„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 24. August 2014

Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin 2014

(Vorbemerkung: Von Erbe, Sünde und Moderne (S.9-29) / Kapitel 1: Die permanente Flut. Über ein Bonmot der Madame de Pompadour (S.31-53) / Kapitel 2: Dasein im Hiatus oder: Das moderne Fragen-Dreieck De Maistre – Tschernyschweski – Nietzsche (S.54-74) / Kapitel 3: Dieser beunruhigende Überschuß an Wirklichkeit. Vorausgreifende Bemerkungen zum Zivilisationsprozeß nach dem Bruch (S.75-94) / Kapitel 4: Leçons d’histoire. Sieben Episoden aus der Geschichte der Drift ins Bodenlose: 1793 bis 1944/1971 (S.95-221) / Kapitel 5: Das Über-Es: Vom Stoff, aus dem die Sukzessionen sind (S.222-311) / Kapitel 6: Die große Freisetzung (S.312-481) / Ausblick: Im Delta (S.483-489))

1. Erbsünde und Korruption (22.08.2014)
2. Methode (Kulturtheorie)

Das chronologische Vorgehen bei der kapitelweisen Besprechung von Sloterdijks Buch hat einen nachteiligen Effekt auf die Systematik. So erschließt sich der methodische Aspekt, der eigentlich an den Anfang (nicht nur) einer Besprechung gehört, aufgrund der essayistischen Konzeption seines Buches erst im zweiten Kapitel, das jetzt eigentlich zur Besprechung anstünde: und auch hier nur in einer Fußnote zu Pierre-Simon Ballanches (1776-1847) Begriff der „sozialen Palingenesie“. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.63f.) Zugegeben: Sloterdijk verweist schon in einer Fußnote in seiner „Vorbemerkung“ auf diese spätere Fußnote. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.28) Dennoch erscheint diese Fußnotenverweiserei als etwas umständlich. Denn dem, was Sloterdijk in seiner „Vorbemerkung“ zur „Kulturtheorie“ schreibt (vgl. Sloterdijk 2014, S.26ff.), hätten die ergänzenden Erläuterungen jener späteren Fußnote gutgetan.

Das soll in diesem Post jetzt nachgetragen werden: Sloterdijk bezeichnet das Vorhaben, das er mit seinem Buch verfolgt – und man darf wohl vermuten: auch das übergreifende Projekt seines gesamten bisherigen Denkens – als „Kulturtheorie“. In ihr will er biologische und kulturelle Entwicklungslinien zu einem gemeinsamen Projekt zusammenführen, das er in der „Vorbemerkung“ als Lernprojekt beschreibt. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.28f.) Dabei versteht Sloterdijk dieses Lernprojekt aber, anders als Habermas (vgl. meinen Post vom 20.01.2013), nicht als ein fortlaufendes, durch eine durchgehende Ratio getragenes kulturelles Kontinuum, sondern im biologischen Sinne als „trial and error“. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.73)

Sloterdijk zufolge war Ballanche der erste, der dieses Schema auf die „Zivilisationsgeschichte“ angewandt hatte. Dabei hatte er sich aber noch christlicher Begriffe bedient, die Sloterdijk jetzt zu Metaphern für den eigentlichen biologischen Gehalt umdeutet. Der Begriff der „sozialen Palingenesie“ spielt mit dem Gedanken der Wiedergeburt des Menschen durch die Taufe, der wiederum mit der Erneuerung des Menschen durch den Sühnetod Jesu verbunden ist. Ballanche erweitert diesen punktuellen, einzigartigen Akt der Erlösung zu einem permanent sich wiederholenden Zyklus des Stürzens (Sündenfall) und wieder Aufstehens (Erlösung), der das Leben jedes Menschen wie der Menschheit insgesamt durchgehend bestimmt.

Für die Sloterdijks Denken bestimmende Kulturtheorie bedeutet das, daß Fortschritt möglich ist, aber nicht ingenieursmäßig geplant, sondern eben als evolutionäres Lernen: durch trial und error. Mit ‚Fortschritt‘ ist aber vor allem ein kulturelles Projekt gemeint, das sich von der bloß blind-biologischen Evolution wie auch von einer konstruktivistischen Ratio unterscheidet. Sloterdijk spricht vom  „Fortschritt durch Prüfungen“: der „einzig glaubhafte(n) Devise in Zeiten evolutionärer Turbulenz.()“ (Sloterdijk 2014, S.28)

Die kulturelle Dimension dieses Fortschritts besteht letztlich in einer gegenüber der biologischen Evolution gesteigerten Gefährdungslage des Menschen. Die ‚Prüfungen‘ (error), denen der Mensch seine Pläne (trials) unterziehen muß, sind, um auf das Bild des Gehens als ständigem Fallen zurückzukommen, eher auf den ungesicherten Seiltänzer zu beziehen, den bei einem Fehltritt kein Netz vor dem Aufprall auf dem Boden bewahrt. Sloterdijk verwendet ein anderes, ähnlich gelagertes Bild. Nachdem er zunächst vom Umbau eines Schiffs „auf offener See“ spricht – ein Bild, das er wiederum im nächsten Kapitel dahingehend verschärft, „daß das hektisch reparierte Schiff bei voller Fahrt sich von selbst in seine Bestandteile zerlegt“ (vgl. Sloterdijk 2014, S.94) –, wechselt er über zum Umbau eines Flugzeugs während eines Flugs in großer Höhe: „Hin und wieder hört man jedoch die Befürchtung, das Flugzeug, an dessen Bord die Menschheit in die Zukunft reist, sei gestartet, bevor die Techniker das Fahrwerk zur Landung eingebaut hatten.“ (Sloterdijk 2014, S.74)

In diesem Bild gestaltet Sloterdijk die Gefährdungslage des Menschen gezielt anders aus als in seinem Aufsatz über das Raumschiff Erde, wo er die Insassen noch nach einer Bedienungsanleitung suchen läßt. (Vgl. meine Posts vom 29.09. bis 30.09.2011) Die Suche nach einer Bedienungsanleitung beinhaltet ein gewisses konstruktivistisches Grundvertrauen in die Ingenieursleistungen. Bei dem Flugzeug hingegen, dem das Fahrwerk zur Landung fehlt, richtet sich das Mißtrauen sogar noch gegen das Wartungspersonal, also gegen die Ingenieure selbst. Dieses Mißtrauen paßt eher zum Nietzscheschen Verdacht, daß „wir Alle“ ständig stürzen. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.71ff.) Allerdings bleibt bei dem Verzicht auf das metaphorische Potential vom Raumschiff Erde der Aspekt ungenutzt, daß auch die Umlaufbahn der Erde um die Sonne ein ständiges Stürzen beinhaltet, wie Nietzsche betont. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.71)

Wenn Sloterdijk also in seiner Kulturtheorie dem menschlichen Lernen eine ständige Selbstprüfungsnotwendigkeit zur Seite stellt, ja, dieses Lernen letztlich in einer Selbstprüfungsfähigkeit allererst begründet sieht, so liegt diesem Lernbegriff die Anthropologie eines aufrechten Gangs zugrunde, das sich in seinem dauernden Fallen immer wieder neu zu fangen weiß. Allerdings im luftleeren Raum! – Beinhaltet das nicht aufs Neue eine Hybris, eine „superbia“, wie sie Sloterdijk eigentlich unter Korruptionsverdacht stellt? (Vgl. Sloterdijk 2014, S.16f.)

Zumindestens fehlt der Hinweis auf irgendeine Art von Realität, an der Lernerfolge anders als beim Aufschlagen auf den harten Boden geprüft werden könnten. Denn daß das Flugzeug noch nicht abgestürzt ist, beweist nichts anderes, als daß die Technik noch funktioniert. Wie lange noch?

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen