„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 23. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Unternehmenspersonen
2. Die Natur des Menschen
3. Die „Weisheit der Menge“
4. Geschichtsverläufe

Christina von Braun spricht davon, daß das Geld eines „starken Ichs“ bedarf, „um die ihm eigene Dynamik zu realisieren“. (Vgl. Braun 2012, S.440; vgl. auch meinen Post vom 22.12.2012) Das muß man aber, wie Al Gore zeigt, noch einmal differenzieren. Für das Geld ist ‚Ich‘ nicht gleich ‚Ich‘. Das wußten anscheinend schon die „Gründerväter“ der Vereinigten Staaten von Amerika, auf die Gore immer wieder zurückkommt. Zunächst kennzeichnet die Gründerväter ein ausgeprägtes Mißtrauen gegenüber der Konzentration von Macht: „Wenn bei einer kleinen Gruppe von Personen zu viel Macht konzentriert ist, korrumpiert das deren Urteilskraft wie auch ihre Menschlichkeit. ... Also wurde die Macht in konkurrierende Bereiche aufgeteilt, die sich gegenseitig überprüfen und ausbalancieren sollten. Das Ziel war ein sicheres Gleichgewicht, in dessen Rahmen die Einzelpersonen von ihrer Rede- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machen und ihren Glauben ausüben konnten.“ (Gore 2014, S.143)

Das politische System der USA ist deshalb durch ein ausgefeiltes check and balance bestimmt, das eben diese Konzentration von Macht verhindern soll. Schon die einzelne Person, also das individuelle Ich, ist demnach, was die politische Macht betrifft, keineswegs jenseits von gut und böse. An das individuelle Ich sind zwar unveräußerliche Menschenrechte geknüpft, eben auch die Freiheit, aber die Freiheit der Machtausübung, wie sie sich vor allem im us-amerikanischen Präsidenten konzentriert, stellt im Gegenteil eine potentielle Bedrohung der individuellen Freiheit dar.

Aber nicht nur die politische Macht des us-amerikanischen Präsidenten bedurfte nach Auffassung der Gründerväter der Kontrolle durch Repräsentantenhaus, Kongreß und oberstem Gericht. Sie trauten auch der Konzentration der wirtschaftlichen Macht nicht über den Weg. Und hier zeigt sich nun, welche Art von ‚Ich‘ es wirklich ist, auf die es in der Geldwirtschaft ankommt: auf die „Kapitalgesellschaften“. (Vgl. Gore 2014, S.151)

Gore beschreibt die Geschichte der Körperschaften, der „juristischen Person“, seit der Gründung der ersten Kapitalgesellschaft in Schweden um 1347. Dabei fällt auf, daß solchen mit individuellen Rechten ausgestatteten Gesellschaftsformen lange Zeit nicht so recht über den Weg getraut wurde. Zu einer verbreiteten gesellschaftlichen Institution wurden sie erst im 17. Jhdt. (Vgl. Gore 2014, S.151) Als das wichtigstes Unterscheidungskriterium gegenüber dem individuellen Ich nennt Gore die Unsterblichkeit, die es Kapitalgesellschaften erlaubt, über lange Zeiträume hinweg enorme Reichtümer und damit auch Macht anzuhäufen. (Vgl. Gore 2014, S.161) Ihre einzige Sorge gilt dem Geld, während sich sterbliche Einzelpersonen darüberhinaus auch „Sorgen um die Zukunftsaussichten“ ihrer Kinder und Enkel machen können. (Vgl. ebenda)

Juristische Personen wie die Kapitalgesellschaften haben deshalb auch kein Interesse am Allgemeinwohl. Gore zitiert den Konzernchef von Exxon, der die Bitte eines Politikers, seine Macht für eine sichere Treibstoffversorgung der US-Bevölkerung einzusetzen, damit kontert: „Ich bin kein US-Unternehmen und treffe Entscheidungen nicht nach dem Kriterium, was gut für die Vereinigten Staaten ist.“ (Gore 2014, S.162) – Gore ergänzt das mit dem Hinweis auf Thomas Jefferson, einem der Gründerväter, „der 1809, kaum einen Monat nachdem er das Weiße Haus verlassen hatte, in einem Brief an John Jay über ‚den selbstsüchtigen Geist des Geschäftslebens‘ klagte, ‚der kein Heimatland kennt und keine Leidenschaft und keinen Grundsatz empfindet, außer dem des Gewinns.‘“ (Ebenda)

Das ist also das „starke Ich“, von dem Christina von Braun spricht, das der Dynamik des Geldes dient, und die Gründerväter wußten sehr wohl von dieser demokratiefeindlichen Tendenz des Kapitals „und ließen Aktiengesellschaften ursprünglich meist für gemeinschaftliche und wohltätige Zwecke und nur für einen begrenzten Zeitraum zu.“ (Vgl. Gore 2014, S.152)

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Unternehmenslobbys, die ihre Sonderinteressen über das Allgemeininteresse stellten, immer einflußreicher und Korruption zur alltäglichen Gewohnheit: „Die manipulierte Präsidentenwahl von 1876 ... wurde nach den Untersuchungen von Historikern durch Geheimverhandlungen entschieden, bei denen Geld und Einfluss von Unternehmen die entscheidende Rolle spielten.() Sie bereiteten die Bühne für eine Phase korrupter Übereinkünfte die den neuen Präsidenten Rutherford B. Hayes zu der Klage veranlassten, dass ‚dies keine Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk mehr ist. Es ist eine Regierung von Unternehmen, durch Unternehmen und für Unternehmen.‘()“ (Gore 2014, S.152) – Das erinnert sehr an Streecks Analysen zum Schuldenstaat. (Vgl. meinen Post vom 06.08.2013)

Der Einfluß der Unternehmenslobbys auf die Politik ist bis heute ungebrochen: „Es ist heutzutage üblich, dass Rechtsanwälte im Auftrag von Unternehmenslobbys bei der Ausarbeitung von Gesetzentwürfen dabei sind und exakte Sprachregelungen zu neuen Gesetzen beisteuern.() Das geschieht in der Absicht, Hindernisse für die geschäftlichen Vorhaben der Unternehmen aus dem Weg zu räumen – in der Regel durch die Abschwächung bestehender Gesetze und Bestimmungen, die die Öffentlichkeit vor nachgewiesenen Exzessen und Missbräuchen schützen sollten. In den US-Bundesstaaten werden heute oft routinemäßig Gesetze abgesegnet, die vollständig von Unternehmenslobbys verfasst worden sind.“ (Gore 2014, S.150)

Marktfundamentalisten wie die „Tea Party“ verstehen das Wort „öffentliches Interesse“ überhaupt nicht mehr. (Vgl.Gore 2014, S.166) Für sie ist es nur ein anderes Wort für Kommunismus.

Unternehmenslobbys und konservative Richter des Obersten Gerichtshofs haben in den USA über viele Generationen hinweg daran gearbeitet, die Regularien, die die Gründerväter zur Eingrenzung wirtschaftlicher Macht eingerichtet haben, wieder aus dem Weg zu räumen. Ein wichtiges Instrument war dabei der 14. Zusatzartikel zur us-amerikanischen Verfassung, der am 28. Juli 1868 eingeführt wurde und eigentlich dazu dienen sollte, die Staatsbürgerrechte auch auf die ehemaligen Sklaven auszudehnen. (Vgl. Gore 2014, S.154) Im Dienste der Unternehmenslobbys stehende Rechtsanwälte und konservative Richter interpretierten diesen Zusatzartikel so, daß auch juristischen Personen wie den Kapitalgesellschaften individuelle Rechte zugestanden werden müßten: „Powell schrieb beispielsweise 1978 die Begründung zu einem mit fünf zu vier gefällten Urteil, das erstmals Gesetze von Bundesstaaten aufhob, mit denen Geldspenden von Firmen bei einer Wahl verboten wurden (hier bei einem Bürgerentscheid in Massachusetts), und führte dabei als Begründung an, das alte Gesetz verstoße gegen die freie Meinungsäußerung von ‚Unternehmenspersonen‘ (corporate persons).()“ (Gore 2014, S.160f.)

Das Recht, die Politik mit Geldspenden zu beeinflussen, wurde also mit dem Individualrecht der freien Meinungsäußerung gleichgesetzt. Manche Unternehmensvertreter scheinen, wie Gore andeutet, sogar so weit gegangen zu sein, das Wahlrecht für Unternehmen zu fordern. (Vgl. Gore 2014, S.158) Man kann sich vorstellen, daß in so einem Falle Kapitalgesellschaften mehr Stimmanteile für sich beanspruchen würden, als jedem einzelnen, individuellen Wähler zukommen.

Es tut sich hier aber nicht nur bei der Gleichstellung von privatwirtschaftlichen ‚Personen‘ mit Individuen ein Problem auf. Es gibt auch gemeinnützige Körperschaften, die am Allgemeinwohl interessiert sind. In der Moralphilosophie und in der Diskurs- und Kommunikationstheorie ist außerdem immer von der normativen Perspektive der ‚dritten Person‘ die Rede, die die Interaktionen unter Individuen reguliert. (Vgl. auch meinen Post vom 06.06.2012) Von Adam Smith kennt man den Begriff der „unsichtbaren Hand“, die das Marktgeschehen reguliert. Die subtile Demagogie, die mit der Anerkennung von Kapitalgesellschaften einhergeht, besteht nun darin, diese normative Perspektive der dritten Person mit dieser unsichtbaren Hand gleichzusetzen. Wo also Lobbyisten, die ja ebenfalls im Auftrag einer ‚dritten Person‘ tätig werden, rücksichtslos die Interessen ihrer Kapitalgesellschaften durchsetzen, können sie diese einfach gegen das allgemeine Interesse ausspielen.

Alle erscheinen jetzt gleichermaßen als Egoisten: gemeinnützige Einrichtungen, Individuen und Kapitalgesellschaften. So gesehen ist es nicht etwa das „Vordringen des großen Geldes“ (Gore 2014, S.166), das entsprechend der Kolonialisierungsthese von Habermas die demokratischen Entscheidungsprozesse korrumpiert, sondern das Geld selbst wird mit dem allgemeinen Interesse und damit mit der Demokratie gleichgesetzt. Es ist die dritte Person, von Brauns starkes Ich, der bzw. dem alle individuellen Interessen gleichermaßen und irgendwie auf demokratische Weise unterworfen sind.

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