„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 6. September 2014

Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin 2014

(Vorbemerkung: Von Erbe, Sünde und Moderne (S.9-29) / Kapitel 1: Die permanente Flut. Über ein Bonmot der Madame de Pompadour (S.31-53) / Kapitel 2: Dasein im Hiatus oder: Das moderne Fragen-Dreieck De Maistre – Tschernyschweski – Nietzsche (S.54-74) / Kapitel 3: Dieser beunruhigende Überschuß an Wirklichkeit. Vorausgreifende Bemerkungen zum Zivilisationsprozeß nach dem Bruch (S.75-94) / Kapitel 4: Leçons d’histoire. Sieben Episoden aus der Geschichte der Drift ins Bodenlose: 1793 bis 1944/1971 (S.95-221) / Kapitel 5: Das Über-Es: Vom Stoff, aus dem die Sukzessionen sind (S.222-311) / Kapitel 6: Die große Freisetzung (S.312-481) / Ausblick: Im Delta (S.483-489))

1. Iterative Individualisierungen
2. Entdopplung der Aspekte
3. Rhizom und Internet
4. Futurum II

Der von Sloterdijk beschriebenen Mystik (vgl. Sloterdijk 2014, S.339-369) ist der Welt-Pol abhanden gekommen, also eine Welt, an derem Rand und in deren Mitte sich Helmuth Plessners exzentrisch positionierten Subjekte befinden. So sehr diese exzentrische Positionalität im Nichts gründet – „Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann.“ („Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.292) –, ist diese Positionalität doch wesentlich durch den Weltbezug bestimmt. Deshalb sympathisiert Plessner zwar mit ‚Nihilisten‘ wie Kierkegaard und Nietzsche. (Vgl. meinen Post vom 07.12.2010) Aber wir haben es mit einem aufgeklärten Nihilismus zu tun, der sich selbst begrenzt, und nicht mit einem bodenlosen Absturz, wie ihn Sloterdijk am Beispiel von Max Stirner darstellt. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.453ff.) Dazu aber in meinem letzten Post mehr.

An dieser Stelle geht es mir vor allem um die Welt-Abwendung der christlichen Mystik. Nicht alle Formen christlicher Frömmigkeit sind weltfeindlich. Ihnen entspricht meistens ein weltlicher Pol in Form der das Gebet (Ora) ergänzenden ‚Labora‘ einiger Mönchsorden und in Form der Caritas von weltzugewandten Laien und Kongregationen. Das sei an dieser Stelle vorweggenommen, denn Sloterdijk stellt mehr die massen-hypnotische Suggestionskraft der mystischen Weltfeindlichkeit in den Vordergrund: „Die Mystik – um den etwas klebrigen Ausdruck ohne weitere Befragung zu verwenden – gewann ihre Attraktion aus der Magie des Negativen: Indem sie am Rand der Städte fortwährende humilitas-Wettspiele unter den Kandidaten des Der-Welt-Absterbens organisierte, schuf sie unbekanntes Masseninteresse an den subtilen Rekorden der Selbstauslöschung. Nicht wenige unter den Aspiranten solcher Weisheitslehren dürften gewittert haben, wie kurz der Weg von der inneren Auslöschung zum äußeren Alles-Dürfen sein kann.“ (Sloterdijk 2014, S.351)

Ohne den Welt-Pol ergibt das von diesem Pol losgelöste Denken keinen Sinn mehr. Erst jetzt wird es wirklich haltlos: „Sie (die „Nachfolger Christi“ – DZ) entfalten die Lehre von den letzten Dingen in jeweils eigener Sache – nicht im Blick auf das Letzte der Welt, sondern auf das Letzte der Seele, stets im Horizont eines als nahe bevorstehend gedachten persönlichen Endes: Es ist das Anliegen der imitatores Christi, die Kunst des Erlöschens ins tägliche Leben zu implantieren. Der Satz: ‚Ich schwinde, also bin ich‘ soll jede meiner Regungen begleiten können.“ (Sloterdijk 2014, S.353)

Mit unübertrefflicher Ironie transformiert Sloterdijk Kants berühmte Apperzeptionsformel – in die er auch noch eine Variation des Kartesianischen „Cogito ergo sum“ versteckt – in eine Formel für die Schwundstufe jeder Apperzeption: statt daß unser Denken jede unserer Wahrnehmungen begleiten können muß, übt sich der Mystiker in einem ‚Denken‘, das sich von allen seinen Wahrnehmungen weitmöglichst entfernt. An die Stelle der Plessnerschen Doppelaspektivität von Innen und Außen tritt die Entdopplung der Aspekte, die ausschließliche Orientierung auf das reine Innen des „homo interior“: „Was auch immer dem homo exterior angehört, fällt der schlechten Weltlichkeit und Wirklichkeit anheim.“ (Sloterdijk 2014, S.360)

Doch die Doppelaspektivität endet nicht wirklich. Sie hat, wie die Vernunft, ihre eigene List, die von Sloterdijk trotz aller Subtilität seiner Analysen unbemerkt bleibt. So spricht er zwar ironisch von der „Irre“, in der sich die Menschen „zunächst und zumeist“ befinden, wenn sie die „versprochene Herrlichkeit des inneren Lebens verkennen“, und daß sie sich erst „dank eines Anstoßes, welcher Art auch immer, bevorzugt durch die christliche Verkündigung“, auf den rechten Weg nach Innen begeben. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.360f.) Verbindet man aber diese ironische Kommentierung naiv-symbolischer Verblendungen mit einer anderen Textstelle, in der Sloterdijk wiederum ironisch von „Subjektwechsel“ und „Umbeseelung“ spricht, mittels deren „der Gläubige sein prosaisches und untermotiviertes Ich gegen eine transzendente und im Höchstmaß antriebsmächtige Form von Subjektivität (tauscht), die direkt von Gott geliehen ist“ (vgl. Sloterdijk 2014, S.348f.), dann ist es nicht mehr so einfach, zu unterscheiden, wer hier von wem vereinnahmt und mediatisiert wird: der Gläubige vom Glauben oder der Glaube vom Gläubigen.

Möglicherweise ist der Glaube nur derjenige minimale Anstoß, den der Mensch braucht, um aus dem Zustand völliger Desorientierung herauszufinden und in ein eigenständiges Selbst- und Weltverhältnis einzutreten. Dann wäre der Glaube vergleichbar mit jenem Stock, mit dem buddhistische Mönche ihre Brüder beim Meditieren schlagen, um sie so in einen anderen Zustand zu versetzen. Sloterdijk berücksichtigt aber nur jene Entwicklungslinie, die von der „im Höchstmaß antriebsmächtige(n) Form von Subjektivität“ zum „radikalisierten Konsumenten-Standpunkt“ von heute führt. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.461 und 465ff.)

Es gibt aber so etwas wie eine mediale Doppelaspektivität: durch dieselben Formeln und Übungen werden die einen befreit, während die anderen nur enger an ihre innere Begehrensmaschinerie gebunden bleiben. Entscheidend ist dabei wohl immer der Welt-Pol: führt der Weg von ihm fort, um schließlich zu ihm zurückzukehren, oder steigert er sich zu einer Flucht von der Welt, zu einem jener Stürze ins Bodenlose, deren Metaphorik Sloterdijks Buch wie ein roter Faden durchzieht.

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