„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 28. September 2014

Oskar Negt, Philosophie des aufrechten Gangs. Streitschrift für eine neue Schule, Göttingen 2014

Steidl Verlag, 18,00 €, 127 S.

1. Generationenverhältnis
2. Zeitstrukturen
3. Pädagogische Begriffe
4. Mit Kindern experimentieren
5. Macht und Verantwortung
6. PISA contra Bologna?
7. Anthropologie
8. Bildung und Lernen

Zur Anthropologie in Oskar Negts Buch habe ich eigentlich schon in meinem Post vom 23.09.2014 das Meiste und Wichtigste geschrieben. Aber es gibt noch ein umfangreiches Kapitel in Negts Buch, in dem es nochmal besonders detailliert und ausführlich um anthropologische Themen geht. (Vgl. Negt 2014, S.101-117) Negt entwickelt eine spezifisch pädagogische Bestimmung des Verhältnisses von Anlage (Biologie) und Erziehung bzw. Umwelt. Seine diesbezügliche Antwort ist auf den ersten Blick gleichermaßen überzeugend wie schlicht: „Was mit der Geburt als Naturanlagen gesetzt ist, ist nichts weiter als ein Gesamt von Fähigkeiten und Anlagen, die sich aus eigenem Trieb gar nicht entfalten können. Der ‚ersten Geburt‘ müssen eine zweite, eine dritte folgen. Diese folgenden Geburtsakte sind nicht einheitlich zu fassen, sondern man kann mit gleichem Recht von einer psychischen Geburt sprechen.“ (Negt 2014, S.106)

Es gibt aber noch andere Stellen, die dann auf den zweiten Blick eine ambivalente Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft an den Tag legen, wie sie insgesamt die Geschichte der Pädagogik in den letzten 200 Jahren gekennzeichnet hat. So heißt es z.B. mit Bezug auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse: „Das Gehirn ist im Grunde nur das, was daraus gemacht wird; und was wir am Ende messen können, ist Resultat einer kooperativen Struktur zwischen biologischem Anteil und gesellschaftlichen Faktoren. Dieser Vorgang ist jedoch noch genauer zu fassen. Alles, was der Mensch aus seinen Anlagen macht, ist eingebunden in einen Interaktionsprozess zwischen verschiedenen Menschen und nie das eigentümliche Resultat isolierten individuellen Ausdrucks.“ (Negt 2014, S.112)

Der anthropologisch bedeutsamste Satz dieses Zitats befindet sich kursiv gesetzt gleich am Anfang. Wenn man alle Ergebnisse der Neurowissenschaften tatsächlich so zusammenfassen kann, daß es nicht auf bestimmte neuronale Verschaltungsmuster oder neuronale Codes ankommt, sondern darauf, was die Menschen aus dem plastischen Potential, das das Gehirn ihnen bietet, machen, dann haben wir hier eine umfassende Aussage über den Menschen auf dem Niveau der bildungsphilosophischen Einsichten von Klassikern wie Rousseau, Humboldt, Schleiermacher etc. vorliegen. Wenn man aber den letzten Satz des Zitates ins Auge faßt, so irritiert es doch sehr, daß das Ergebnis von Erziehung und Bildung niemals „das eigentümliche Resultat isolierten individuellen Ausdrucks“ sein soll.

Einerseits ist das ja durchaus richtig. Der individuelle Ausdruck darf nicht isoliert von seinem sozialen Kontext betrachtet werden. Andererseits stimmt das so aber nicht: Es geht am Kern der Sache vorbei! Denn natürlich ist das, „was der Mensch aus seinen Anlagen macht“, das „eigentümliche Resultat“ seines „individuellen Ausdrucks“! Es geht hier nämlich wesentlich um Expressivität! Nur durch das Hinzusetzen des Adjektivs ‚isoliert‘, wird Negts Feststellung richtig. Warum aber macht er das? – Weil es ihm immer wieder auch um eine kollektive Lerngemeinschaft geht, mit Europa als Lernsubjekt. (Vgl.u.a. Negt 2014, S.9)

Letztlich geht es Negt also nicht um eine Verhältnisbestimmung von Anlage und Umwelt im Sinne einer Bestimmung der individuellen Ontogenese, sondern im Sinne einer sozialen und kulturellen Ontogenese des Individuums. Das Individuum bildet hier nur das Medium einer sozial und kulturell dominierten Transformation biologischer Prozesse.

Das Stichwort ‚Expressivität‘ verlangt im Rahmen dieses Blogs natürlich sofort einen Verweis auf Helmuth Plessner. Bemerkenswerterweise bezieht sich auch Oskar Negt mehrmals auf Plessner. Bezüglich der Frage, in welchem Verhältnis Anlage und Umwelt zueinanderstehen, also biologische, kulturelle und individuelle Entwicklungslogiken, schreibt Negt zu Plessners „Stufen des Organischen“ (1975/1928): „So muss jede Bildungstheorie Bruch und Kontinuität in den ‚Stufen des Organischen‘, wie Helmuth Plessner die Gratwanderung zwischen Tier und Mensch nennt, noch einmal überdenken.“ (Negt 2014, S.103)

Mit „Bruch“ und „Gratwanderung“, auf die Negt hier zu sprechen kommt, deutet sich eine gewisse Einsicht in die Doppelaspektivität der menschlichen Expressivität durchaus an. Doch um diese Einsicht als eine ausgereifte, anspruchsvoll anthropologische Erkenntnis gelten lassen zu können, hätte Negt in jenem anderen Zitat nicht vom isolierten individuellen Ausdruck sprechen dürfen. Denn genau das ist der individuelle Ausdruck: eine Gratwanderung zwischen ‚Tier‘ und ‚Mensch‘, das noli me tangere der menschlichen Seele.

Negts ambivalente Formulierung macht auch eine andere Stelle, an der er sich auf Plessner bezieht, weniger gehaltvoll, als sie auf den ersten Blick zu sein scheint: „Exemplarisch für die Tradition der Aufklärung in der modernen Anthropologie steht Helmuth Plessner. ... Fundamental ist der Mensch der Emigrant der Natur, der keine Heimat von Natur hat, sondern insoweit, als er sie sich erobert und mit allen seinen Kräften des Gedankens und des Herzens an ihr festhält.“ (Negt 2014, S.105)

Zunächst scheint dieser Satz dem zu entsprechen, was Plessner als exzentrische Positionalität bezeichnet. Aber Negt hebt ausgerechnet den Aspekt des Sich-Anklammerns an die heimatliche Scholle hervor und läßt damit Plessners nüchterne Feststellung, daß diese exzentrische Positionalität im Nichts ‚gründet‘, unter den Tisch fallen.

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