„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 7. September 2014

Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin 2014

(Vorbemerkung: Von Erbe, Sünde und Moderne (S.9-29) / Kapitel 1: Die permanente Flut. Über ein Bonmot der Madame de Pompadour (S.31-53) / Kapitel 2: Dasein im Hiatus oder: Das moderne Fragen-Dreieck De Maistre – Tschernyschweski – Nietzsche (S.54-74) / Kapitel 3: Dieser beunruhigende Überschuß an Wirklichkeit. Vorausgreifende Bemerkungen zum Zivilisationsprozeß nach dem Bruch (S.75-94) / Kapitel 4: Leçons d’histoire. Sieben Episoden aus der Geschichte der Drift ins Bodenlose: 1793 bis 1944/1971 (S.95-221) / Kapitel 5: Das Über-Es: Vom Stoff, aus dem die Sukzessionen sind (S.222-311) / Kapitel 6: Die große Freisetzung (S.312-481) / Ausblick: Im Delta (S.483-489))

1. Iterative Individualisierungen
2. Entdopplung der Aspekte
3. Rhizom und Internet
4. Futurum II

Der Begriff des Rhizoms stammt aus Prä-Internetzeiten, bezeichnet ein sich untergründig ausbreitendes Wurzelgeflecht und beschreibt in dem gleichnamigen Buch von Gilles Deleuze und Félix Guattari (1976/77) die, im Wortsinne, ‚Infrastruktur‘ „einaltrige(r) Kollektive“ (Sloterdijk 2014, S.78). (Vgl. Sloterdijk 2014, S.470ff.) Sloterdijk zufolge stellt „die rhizomatische ‚Vernetzung‘, abgelesen am unsichtbaren Wurzelgeflecht gewisser Pilzarten, ein alternatives ‚System‘, besser ein ‚Gefüge‘ aus ‚sozialen‘ Zusammenhängen bzw. Verschaltungen zwischen Instanzen, Agenturen, oder Kraftlinien“ dar, „in dem alle Momente von Herkunft, Alter, Erbe und Vormacht des Früheren ausgelöscht“ sind, „um einem Netzwerk aus virtuellen und aktuellen Lateralbeziehungen Platz zu machen“. (Sloterdijk 2014, S.471)

Aus dieser Beschreibung ist das heutige Internet unschwer herauszulesen und wiederzuerkennen. Die rhizomatisch vernetzten Individuen bilden in Deleuzes und Guattaris Darstellungen einen vom Begehren angetriebenen, revolutionären Mob, der sich in der Maßlosigkeit seiner inflationär sich ausdehnenden Begierden so sehr von der Gebrauchs- und Verbrauchswelt realer Gegenständlichkeit entfernt hat, daß sein konsumistischer Habitus, wie Sloterdijk schreibt, auf Praktiken des Finanzkapitalismus vorausweist: „Es schien mit einem Mal, als hätten die beiden Autoren, obschon sie sich eines eigensinnig verfremdeten linksradikalen Diskurses bedienten, in Wirklichkeit einen nicht-intendierten vorauseilenden Hymnus auf den in entfesselten Strömen prozessierenden Finanzkapitalismus verfaßt ... Nichts konnte die Kriterien des Deleuze-Guattari-Universums vollkommener erfüllen als das virtualisierte, volatilisierte, inflationierte und amoralisierte große Geld, dem in seinem Nomadismus per definitionem weder Vaterland noch Territorium heilig sind.“ (Sloterdijk 2014, S.475)

Deleuze und Guattarie sind also trotz ihres, wie Sloterdijk schreibt, „linksradikalen Diskurses“ Vordenker eines alles andere als emanzipativen, klassenkämpferischen Lebensstils. Der rhizomatische Mob, dem sie das Wort sprechen bzw. ihre Hymnen singen, steht vielmehr am Beginn einer sich öffnenden Schere zwischen anschlußfähigen, Selbstgenuß und Selbstverbrauch miteinander verbindenden Unternehmerindividuen und den in genealogischen Zusammenhängen verstrickt bleibenden Glied-Individuen einer mehraltrig analogen, endlichen Welt: „Im freier gewordenen Rückblick auf die Vorstöße und Todes-Salti der vorauseilenden rhizomatischen Realitätsauslegung von 1976 durch Deleuze und Guattari drängt die Einsicht sich auf, daß die Autoren in Wahrheit ein neues bastardisches Kollektiv konzeptualisiert und evoziert hatten: einen feldförmig verfaßten, weltweit agierenden Über-Bastard, der um eine ganze Dimension herkunftsloser operieren würde, als jeder emersonianisch-nonkonformistisch inspirierte Amerikaner es sich je hätte träumen lassen. Sie postulierten ein artifizielles Meta-Volk von Bricoleuren und Chancenjägern, die sich auf dem Kontakthof der Weltgesellschaft durch ‚Gelegenheiten‘ ansprechen lassen.“ (Sloterdijk 2014, S.477)

Dieses „Meta-Volk“ bzw. dieses „Hyper-Proletariat“ (ebenda) ist natürlich das genaue Gegenbild zu Al Gores hoffnungsvoll antizipierter „Weisheit der Menge“, zu der sich eine weltweit vernetzte Mittelschicht zusammenfindet, um Lösungen für die großen Herausforderungen einer zunehmend verbrauchten, zunehmend unbewohnbar werdenden Welt zu finden. (Vgl. meinen Post vom 25.06.2014) In diese Richtung läßt Sloterdijks Physiognomik des Rhizom-Internet-Menschen wenig Hoffnung. Vielmehr zeichnet er das Bild eines Ungleichgewichts, das den ‚Strukturalismus‘ von zur Verfügung stehenden ‚Positionen‘ bzw. Kapazitäten eines nur begrenzt realisierbaren Wohlstands für einige wenige sprengt: „Indem der Eintritt von zahllosen vormals Erbelosen und Illegitimen in den ausgeweiteten Spielraum legitimer Forderungen voranschreitet, setzt der Prozeß zu jedem Zeitpunkt sehr viel mehr Reklamationen nach Würden, Chancen und Vorzugspositionen frei, als mit den Mitteln des jeweils aktuellen Zustands befriedigt werden können.“ (Sloterdijk 2014, S.425)

Wir befinden also in unserer digital globalisierten Welt entwicklungsmäßig auf der Stufe des Totemismus, wie ihn Lévi-Strauss beschrieben hat: Es steht für die zu besetzenden Clan-Positionen nur eine begrenzte Anzahl von Eponymen zur Verfügung, so daß bei einem Geburtenüberschuß mehr nachdrängende Anwärter in der Warteschlange stehen, als Positionsinhaber wegsterben. (Vgl. meinen Post vom 20.05.2013) Einaltrige Kollektive nehmen demnach zwangsläufig eine strukturalistische Perspektive ein, die dem Faktum der Mehraltrigkeit gegenüber gleichermaßen gleichgültig wie blind ist. Menschenrechte werden nur auf die jeweilig aktuelle Generation bezogen, die sich an einem „allgemeine(n) Habe-Recht“ orientiert, das als ein ‚alles jetzt auf einmal‘ verstanden wird, und danach die Sintflut. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.466)

Dieses internetbasierte einaltrige Kollektivsubjekt ist tatsächlich zu so etwas wie einer ‚Weisheit der Menge‘ unfähig. Sloterdijk wendet sich deshalb explizit gegen Vorstellungen eines diffusen Übersubjekts, wie es Antonio Negri und Michael Hardt als „Multitude“ konzipieren. (Vgl. hierzu meinen Post vom 18.08.2011) Er bezeichnet es als ein „paradoxes Unternehmen“, für solche Kollektivsubjekte „neue Drehbücher“ schreiben zu wollen, „da sich das in Vielheiten zerfaserte Hyper-Proletariat, könnte es denn wirklich als Subjekt einer politischen Aktivität existieren, sich von niemandem mehr irgendwelche Skripte suggerieren ließe“. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.478, Fußnote 1)

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