„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 9. Juni 2014

Andreas Bernard, Kinder Machen – Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, künstliche Befruchtung, Frankfurt a.M. 2014

(S. Fischer Verlag, 543 S., 24.99 €)

1. Halbierte Kopulation
2. Zum biologischen Ursprung der klassischen Bildungstheorie
3. Der Einfluß des Individuums
4. Konkurrenz oder Symmetrie der Geschlechter?
5. Der Samenspender als Kulturstifter?
6. Selbsteugenisierung
7. Bedrohte Menschlichkeit?

Die in der Öffentlichkeit wahrgenommene Nähe der Reproduktionsmedizin zur Eugenik ist nicht nur in einem historischen Mißverständnis bezüglich des Nationalsozialismus begründet, sondern sie läßt sich auch auf die Wirkung des von Aldous Huxley geschriebenen Buches „Brave New World“ zurückführen: „Zuallererst steht in diesen Auseinandersetzungen (um die sozialen Auswirkungen der Reproduktionsmedizin – DZ) der Kern des Menschlichen auf dem Spiel. Die Sorge, dass die Reproduktionsmedizin das Gut des Lebens in ein technisches ‚Produkt‘ verwandle, unabhängig von der körperlichen Vereinigung zweier Menschen, verbindet ansonsten unvereinbare politische Lager: Feministinnen und Kirchenvertreter, alternative und konservative Parteien.“ (Bernard 2014, S.430)

Mit der Verwandlung des Lebens in ein technisches Produkt, so wird befürchtet, geht eine Normierung der menschlichen „Arbeits- und Lebensordnung“ einher, „in der Liebesbeziehungen oder natürliche Fortpflanzung strengstens verboten sind und die Bevölkerung durch Drogengaben und verordnete Promiskuität im Zaum gehalten wird. Nicht umsonst erscheint (in Huxleys Buch – DZ) der Autobauer und Erfinder der Fließbandproduktion, Henry Ford, als göttliche Instanz des Weltstaats ... genau diese Engführung von artifizieller Zeugung, Konsumideologie und politischem Totalitarismus hat dazu geführt, dass Huxleys Buch zu einer derart ergiebigen Quelle für die Kritik an der In-vitro-Vertilisation werden konnte.“ (Vgl. Bernard 2014, S.434)

Bernard ist offensichtlich mit dieser Form des öffentlichen „Erregungsdiskurses“ (Bernard 2014, S.150) nicht einverstanden. So hält er den Gebrauch von „Metaphern der Dehumanisierung“ (Bernard 2014, S.430) anscheinend für vorwissenschaftlich, weil die Reproduktionskritiker trotz andersartiger wissenschaftlicher Erkenntnisse immer noch an „die Beteiligung des ganzen Menschen als unerlässlich für die Fortpflanzung“ glauben, „und das“, wie Bernard hinzufügt, „fast 150 Jahre, nachdem die Zellenlehre allen biologischen Theorien dieser Art ein Ende machte.“ (Bernard 2014, S.435)

Tatsächlich aber, glaubt Bernard resümieren zu können, sind die Kritiker der Reproduktionsmedizin auch historisch widerlegt worden, weil die Reproduktionsmedizin nicht nur nicht zu einem staatlichen Totalitarismus geführt habe, sondern sogar mit den neuen, durch sie ermöglichten Familienkonstellationen paradoxerweise zu einer Stabilisierung traditioneller Rituale beigetragen habe: „... in genau diesem Sinne hatten Aldous Huxley und die mit seinem Roman bewehrten Kritiker der künstlichen Befruchtung auf kolossale Weise unrecht: Die liebevoll verbundene Kleinfamilie und die technologisch unterstützten, asexuellen Methoden der Fortpflanzung schließen sich eben nicht aus.“ (Bernard 2014, S.474)

Bernard verweist außerdem auf private Alternativen zur kommerziellen Reproduktionsmedizin, wie z.B. regenbogenfamilien.de, einer Plattform, auf der Samenspender vermittelt werden, die sich für ihre Dienste nicht bezahlen lassen: „Geld spielt in den Arrangements meist keine Rolle; die Motivationen dieser Spender, die ihren Namen ausnahmsweise wirklich verdienen, sind rein altruistisch oder gehen auf ihren Wunsch zurück, ein Kind zu zeugen, ohne die volle Verantwortung einer Vaterschaft zu übernehmen.“ (Bernard 2014, S.483)

Aber selbst auf dieser vergleichsweise informellen Ebene übt die Technologie auf das Umgangsverhältnis der hilfesuchenden Paare und Singles einen normativen Zwang aus. Immer wenn ein glückliches Paar auf der Plattform von einer erfolgreichen Samenspende berichtet und sein Baby präsentiert, klingt durch die Glückwünsche, wie Bernard berichtet, der Neid derjenigen durch, die es noch nicht geschafft haben: „Unter der Oberfläche der Glückwünsche und niedlichen Worte herrscht auf Seiten wie ‚wunschkinder.net‘ eine unerbittliche Atmosphäre der Konkurrenz und des Wettbewerbs.“ (Bernard 2014, S.442)

Bernard versucht in seinem Buch tatsächlich immer wieder, Kritik und Affirmation zur Reproduktionsmedizin auszubalancieren. Dabei werden aber die verschiedenen Positionen, die er nicht nur beschreibt, sondern auch zum Teil als seine eigenen zum Ausdruck bringt, nicht miteinander vermittelt. Die verschiedenen Gedankengänge werden nicht zu Ende geführt und nicht gegeneinander abgewogen. Sie werden nur gegeneinander gestellt, und das weitere wird der Leserin, dem Leser überlassen. Dabei hält Bernard aber eine insgesamt von Sympathie und Faszination geprägte Einstellung zur Reproduktionsmedizin durch, die sich nur gegen den einen oder anderen Exzeß zu richten scheint, etwa wenn eine Frau, deren Eizelle befruchtet wurde, nun den innerhalb der nächsten fünf Tage vorzunehmenden „Embryotransfer in die Gebärmutter“ mit ihren anderen Terminen und einem schon verplanten verlängerten Wochenende für eine Urlaubsreise mit ihrem Mann zu vereinbaren versucht. (Vgl. Bernard 2014, S.10f.)

Auch seine Kritik am „Imperativ der Fruchtbarkeit“ (Bernard 2014, S.440), der mit der Reproduktionstechnologie einhergeht und der es den Frauen unmöglich macht, ihr Schicksal als einen Naturzwang hinzunehmen (vgl. Bernard 2014, S.442f.), wird von Bernard nur isoliert thematisiert, ohne daß er seine Kritik mit seinen an anderen Stellen zum Ausdruck gebrachten positiven Bewertungen vermittelt. Das kann man natürlich auch als eine Stärke seines Buches verstehen. Er überläßt es eben durchweg seinen Leserinnen und Lesern, wie sie sich zu dem von ihm aufbereiteten Material positionieren wollen. Doch indem Bernard naiv an der Vorstellung eines wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts festhält, der tatsächlich zu einer Dehumanisierung der wissenschaftlichen Forschung beigetragen hat, wird der unbefangene Leser suggestiv zu einer entsprechenden Affirmation verführt.

Vor allem aber eine Kritik, die Bernard zur Sprache bringt, hätte es verdient, in ihrer Konsequenz zu Ende gedacht zu werden: „Man spricht vom ‚Samenspender‘ (oder im Englischen vom ‚donor‘), von der Eizellspenderin, von der Leihmutter. Tatsächlich wird vom Verkauf der Zeugungsstoffe und Fortpflanzungsgaben aber ein verzweigter Geldkreislauf aktiviert: Die Ärzte und Vermittler bezahlen die Spender, die Paare wiederum, mit erheblichem Aufpreis, die Ärzte und Vermittler.“ (Bernard 2014, S.22)

Aber auch hier bleibt es nur bei einer einzelnen, nicht weiter ausgeführten Andeutung. Wer wissen will, wie das nominalistische Geld seit seiner Erfindung im antiken Griechenland von der Prostitution nicht nur bis zum Finanzkapitalismus, sondern eben auch zur Reproduktionsmedizin führte, dem empfehle ich Christina von Brauns „Der Preis des Geldes“ (2012). (Vgl. meinen Post vom 21.12.2012)

Dennoch möchte ich meine Kommentare zu Bernards Buch nicht mit einer negativen Bewertung beenden. Seine historischen Ausführungen zu den biologischen und kulturellen Entwicklungskontexten der Reproduktionsmedizin sind im Detail erhellend und informativ, und Leserinnen wie Leser können sich durchaus, auch gegen den Autor, eine eigene Meinung bilden. Ich möchte auch keinesfalls dahingehend mißverstanden werden, daß ich die neuen Familienstrukturen und die Spenderkinder für etwas irgendwie Monströses halte. Tatsächlich halte ich ‚Natalität‘ anders als Habermas, der sie als Naturereignis jenseits einer assistierten Empfängnis für die Menschlichkeit des Menschen für unverzichtbar hält und glaubt, daß Spenderkinder maßlos unter ihrer Künstlichkeit leiden müßten (vgl. „Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“ (2001)), nicht für entscheidend.

Was ich für entscheidend halte, ist die Körperlichkeit selbst, weil sich über sie, als Körperleib, die exzentrische Positionalität des Menschen vermittelt. Und exzentrisch positioniert sind wir alle, ob wir nun auf künstlichem oder natürlichem Wege entstanden sind. Und wir alle können uns deshalb zu unserer Leiblichkeit verhalten, bejahend oder verneinend. Das ist unser Schicksal, nichts sonst.
PS: Deshalb habe ich auch ein Problem mit den gender studies. Gleichviel ob sie nun den Geschlechtsunterschied nur als eine kulturelle Konstruktion verstehen, völlig abgetrennt von unserer Biologie, oder ob sie auch die weibliche Biologie selbst als bloß kulturell konstruiert verstehen: beides läuft auf eine Abtrennung des Menschen von seinem Körper hinaus. Der Mensch wird auf die kulturelle Entwicklungslinie reduziert. Ohne den biologischen Gegenpart aber hat das Individuum im ausschließlich kulturellen Horizont keinen Bestand. Es wird selbst zu einem bloßen Produkt seiner kulturellen Herkunft. Wenn wir die biologischen Phänomene nicht mehr unmittelbar erleben, unter ihnen leiden und sie genießen dürfen, weil wir sie immer schon als kulturelle Struktur zu lesen gezwungen sind, verbleibt dem individuellen Menschen keine Vermittlungsaufgabe mehr. Anstatt daß sich die beiden Entwicklungslinien der Biologie und der Kultur in der individuellen Entwicklungslinie brechen und transformieren, löst sich die individuelle in der kulturellen einförmig auf.
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