„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. August 2014

Hans Blumenberg, Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos, hrsg.v. Angus Nicholls und Felix Heidenreich, Berlin 2014

(Suhrkamp Verlag, geb. 22,95 €, S.147)

(I Präfiguration, S.7-49; II Ein Umweg, S.53-58; III Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Götz Müller, S.59-65; IV Götz Müller: Rezension von Arbeit am Mythos (1981), S.67-78; Editorische Notiz, S.79-81; Nachwort der Herausgeber, S.83-146)

1. Platonismus und Strukturalismus
2. Umwege als Verzicht: aufgeklärter Nihilismus

Das zwar schmale, aber inhaltsreiche, von Angus Nicholls und Felix Heidenreich aus Blumenbergs Nachlaß herausgegebene Buch „Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos“ (2014) enthält das ursprünglich für „Arbeit am Mythos“ (1979) geplante, dann aber von Blumenberg zurückgehaltene Kapitel „Präfiguration“; den ebenfalls bislang unveröffentlichten Text „Ein Umweg“; einen kurzen Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Götz Müller; eine Rezension von Götz Müller zu „Arbeit am Mythos“ und ein Nachwort der Herausgeber. Dabei bin ich als notorischer Querleser, der zwar systematisch liest, aber nur die jeweiligen Bücher, die er gerade liest, und sich ansonsten wenig um eine vollständige Lektüre der Werke der Autoren oder gar um die Rezeptionsgeschichte dieser Bücher kümmert, den Herausgebern besonders dankbar für ihre Einordnung von Blumenbergs Anthropologie in das politische und gesellschaftliche Denken der Weimarer Republik und der 1960er und 1970er Jahre der Bundesrepublik.

Das Wort ‚Mythos‘ steht bei Blumenberg nie nur für eine bestimmte archaische, also überlebte Denkform, sondern für eine immer noch aktuelle, anthropologisch begründete „Funktionsweise()“ (vgl. Blumenberg 2014, S.9), für die er an anderer Stelle auch den Begriff der Lebenswelt verwendet. Bei diesen Themen, ‚Lebenswelt‘ und ‚Mythos‘, überschneiden sich die Zuständigkeitsbereiche der Phänomenologie und des Strukturalismus. Anders als bei Wahrnehmungsgegenständen sind für narrative Gegenstände, also primär Bewußtseinsgegenstände, strukturelle Methodiken wie die strukturale Anthropologie von Claude Lévi-Strauss dominant, weil wir es hier mit Texten zu tun haben. Die Figur-Grund-Konstellation bildet hier keine Rückseiten, sondern „Latenzen“ (Blumenberg 2014 (Nicholls/Heidenreich), S.146), die das bewußte Erleben von ‚hinten‘ bzw. von ‚unten‘ her bestimmen. Der Unterschied zwischen Phänomenologie und Strukturalismus liegt letztlich darin, daß die einen mit einer Theorie der Unbestimmtheit und mit Metaphern als deren zentralen Elementen arbeiten, während die anderen von mathematisierbaren Strukturen ausgehen.

Anders formuliert: Die einen, die Phänomenologen, interessieren sich für Subjektivität, die anderen, die Strukturalisten, für Objektivität. Strukturalisten machen ‚Bedeutungen‘ an Codes fest und bevorzugen dabei die binäre Minimalform. Blumenberg hingegen definiert „Bedeutsamkeit“ „als subjektive und individuelle Wertigkeit der Dinge im Gegensatz zu ihrer Wertigkeit in der ‚objektiven Gegenstandswelt der exakten Wissenschaften‘, in der die Subjektivität methodisch ausgeschlossen wird“. (Vgl. Blumenberg 2014 (Müller 1981), S.73)

Da also zwei unterschiedliche Theorieansätze, wie sie verschiedener kaum sein könnten, im selben Gegenstandsbereich miteinander konkurrieren, stellt sich hier verschärft die Frage nach dem eigenen phänomenologischen Gehalt von Blumenbergs Vorgehen. Dieser phänomenologische Gehalt ist untrennbar mit dem Gestaltbegriff verknüpft, der wiederum auf einer Logik von Teilen und Ganzen beruht, so daß, wie beim Strukturalismus, „Verfahren der Auflösung in Elemente“ genau diesen Gestaltbegriff bedrohen. (Vgl. Blumenberg 2014, S.21)

Behauptet nun aber der Strukturalismus eine höhere Rationalität im Vergleich zum Intuitionismus meditativer phänomenologischer Methodiken, so hält Blumenberg diesem Anspruch entgegen, „daß die mythische Gestalterfassung sich durchaus auf eine der rationalen Formen der Philosophie, die Phänomenologie und ihre eidetische Anschauung zu berufen“ vermag. (Vgl. Blumenberg 2014, S.20)

Der Anspruch auf die eigene Rationalität gründet sich dabei auf das ‚Eidos‘ dieser Anschauung, also auf das Herausarbeiten einer ‚Idee‘ bzw. eines ‚Wesens‘. Der Begriff der Gestalt erhält dabei etwas Ambivalentes, Zwiespältiges, das einerseits mit der sinnlichen Wahrnehmung verbunden ist, andererseits auf ein übersinnliches Reich ewig gültiger Wahrheiten verweist. Blumenbergs Apologie fällt hier deshalb etwas unglücklich aus, denn er selbst hält nicht viel von solchen letzten Wahrheiten, und er setzt das Beharren darauf eigentlich mit dem Strukturalismus gleich, der mit seinem Gleichzeitigkeitsideal bestrebt ist, den „Zeitfaktor“ aus seinem Gegenstand ‚auszufällen‘. (Vgl. „Arbeit am Mythos“ (3/1984), S.301) Das Ergebnis ist dann zwar nicht mehr das „ewig Wahre, aber doch eines, für das Zeitverlauf und Zeitstelle gleichgültig sind“. (Vgl. ebenda)

Blumenberg verwendet deshalb die Begriffe „Strukturalismus“ und „Platonismus“ als Synonyme. (Vgl. Blumenberg 2014, S.12; (Müller 1981), S.71; „Arbeit am Mythos“ (3/1984), S.300) Den gemeinsamen Bezugspunkt sieht Blumenberg darin, daß beide mit einer „Vorlagenwelt reiner Gattungen und Arten“ arbeiten: „Reine Wirklichkeit ist eine Geltung ausstrahlende, sich Geltung verschaffende Sphäre und daher sich ebenso im Verhalten wie in Erscheinungen als Realität auswirkend.“ (Blumenberg 2014, S.13)

Es macht also eigentlich keinen Sinn, wenn Blumenberg das phänomenologische Vorgehen mit Verweis auf Husserls eidetische Anschauungen zu rechtfertigen versucht. Die Rechtfertigung liegt eher woanders: Der Phänomenologe hat im Unterschied zum Strukturalisten ein Sensorium für die Mythenbedürftigkeit und Gestalthungrigkeit seiner Zeitgenossen. (Vgl. Blumenberg 2014, S.21) Der Strukturalist bleibt dafür unempfindlich. Um den Bedürfnissen der „Zeitgenossen“ gerecht zu werden, muß allerdings die Differenz zwischen sinnlicher Wahrnehmung und historischer Gestaltenvielfalt deutlich gemacht werden, ohne daß das Historische „in der synchron-räumlichen Diffusion der Mythologeme“ („Arbeit am Mythos“ (3/1984), S.302) verloren geht. Diese Differenz versucht Blumenberg am Begriff der Präfiguration herauszuarbeiten.

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