„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 3. Juni 2014

Andreas Bernard, Kinder Machen – Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, künstliche Befruchtung, Frankfurt a.M. 2014

(S. Fischer Verlag, 543 S., 24.99 €)

1. Halbierte Kopulation
2. Zum biologischen Ursprung der klassischen Bildungstheorie
3. Der Einfluß des Individuums
4. Konkurrenz oder Symmetrie der Geschlechter?
5. Der Samenspender als Kulturstifter?
6. Selbsteugenisierung
7. Bedrohte Menschlichkeit?

Andreas Bernards Buch zum Einfluß der medizinischen Reproduktionstechnologien auf das Familienverständnis beginnt dramatisch mit der Beschreibung der 1992 entwickelten, inzwischen verbreitetsten Reproduktionsmethode: der „intrazytoplasmatischen Spermieninjektion“. (Vgl. Bernard 2014, S.9) Seine Worte begleiten dem Zoom eines imaginären Mikroskops, das eine Eizelle fokussiert, der sich eine Pipette mit einer Samenzelle nähert. Die Nadel drückt auf die äußeren, das Innere der Eizelle umgebenden Hüllen, und unwillkürlich fühlt man sich an einen phallischen Akt der Penetration erinnert. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Reaktion der Eizelle: „Sie zieht sich zusammen, als die Nadel ihre Oberfläche erreicht, schrumpft fast auf die Hälfte ihres Durchmessers, ohne dem Druck nachzugeben.“ (Bernard 2014, S.9)

Die Suggestionskraft dieser Beschreibung ist enorm. Unwillkürlich denkt man als Leser an einen Akt der Vergewaltigung. Auch Bernard wählt in der Folge immer wieder in diese Richtung weisende Formulierungen und spricht vom „gewaltsamen Eindringen der Injektionsnadel in die Eizelle“ (Bernard 2014, S.18), von „einem Akt der Gewalt“, wenn „ein Spermium mit einer Pipette ins Innere der Eizelle injiziert“ wird (vgl. Bernard 2014, S.451). Diese unwillkürlichen Bewertungen eines rein mechanischen Akts verweisen einerseits auf die innige Verbindung, die wir zwischen dem sichtbaren, intimen Geschlechtsakt zwischen zwei Menschen und dem ‚Zeugungsakt‘, bei dem man wohl besser von einem ‚Befruchtungsakt‘ sprechen sollte – hier zeigt sich schon eine bezeichnende Ambivalenz im öffentlichen Wissen um die rätselhaften Prozesse, die zur Entstehung neuen Lebens führen –, für gewöhnlich annehmen.

Andererseits beginnt Bernard mit dieser suggestiven Beschreibung eine das ganze Buch durchziehende Gratwanderung zwischen Kritik und Affirmation der Reproduktionsmedizin, bei der er – vergeblich – die Licht- und die Schattenseiten einer weiteren technologischen Entwicklung, die an der „Modellierung eines neuen Menschenbildes“ (Bernard 2014, S.23) beteiligt ist, auszubalancieren versucht. Man ist es ja inzwischen gewohnt, daß in den Medien ständig neue Zäsuren ausgerufen werden, vom Einfluß der digitalisierten Kommunikation im social web bis zu den alles revolutionierenden 3D-Druckern. Man hat sich in diesen allgemeinen Aufgeregtheiten eingerichtet, indem man einfach bei dem mitmacht, was einen sowieso mitnimmt, oder indem man dagegen seine Stimme erhebt, um wenigstens sich selbst den Eindruck zu vermitteln, man bestimme noch selbst über sein Leben.

Auch Bernard versucht, diese Illusion der Souveränität durch immer wieder aufflammende Kritik an der „Selbsteugenisierung“ der durch ihren Kinderwunsch getriebenen Paare bei der Auswahl des geeigneten Spermienspenders (vgl. Bernard 2014, S.120) oder am „Imperativ der Fruchtbarkeit“, der es den unfruchtbaren Paaren unmöglich macht, ihr „Verhängnis“ hinzunehmen (vgl. Bernard 2014, S.442), aufrechtzuerhalten. Aber immer wieder setzt sich bei ihm die Tendenz durch, wissenschaftliche und technologische Entwicklungen einfach zu Fortschritten in der Erkenntnis zu deklarieren und alle zuvor geltenden Praktiken und Umgangsweisen mit der Fruchtbarkeit bzw. Unfruchtbarkeit als veraltet und deshalb als der weiteren Berücksichtigung unwert abzuurteilen. (Vgl.u.a. Bernard, S.435)

Die Wissenschaftlichkeit von Disziplinen, die sich dennoch weiterhin – trotz nachgewiesenen Primats des genetischen Codes und seiner im Zellkern gleichermaßen isolierten wie von allen äußeren Einflüssen geschützten Materie – mit den möglichen Einflüssen des mütterlichen Organismus auf das werdende Leben befassen, wie die pränatale Psychologie, wird von Bernard angezweifelt. Er wundert sich sichtlich darüber, daß „die pränatale Psychologie“ immer noch „als ernstzunehmende wissenschaftliche Disziplin“ gilt, wo sie doch eher an so esoterische Lehren wie die „Dianetik-Lehre von Scientology“ erinnert. (Vgl. Bernard 2014, S.300) Am Schluß seines Buches aber konzediert er dann zumindest indirekt, daß die „Erkenntnisse() der Epigenetik“ genau diesen, von ihm zuvor verabschiedeten Anschauungen teilweise Recht geben, insofern sie „den über ein Jahrhundert lang unbestrittenen ‚Essentialismus‘ der Weitergabe von geschützten Erbanlagen in Frage (stellen).“ (Vgl. Bernard 2014, S.459)

Bernard hält also seine Gratwanderung nicht durch, und sein Buch endet letztlich mit einer Feier der neuen Möglichkeiten selbstbestimmter Familienkonstellationen, in denen von der Familienbildung bislang ausgeschlossene Paare einen erstaunlichen „Willen zur Konvention“ an den Tag legen und „routinierte, tendenziell überkommene Sozialrituale“ mit neuem Leben erfüllen. (Vgl. Bernard 2014, S.473f.)

Doch zurück zur Differenz zwischen Geschlechtsakt und Befruchtungsakt: Die Nähe, die in unserer Vorstellung beide Akte zueinander haben, so daß wir sie normalerweise als ein- und dasselbe wahrnehmen, hat sich durch das neue, Ende des 19. Jahrhunderts entstandene „Zeugungswissen“ als ‚falsch‘ erwiesen. Und gerade der Entdecker des vom Geschlechtsakt getrennten eigentlichen Befruchtungsmoments der Verschmelzung zweier Zellkerne in der weiblichen Eizelle, Oscar Hertwig, hat diese Verschmelzung als eine „merkwürdige Verdopplung des Zeugungsgeschehens“ (Bernard 2014, S.73) wahrgenommen: als „Copulation zweier Kerne“ (Bernard 2014, S.71). Fortan übernehmen „Pipette, Petrischale und Mikroskop“ die „Funktion der Körper; in der Injektion des Spermiums liegt das einzig penetrierende Moment“. (Vgl. Bernard 2014, S.73)

An dieser Stelle, der Trennung des Geschlechtsakts vom Befruchtungsakt, geschieht eine folgenschwere Trennung im Erleben des Menschen: das Unsichtbare tritt an die Stelle des Sichtbaren. Die intime Phänomenologie des Geschlechtsakts mit allen ihren emotionalen und sozialen Begleiterscheinungen von der Liebe bis zur Ehe wird durch einen Strukturalismus des genetischen Codes abgelöst, wie ihn Lévi-Straus für seine strukturalistische Anthropologie übernommen hat. Das Unsichtbare, die Struktur, dominiert von nun an die Wahrnehmungen des Menschen. Und die Reproduktionsmediziner arbeiten mit allen Mitteln daran, den sichtbaren, biologischen Vater unsichtbar zu machen und an seine Stelle die durch den Willen zum Kind, also nicht mehr biologisch, sondern intentional bestimmte Familienstruktur zu setzen.

Hatte Lévi-Strauss die Familienstruktur immerhin noch als eine „Wechselwirkung zwischen dem ‚willkürlichen Charakter‘ der Paarbindungen einerseits und der ‚Unabwendbarkeit der biologischen Vererbung‘ von den Eltern auf die gemeinsam erzeugten Nachkommen andererseits“ beschrieben (vgl. Bernard 2014, S.86), soll jetzt nur noch die elterliche Willkür bestimmend sein. In den folgenden Posts werde ich darauf noch mehrfach zurückkommen.

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