„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 24. September 2014

Oskar Negt, Philosophie des aufrechten Gangs. Streitschrift für eine neue Schule, Göttingen 2014

Steidl Verlag, 18,00 €, 127 S.

1. Generationenverhältnis
2. Zeitstrukturen
3. Pädagogische Begriffe
4. Mit Kindern experimentieren
5. Macht und Verantwortung
6. PISA contra Bologna?
7. Anthropologie
8. Bildung und Lernen

Die Glocksee-Schule ist ein Schulexperiment. Was aber ist ein ‚Experiment‘, insbesondere ein pädagogisches wie ein Schulexperiment? Negt hebt hervor, daß so ein Experiment keineswegs mit einem naturwissenschaftlichen Experiment gleichgesetzt werden darf: „In der Anfangsgeschichte der Glocksee-Schule sind uns immer wieder von Eltern oder Außenstehenden Fragen gestellt worden, die sich mit einer Art Tabubruch beschäftigen: Was experimentiert ihr mit unseren Kindern? ... die Schieflage zwischen naturwissenschaftlich-technischen Experimenten und Gesellschaftsentwürfen, die ein menschliches Leben ausprobieren wollen, ist so alt wie das Philosophische Nachdenken über Individuum und Gesellschaft.“ (Negt 2014, S.53)

Negt bezieht sich vor allem auf die ethische Dimension, bei der es einerseits um den Subjektstatus der Kinder geht, zum anderen um das Generationenverhältnis, also um das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen. Auf den Subjektstatus der Kinder komme ich noch einmal gesondert im nächsten Post zu sprechen. Was das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen betrifft, kennzeichnet Negt das pädagogische Experiment als einen utopischen Versuch, dessen Besonderheit gerade darin liegt, daß er nicht wiederholbar ist, was ja das wesentliche Kennzeichen naturwissenschaftlicher Experimente ist. Da jede pädagogische Situation einmalig ist, muß sich alles pädagogische Handeln in dieser Situation unmittelbar bewähren, ohne Aussicht auf eine spätere, durch Laborsituationen gewährleistete Verifikation oder Falsifikation. Das pädagogische Handeln bildet also einen permanenten Versuchsstatus, und wir haben, wiederum aus pädagogischen, also aus ethischen Gründen gar nicht die Option, uns diesem Versuch zu verweigern. Denn, wie Negt Ludwig Marcuse zitiert, es kommt im Umgang mit den Kindern gar nicht darauf an, was wir erreichen, also, neudeutsch, auf den ‚Output‘, sondern daß wir überhaupt etwas tun: „Das Traurige an unserer Zeit ist aber nicht, was sie nicht erreicht, sondern was sie nicht versucht.“ (Zitiert nach Negt 2014, S.13)

Das ist der Grund für den höchst prekären Status pädagogischen Wissens und Handelns. In der Glocksee-Schule gab es anfangs eine Diskussion darüber, inwiefern dieser Schul-Versuch als ein Schul-Modell gelten könne und ob man nicht darauf hinarbeiten müsse, daß es viele Nachfolger in anderen Städten und Bundesländern gebe: „Es setzte sich dann aber doch eine Linie durch, die eher darauf bedacht war, mit größter Sorgfalt auf das Gelingen eines exemplarischen Projekts zu setzen. Denn ein Schulversuch dieser Art arbeitet unter spezifischen Bedingungen, die es – wie auch die Tatsache einer wissenschaftlichen Begleitung des Versuchs zeigt – in der öffentlichen Schule nicht gibt.“ (Negt 2014, S.74)

Negt führt die mangelnde Übertragbarkeit des Glockseeschulversuchs also auf die spezifischen Bedingungen zurück, unter denen er zustande kam und bis heute andauert. Und diese spezifischen Bedingungen sind in der Tat so bemerkenswert, daß Negt angesichts seines Zustandekommens sogar das inhaltsschwere Wort des „Kairos“ bemüht: „Die alten Griechen nannten eine günstige Konstellation kairos; auch der rechte Ort, der rechte Zeitpunkt sind damit gemeint.“ (Negt 2014, S.50)

Es mußten die unterschiedlichsten Akteure und zeitgeschichtlichen Konstellationen zusammenkommen, auf politischer, wissenschaftlicher, pädagogisch-professioneller, persönlicher und privat-bürgerlicher Ebene, damit die Schulgründung möglich wurde. Negt selbst war sich deshalb auch der begrenzten pädagogischen Möglichkeiten seines Projekts durchaus bewußt. Als ein befreundeter Politiker ihm das Versprechen abverlangte, daß hier keine schichtspezifische Eliteschule entstehe und er einen festen Anteil von Arbeiterkindern aufnehmen müsse, wußte Negt von vornherein, daß er dieses Versprechen nicht würde halten können. (Vgl. Negt 2014, S.51)

In der Tat hing das ‚Gelingen‘ dieses Schulversuchs von Anfang auch von der engen Mitarbeit der Eltern ab: „Dann begann für uns ein intensiver pädagogischer Arbeitsprozess mit wöchentlichen Sitzungen der wissenschaftlichen Begleitung, zu der eine ganze Reihe von Eltern gehörten, – Sitzungen, in denen äußerst konzentrierte, stets auf einzelne Kinder bezogene Debatten über didaktische Fragen und Verhaltensweisen der Schüler geführt wurden.()“ (Negt 2014, S.52)

Wie vielen Eltern mag es wohl möglich sein, sich so intensiv um das Gelingen einer Schule zu kümmern, der sie einen Großteil der Lebenszeit ihrer Kinder anvertrauen? Eltern, die täglich um das finanzielle Überleben ihrer Familie kämpfen müssen und oft mehreren Teilzeitjobs nachgehen müssen, um über die Runden zu kommen, wird das kaum möglich sein. Wir haben es also nicht mit einer öffentlichen Verwahranstalt zu tun, an die die Eltern ihre Kinder abgeben, oder mit einem Internat, sondern mit einer in einen Stadtteil und in eine Region eingebetteten Ganztagsschule, die den familiär-privaten Lebensraum der Schüler in die professionell-pädagogische Praxis miteinbezieht.

Als ich in einem Forschungsprojekt zur Reformpädagogik arbeitete, habe ich den privaten Tagebuchaufzeichnungen engagierter Schulgründer entnommen, wie kläglich deren hochgestimmtem Pädagogenträume am täglichen Elend der gebrochenen Biographien ihrer Schülerschaft scheiterten. William Lottig, der Gründer der Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen, sprach in diesem Zusammenhang höchst unpädagogisch vom unbrauchbaren „Schülermaterial“. Andere wiederum mißbrauchten die von ihnen gegründeten Schulen dazu, ihre eigenen verlorenen Kindheiten mit den ihnen anvertrauten Schülern nachträglich zu ‚retten‘. Wiederum andere bauten ihre Schulen zu Herrschaftsbereichen aus, in denen nur ihr Wille gelten sollte, während sie ihre eigenen pädagogischen Mitarbeiter der illegitimen Opposition und Intrigation verdächtigten.

In der Tat muß vieles zusammenkommen, damit eine Schule gelingt, und deshalb hat so ein Fall tatsächlich etwas von einem Kairos. Ich bezweifle übrigens, daß man bei einem kurzen Besuch einer Schule schon einen ersten richtigen Eindruck von der Qualität der pädagogischen Arbeit erhalten kann, wie Negt behauptet: „Es mag ein wenig übertrieben klingen, wenn ich behaupte, dass bereits beim Betreten eines Schulgebäudes erkennbar wird, ob die Kinder und Jugendlichen hier Subjekte des Lernens sind oder die Schule nach Maßstäben der Verwaltung und der Lehrerkontrolle organisiert ist.“ (Negt 2014, S.56)

So wichtig die Architektur einer Schule für die pädagogische Praxis auch sein mag, so zuvorkommend und freundlich einem Besucher Lehrer- und Schülerschaft auch begegnen mögen: was wirklich im 24-Stunden-Alltag etwa eines Internats geschieht, läßt sich durch einen kurzen Besuch nicht erfassen. Nur in einer Schule, in der die Eltern so intensiv in das Schulleben miteinbezogen werden wie in der Glocksee-Schule, können diese Eltern wirklich etwas über die Qualität der pädagogischen Arbeit wissen.

Der prekäre Status pädagogischen Wissens und Handelns wirkt sich deshalb auch auf das Sprechen über die pädagogische Praxis aus, und zwar auf allen Ebenen: in der Wissenschaft, in der Bildungspolitik und auf den zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen der Pädagogen. Am besten verstehen sich vielleicht noch die Kolleginnen und Kollegen innerhalb einer Schule, die immerhin eine gemeinsame Schulpraxis miteinander teilen. Aber auch hier sprechen die Kollegen immer wieder aneinander vorbei: und zwar genau dann, wenn sie nicht über ihre gemeinsamen Praxiserfahrungen sprechen, sondern pädagogische Begriffe verwenden, etwa „individuelles Lernen“, „selbstreguliertes Lernen“ oder andere Begriffe dieser Art. Egal wie gründlich man sich über diese Begriffe verständigen mag: letztlich wird doch jeder etwas anderes darunter verstehen, weil es sich hier um prinzipiell unscharfe, prinzipiell nicht eindeutig definierbare Begriffe handelt. Und das ist bei allen wirklich pädagogischen Begriffen der Fall, weil sie sich nicht in Form eines Outputs oder Produkts objektivieren lassen. Wieviel Lebenszeit habe ich auf Fortbildungsveranstaltungen verbracht, wo man fleißig und gutwillig aneinander vorbeiredete! – Blumenberg hat übrigens für solche Begriffe eine eigene „Theorie der Unbegrifflichkeit“ entwickelt. (Vgl. meine Posts vom 06.09. vom 10.09.2011)

Dieses Scheitern an der pädagogischen Begrifflichkeit finde ich auch bei Negt. Ein zentraler Begriff ist bei ihm das „selbstregulierte Lernen“, mit dem er sich auf die erste PISA-Studie beruft: „Selbstregulierung, dieser heute marktwirtschaftlich verengte Organisationsbegriff, ist sicherlich der schwierigste und missverständlichste Begriff in unserer pädagogischen Konzeption – nicht deshalb, weil wir die Mühe gescheut hätten, ihn zu präzisieren, sondern weil der Praxisinhalt ab einer bestimmten Reichweite pädagogische Begriffe undefinierbar macht ...“ (Negt 2014, S.80f.)

Negt weiß durchaus um die Korrumpierbarkeit dieses so leicht mißzuverstehenden Begriffs. Allerdings entgeht ihm, daß die marktwirtschaftliche Korrumpierbarkeit dieses Begriffs schon in der PISA-Studie mit ihrer Output-Orientierung angelegt ist. Selbstreguliertes Lernen steht schon in der PISA-Studie im Dienste einer Erfolgsorientierung, in der die Schüler das Bestmögliche aus ihrem Potential machen sollen, – zum Besten ihrer selbst und einer Gesellschaft bzw. Wirtschaft, die auf ein anschlußfähiges qualifiziertes Personal angewiesen ist.

Ein anderer zentraler pädagogischer Begriff, den Negt verwendet, ist die „Bildung“. Negt liefert auch eine wichtige Definition dieses Begriffs, der vor allem ein „kritisches Weltverständnis“ bezeichnet. (Vgl. Negt 2014, S.19) In dieser Definition fehlt mir allerdings noch eine wichtige Komponente: ich spreche lieber von einem kritischen Selbst- und Weltverhältnis. Aber letztlich liegt das Problem doch woanders. Obwohl sich Negt beim Bildungsbegriff auch auf Humboldt beruft (vgl. Negt 2014, S.33f.), faßt er die Bildung als „Gefäß“ bzw. als einen Speicher, in dem wir Reserven für Notzeiten anlegen (vgl. Negt 2014, S.31). Zur Veranschaulichung bringt er das Beispiel eines Gefangenen, der seine Isolationshaft dadurch überlebt, daß er von dem angehäuften Bildungsgut in seinem Inneren zehrt.

So beeindruckend dieses Beispiel auch sein mag: es hat überhaupt nichts mit Humboldts Bildungsbegriff zu tun! Bei Humboldt ist Bildung das genaue Gegenteil von einem Besitz, von dem man zehren kann, sei es nun in Gefangenschaft oder als Rentner. Bildung ist ein beständiger Prozeß, der in dem Moment in Unbildung umschlägt, wo wir glauben, einen Zustand des Gebildetseins erreicht zu haben und uns nun in diesem Zustand einrichten und ihn genießen. ‚Bildung‘ ist Humboldt zufolge die Antwort des modernen Menschen auf die Entfremdung. Sie ermöglicht es ihm, den ständig drohenden Subjektivitätsverlust in der arbeitsteiligen, das Individuum entmündigenden Gesellschaft in neue Subjektivitätserfahrungen umzuwenden. Bildung und Entfremdung gehören also dialektisch zusammen.

Auch Negt weiß um diesen engen Zusammenhang. Er spricht deshalb mit Hegel von „Bildung als entfremdeter Geist“. (Vgl. Negt 2014, S.28) Aber das ist nicht dasselbe. Bildung ist nicht entfremdeter Geist, sondern die Antwort auf ihn.

Pädagogische Begriffe hängen an solchen gleichermaßen diffizilen wie subtilen Unterscheidungen. Wenn wir sie nicht berücksichtigen, reden wir, auch wenn wir dieselben Worte aussprechen, doch aneinander vorbei.

Es ist wiederum Negt selbst, der den prekären Status pädagogischen Wissens und Handelns auf den Punkt bringt. Mit welchen Worten er die Glocksee-Schule auch immer beschreibt, es ist die Wirklichkeit der Glocksee-Schule selbst, die jenseits der Worte für sich stehen muß: „Die entfaltete Definition der Selbstregulierung, wie wir sie verstehen, wäre die Glocksee-Schule selbst, in all ihren Aspekten dargestellt und vom Endergebnis des Versuchs aus betrachtet.“ (Negt 2014, S.81)

Auf diese Weise fokussiert macht dann auch der Begriff des selbstregulierten Lernens wieder Sinn.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen