglichst noch kurz vor den nächsten Wahlen, weil viele Wähler meist schon vergessen haben, was an Positivem oder Negativem nur ein Jahr zuvor geschehen ist. Wenn Veränderungen einmal eingetreten sind, erleben wir sie bald als ‚normal‘, so, als wäre es schon immer so gewesen. Das ist das Funktionsprinzip der Lebenswelt.

Al Gore spricht nun von insgesamt vier „Uhren“, die wir im Blick behalten müssen. Wir müssen unsere persönliche Uhr, die unsere Lebenszeit anzeigt, mit drei anderen Uhren synchronisieren: mit der Uhr, die die „Jahrhunderte und Jahrtausende“ der menschlichen Kulturgeschichte anzeigt; mit der Uhr, „die die Zeitabläufe der Evolution misst“; und mit der „planetarischen Uhr“, die „geologische() Zeitspanne(n)“ umfaßt. (Vgl. Gore 2014, S.17f.)

Warum müssen wir das? – Weil unser jetziges Handeln „Störungen“ in den „natürlichen Systemen der Erde“ verursacht, die sich auf die weitere Kulturgeschichte, auf die weitere biologische Evolution des Menschen und auf die Geologie der Erde auswirken. (Vgl. Gore 2014, S.17) Al Gore bringt dabei als Beispiel die „90 Millionen Tonnen Schmutz, die wir jeden Tag in die Atmosphäre pusten und mit denen wir die globale Erwärmung beschleunigen“. Dieser ‚Schmutz‘ „wird auch in 10 000 Jahren noch dort oben sein und Wärme am Entweichen hindern.()“ (Vgl. Gore 2014, S.18) Dabei erwähnt Gore noch nicht mal die noch längeren Zeiträume, die der giftige Atomabfall überdauert, oder die Chemieabfälle, von denen allein die Deutschen jährlich 18 Millionen Tonnen in ihren Salzbergwerken versenken und die immer, immer giftig bleiben werden, auf ewig! (Vgl. „Wissenschaft im Brennpunkt“, DLF, 24.05.2010)

Bei Al Goeres Uhren handelt es sich um eine invertierte Perspektive auf die drei Entwicklungslinien, zu denen noch die geologische Entwicklungslinie, die ich bislang nicht berücksichtigt hatte, hinzukommt. Statt den Menschen nur von seiner Biologie, Kultur und Individualität her verstehen zu wollen, müssen wir ihn auch auf seine individuelle Verantwortung für seine künftige Kultur, Biologie und eben auch ‚Geologie‘ (Zeitspannen von vielen hunderttausend Jahren und mehr) hin denken. Erst dieses Zusammendenken von Individualität, Geschichte, Biologie und Geologie, also die Verbindung von individueller und planetarischer ‚Uhr‘ wird der immensen Aufgabe gerecht, die sich dem Menschen in unserer Zeit stellt.

Angesichts der Ungeheuerlichkeit und der Diskrepanz dieser ‚Verzeitlichung‘ erstaunt es umso mehr, daß Gore seine Hoffnung auf einen reformierten Kapitalismus setzt. Jedes Jahr 400.000.000 Tonnen Giftmüll weltweit: das ist wohl kaum einem bloßen Exzeß des Kapitalismus zuzuschreiben, so als gäbe es noch einen anderen nicht-exzessiven, gutartigen Kapitalismus.

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