„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 20. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Welt AG: Abschaffung von BWL und VWL?
2. Technologiekapital
3. Nachhaltiger Kapitalismus?

Wenn wie in der Agenda 21 (1992) der Vereinten Nationen, mit der diese sich für „Umwelt und Entwicklung“ einsetzen, immer wieder die Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Wirtschaftswachstum“ miteinander kombiniert werden und allen Ernstes von einem „nachhaltigen Wirtschaftswachstum“ die Rede ist, bekomme ich Zahnschmerzen. Wir leben auf einem begrenzten Planeten inmitten der Ödnis eines menschenfeindlichen Weltraums, aber unser Vertrauen in die unbegrenzte Innovationskraft unserer Wissenschaftler und Ingenieure macht uns blind für die schlichte Notwendigkeit, ein neues Gleichgewicht im Umgang mit den Ressourcen dieses Planeten finden zu müssen. Anstatt uns technologisch als künstliche Intelligenz zu duplizieren, brauchen wir einen neuen Zugang zu unseren natürlichen Bedürfnissen, in denen sich unsere Menschlichkeit begrenzt. ‚Nachhaltigkeit‘ meint dann auch die Einsicht in die konstitutive Funktion dieser Grenzen für unser Menschsein: wir wachsen an unserer Begrenztheit, und wir schrumpfen dort, wo wir uns technologisch entgrenzen.

Al Gore spricht nun aber nicht nur von einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum, sondern sogar von einem „nachhaltigen Kapitalismus“. Das geht über meine schlimmsten Zahnschmerzalpträume mit Wurzelbehandlung hinaus. Vom ‚nachhaltigen‘ Kapitalismus spricht Gore in demselben Kapitel, in dem er den bemerkenswerten Satz formuliert: „Ständig wachsender Konsum und eine gesunde Weltwirtschaft sind in jedem Fall immer weniger vereinbar.“ (Gore 2014, S.60) – Der Satz steht dann aber einsam da und wird im folgenden Text, in dem es um die Erfindung neuer Rohstoffe durch die Materialwissenschaften geht, nicht weiter erläutert. Eigentlich könnte man sogar von den darauf folgenden Erörterungen her zum gegenteiligen Schluß kommen und behaupten, daß man ruhig in weiter wachsendem Maße konsumieren könne, da die Materialwissenschaften dabei sind, neue Rohstoffe zu entwickeln, die die derzeitig schrumpfenden Ressourcen ersetzen werden.

Al Gore geht in seinem Buch öfter so vor, daß er Thesen behauptet, die er dann aber nicht weiter begründet. So auch in dem Abschnitt seines Textes, den er mit „Nachhaltiger Kapitalismus“ übertitelt. (Vgl. Gore 2014, S.69f.) Man sollte meinen, daß er hier auf ein paar Details zu sprechen kommt, was genau er darunter versteht. Stattdessen weist er aber nur auf seine gemeinsam mit seinem Partner David Blood gegründete Firma „Generation Investment Management“ hin, in der er sich für „einen, wie wir es nennen, nachhaltigen Kapitalismus“ einsetzt. (Vgl. Gore 2014, S.69) Auf den folgenden zwei Seiten dieses Textabschnitts folgt dann kein weiteres Wort mehr zum ‚nachhaltigen‘ Kapitalismus. Stattdessen spricht Gore zwei Probleme des „derzeit gängigen Kapitalismus“ (Gore 2014, S.70) an, die in dessen kurzfristigem, auf die Gewinne von Drei-Monats-Rhythmen fixiertem Denken bestehen.

Der diesem Abschnitt vorangegangene Textabschnitt ist mit „Kapitalismus in der Krise“ übertitelt. (Vgl. Gore 2014, S.67ff.) Als eines der Hauptkrisenmerkmale nennt Gore hier die „wachsende Ungleichheit in den meisten großen Volkswirtschaften der Welt“ und das „anhaltend hohe Niveau der Arbeitslosigkeit“. (Vgl. Gore 2014, S.67) Seltsamerweise beginnt dieser Textabschnitt aber mit einer Ehrenrettung des Kapitalismus als einer „im Vergleich zu anderen Wirtschaftsordnungen“, besonders effektiven Wirtschaftsform: „In der Zuteilung von Ressourcen und der Abstimmung von Angebot und Nachfrage ist der Kapitalismus effizienter. Er schafft mehr Wohlstand und ist besser mit einem hohen Maß an Freiheit vereinbar. Vor allem aber setzt der Kapitalismus ein größeres Maß an menschlichem Potenzial frei, da er mit allerlei Anreizen Leistung und Innovation belohnt.“ (Gore 2014, S.67)

Alle diese angeblichen Vorteile des Kapitalismus sind, wenn man sich den tatsächlichen globalen Weltzustand anschaut, ein schlechter Witz: Ressourcen? – Unser Planet wird geplündert, was die Technik hergibt, und sogar die Klimaerwärmung wird als Chance genutzt, noch an die letzten Rohstoffreserven der Arktis und der Antarktis heranzukommen. Abstimmung von Angebot und Nachfrage? – Al Gore selbst beschreibt, wie die Produktivitätssteigerung längst zu einer Abkopplung der Technologieentwicklung von unseren „essenzielle(n) menschliche(n) Bedürfnisse(n)“ geführt hat. (Vgl. Gore 2014, S.73; vgl. auch S.75) Hohes Maß an Freiheit? – Man muß nicht nur an die aktuellen, von Edward Snowden aufgedeckten NSA-Praktiken denken, über die Gore übrigens so gut Bescheid weiß, daß er nicht davor zurückschreckt vom „Apparat eines Polizeistaates“ zu sprechen. (Vgl. Gore 2014, S.126) Es reicht aber vorerst, darauf hinzuweisen, daß der Kapitalismus sich hervorragend mit Faschismus und Kommunismus, siehe das heutige China, verstanden hat und noch versteht, um zu erkennen, daß der Kapitalismus mit Menschenrechten nichts zu tun hat. Freiheit ist immer nur die Freiheit, das private Nutzungsrecht am Kapital und an den Ressourcen der Erde zu bewahren oder durchzusetzen.

Der Vergleich, den Gore zieht, um die Vorteile seines ‚Kapitalismus‘ zu begründen, ist deshalb auch eher peinlich: mit den „anderen Wirtschaftsordnungen“ sind Faschismus und Kommunismus gemeint. Anders als mit diesen beiden Wirtschaftsordnungen – handelt es sich beim Faschismus überhaupt um eine? – hat der Kapitalismus eher mit einer wirklich praktizierten Demokratie Probleme, etwa im Sinne von „Eigentum verpflichtet“. Das Experiment mit einer sozialen Marktwirtschaft in den sechziger Jahren in Westdeutschland hat dann auch nicht lange gedauert. (Vgl. meine Posts vom 03.08. bis 09.08.2013)

Letztlich meint Gore mit dem ‚nachhaltigen‘ Kapitalismus einen auf die Perspektive und die Bedürfnisse der Mittelschicht reduzierten Kapitalismus. Wenn er deshalb von „essenzielle(n) menschliche(n) Bedürfnisse(n)“ (Gore 2014, S.73) spricht, von denen sich die „Produktivitätszuwächse“ abgekoppelt haben, so ist damit in erster Linie der „Lebensstandard der Mittelschicht“ gemeint (vgl. Gore 2014, S.75). Von dem Wegfall der Arbeitsplätze ist vor allem diese Mittelschicht bedroht, die bislang aufgrund ihrer Bildung und Qualifikation von den technologischen Entwicklungen profitiert hatte. Wenn im langen 20. Jahrhundert Arbeitsplätze bedroht gewesen waren, dann vor allem die Arbeitsplätze der sogenannten Unterschicht. Diese ‚Unterschicht‘ kommt aber mittlerweile zum großen Teil nicht mal mehr in den Arbeitslosenstatistiken vor. Sie sind einfach das berüchtigte eine - oder sind es mittlerweile zwei? – Drittel der Gesellschaft, für das sich niemand mehr interessiert; nicht einmal die Politiker vor Neuwahlen.

Auch Gore interessiert sich also nicht wirklich für den Menschen, sondern nur für einen gesunden Kapitalismus mit einem gesunden Mittelstand. Kritik am Wachstumsdenken kommt da nur am Rande vor und ist argumentativ in der Gesamtdarstellung dieses Kapitels auch nicht wirklich eingebettet.

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