„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 31. Oktober 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Im letzten Post habe ich darauf hingewiesen, daß die Ablösung der Perspektiven von der konkreten Situationswahrnehmung mit ihrer akuten Bedürfnisbefangenheit die Grundlage für die freie Kombinierbarkeit von Aspekten und Eigenschaften gelegt hat. Tomasello spricht hier sogar von „referentieller Promiskuität“. (Vgl.Tomasello 2014, S.223) Wenn Perspektiven nicht mehr „mit dem gegenwärtigen Zielzustand des Individuums verknüpft“ sind (vgl. Tomasello 2014, S.108), steht die Tür offen für kreative Phantasieschöpfungen, für das Erzeugen von Metaphern und fiktiven Narrationen aller Art.

Diese neue Fähigkeit zeigte sich Tomasello zufolge erstmals in der noch vorsprachlichen Gebärdensprache beim Frühmenschen. Der Gebrauch ikonischer Gebärden, also mimetischer Darstellungen von Objekten und Handlungen in der physischen und in der sozialen Welt, beruhte auf der Fähigkeit des Zuschauers, die entsprechenden Gebärden nicht instrumentell, also als tatsächliche Manipulation von Objekten, sondern symbolisch als Kommunikationsakte zu verstehen: „Um ikonische Gesten zu verstehen, muß man in der Lage sein, intentionale Handlungen außerhalb ihrer gewöhnlichen instrumentellen Kontexte als Kommunikationsakte zu verstehen ...“ (Tomasello 2014, S.95)

Diese Loslösung von Gesten und Gebärden von der akuten Bedürfnisbefriedigung führte, ebenfalls noch vor der Einführung der eigentlichen Wortsprache, zu einer ersten Differenzierung zwischen kommunikativen Absichten (Illokutionen) und Propositionen (Sachverhalten): „Die Frühmenschen konnten jetzt mit einem von zwei verschiedenen Motiven, die durch die Intonation ausgedrückt wurden, auf Beeren an einem Busch zeigen: entweder eine insistierende auffordernde Intonation in der Hoffnung, daß der Empfänger ein paar Beeren für den Kommunizierenden pflückt, oder eine neutrale Information, um den Empfänger nur über den Ort der Beeren zu informieren, so daß er ein paar für sich selbst pflücken kann.“ (Tomasello 2014, S.85)

Der propositionale Inhalt „Beeren am Busch“ bleibt gegenüber den möglichen verschiedenartigen Kommunikatonsmotiven des schauspielernden Gebärdensprechers unverändert. Damit haben wir schon beim vorsprachlichen Frühmenschen Ansätze zu einer ersten Subjekt-Prädikat-Struktur vorliegen. Das der Subjekt-Prädikat-Struktur zugrundeliegende Prinzip beschreibt Tomasello ähnlich wie Fritz Mauthner (2/1913), allerdings mit einer unterschiedlichen Funktionsbestimmung von Subjekt und Prädikat. Mauthner zufolge bilden alle Sätze nur ‚Prädikate‘ von Situationen, auf die sie verweisen. Die Situationen wiederum bilden – unabhängig von der grammatischen Konstruktion des Satzes – das eigentliche ‚Subjekt‘ des Satzes. (Vgl. meinen Post vom 23.10.2013)

Bei Tomasello ist die Funktionsverteilung zwischen Subjekt und Prädikat nicht so festgelegt: Mit Verweis auf Evans’ Allgemeinheitsbedingung (1982) hält Tomasello fest, daß „jedes potentielle Subjekt eines Gedankens (oder Satzes) mit mehreren Prädikaten kombiniert werden (kann), und jedes potentielle Prädikat kann mit mehreren Subjekten verknüpft werden“. (Vgl. Tomasello 2014, S.50) – Erst dieser funktionelle Freiraum von grammatischen ‚Subjekten‘ und ‚Prädikaten‘ führt zu jener schon erwähnten referentiellen Promiskuität.

Subjekte sind dann zunächst, wie bei Mauthner, Situationen der Außenwelt, die mit verschiedenen ‚Prädikaten‘ angesprochen werden können. Aber diese Subjekte können wiederum, verbunden mit einer anderen Aussageabsicht, zu Prädikaten verallgemeinert werden, die zu einer neuen Situationsbeschreibung verwendet werden können. Wenn wir z.B. einen Schiffbruch (Subjekt) beobachten, können wir einen anwesenden Freund darauf hinweisen und unser Erschrecken darüber zum Ausdruck bringen (Prädikat). Ein anderes Mal können wir aber, möglicherweise mit demselben Freund, über die desolate Lebenssituation eines gemeinsamen Bekannten sprechen, indem wir sie als ‚Schiffbruch‘ beschreiben. In diesem Fall wäre die Lebenssituation des Bekannten das Subjekt und der Schiffbruch wäre das Prädikat. Situationen und Aspekte von Situationen, ‚Subjekte‘ und ‚Prädikate‘ werden so frei kombinierbar.

Interessanterweise konkurriert die Fähigkeit zur schauspielernden (ikonischen) Gebärdensprache mit der Wortsprache. Das zeigt sich bei kleinen Kindern, wenn sie sprechen lernen. Obwohl sie schon damit begonnen hatten, ikonische Gebärden zu verwenden, hören sie damit auf, sobald sie sprechen können: „Als symbolische Vehikel mit semantischem Inhalt konkurrieren ikonische Gesten mit sprachlichen Konventionen, und verlieren diesen Wettkampf – aus vielen offensichtlichen Gründen –, der, von einigen wenigen außergewöhnlichen Umständen abgesehen, das Bedürfnis, spontane Gesten ad hoc zu erzeugen, verdrängt.“ (Tomasello 2014, S.98)

Tomasello interpretiert diese Entwicklung des kleinen Kindes nun so, daß mit dem Bedürfnis, mit Hilfe ikonischer Gebärden zu kommunizieren, nicht zugleich auch das Bedürfnis zu schauspielern verloren geht. Die den ikonischen Gebärden zugrundeliegende Fähigkeit, Als-ob-Situationen zu imaginieren, bleibt erhalten und verwandelt sich jetzt sogar in einen Spieltrieb: „Wenn Kinder eine konventionelle Sprache lernen, findet ihre Neigung, anderen durch die Generierung von Als-ob-Szenarien anhand von Gesten etwas mitzuteilen, sozusagen keine Anlaufstelle. Daher spielen sie mit dieser Fähigkeit und erschaffen zusammen mit anderen Als-ob-Szenarien im Sinne einer Als-ob-Tätigkeit, die keine andere Motivation hat.“ (Tomasello 2014, S.100)

Mit diesem Spieltrieb, der Erfindung von Als-ob-Situationen, üben und erweitern die Kinder ihre Fähigkeit, sich wechselseitig in die inneren Zustände ihrer Mitspieler hineinzuversetzen und sich für deren inneren Zustände auch dann zu interessieren, wenn sie nicht für die Befriedigung eigener akuter Bedürfnisse relevant sind. Während eines Spiels mit verteilten Rollen können Kinder untereinander jederzeit die Rolle wechseln, was Tomasello zufolge Schimpansen nicht können: „Besonders wichtig ist der Befund von Fletcher et al. (2013), daß Dreijährige, die zuerst an einer Zusammenarbeit teilgenommen hatten, bei der sie Rolle A spielten, anschließend viel besser wußten, wie sie Rolle B spielen sollten, als wenn sie zuvor nicht zusammengearbeitet hatten, während das für Schimpansen nicht galt.“ (Tomasello 2014, S.67)

Tomasello meint, daß die Kinder bei ihren Als-ob-Spielen eine „Vogelperspektive“ einüben, die es ihnen ermöglicht, sich selbst beim Spielen zuzusehen. (Vgl. Tomasello 2014, S.67) Die freie Kombinierbarkeit von Rollenperspektiven im Rahmen frei erfundener Szenarien bewegt sich auf derselben kognitiven Ebene wie das Verstehen von Metaphern. Es geht immer um das „Raum schaffen“ (Tomasello 2014, S.73), das Eröffnen von ‚Spiel‘-Räumen, in dem Situationen und Rollen, Subjekte und Prädikate frei kombiniert werden können. Übrigens schätzte schon Wilhelm von Humboldt die grammatische Besonderheit der deutschen Sprache – die wiederum von Mark Twain ironisch aufs Korn genommen wurde (siehe den berüchtigten Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän) –, verschiedene Wörter beliebig zu einem neuen Wort zusammenzufügen. Humboldt meinte, mit so einem aus anderen Wörtern zusammengesetzten Wort werde eine neue sprachliche ‚Individualität‘, also ein neuer Sachverhalt geschaffen. Mit der Rechtschreibreform von 1996 wurden dann solche Wortneuschöpfungen ‚verboten‘.

Wir haben es auf vielen verschiedenen kognitiven Ebenen immer wieder mit diesen ‚Spielräumen‘ (Möglichkeiten) zu tun, Bedeutsamkeit zu erzeugen:

  • auf der Ebene der Wahrnehmung: Situationen sind frei perspektivierbar (Vgl. Tomasello 2014, S.108);
  • auf der Ebene der sozialen Welt: Rollen haften nicht mehr an den Personen;
  • auf der Ebene der Innenwelt: subjektive Zustände haften nicht mehr an objektiven Inhalten;
  • auf der Ebene von Satzstrukturen: Eigenschaften (Prädikate) haften nicht mehr an den Dingen (Subjekten);
  • auf der Ebene der Expressivität: die verschiedensten Aspekte der physischen und der sozialen Welt lassen sich zu Metaphern kombinieren. (Vgl. Tomasello 2014, S.90)

Abschließend möchte ich noch kurz auf die Begriffe der Relevanz und des gemeinsamen Hintergrunds zu sprechen kommen. ‚Relevanz‘ meint den individuellen Bezug eines Kommunikationspartners auf eine gemeinsame Situation. (Vgl. Tomasello 2014, S.86) Wenn es einem Gesprächsangebot an dieser Relevanz mangelt, weil der ‚Gesprächspartner‘ nur seine eigenen egoistischen Interessen verfolgt, wird es zu keinem Gespräch und auch zu keiner weiteren Kooperation kommen. Was Tomasello als ‚Relevanz‘ bezeichnet, entspricht in etwa dem, was ich an anderer Stelle als ‚Bedeutung‘ definiert habe (vgl. meine Posts vom 07.07.2011 und vom 15.06.2012), allerdings mit dem Unterschied, daß ich diese Bedeutung als das Ergebnis eines Bruchs zwischen Innen und Außen beschreibe. Tomasello kommt dem nahe, wenn er vom „perspektivischen Sprung im Ei der Erfahrung“ spricht. (Vgl. Tomasello 2014, S.111 und S.181) Aber dieser ‚Sprung‘, der Plessnersche Hiatus, entsteht bei ihm nicht an der Grenze zwischen Innen und Außen, als eine Brechung des Intentionsstrahls, sondern an der Grenze der Verständlichkeit, als eine Frage der adäquaten Repräsentation bzw. ‚Inszenierung‘ des eigenen Anliegens im Umgang mit meinen Kommunikationspartnern. (Vgl. Tomasello 2014, S.111)

Bei diesem Bemühen, sich verständlich zu machen, unterstützen uns ein „gemeinsamer Hintergrund“ und das gattungsspezifische Grundvertrauen des Menschen, daß Gesprächsangebote in der Regel relevant sind: „Der gemeinsame Hintergrund und eine gegenseitige Relevanzannahme ... ermöglichen es, daß sich Gedanken und Ansichten dort treffen, wohin der ausgestreckte Finger zeigt.“ (Tomasello 2014, S.87)

Dieser gemeinsame Hintergrund, der dazu beiträgt, daß ich schon ein gewisses Vorwissen bezüglich dessen zur Verfügung habe, was ein Gesprächspartner möglicherweise von mir wollen könnte, entspricht in etwa dem, was ich in den oben erwähnten Posts als „Sinn“ bzw. genauer: als „Sinn von Sinn“ bezeichne. Der Sinn von Sinn bildet einen sinnstiftenden Bewußtseinsakt, in dem wir mögliche Situationen fokussieren bzw. variieren, bis es zu einer Deckung mit unseren eigenen inneren Zuständen, unserer individuellen Intentionalität, kommt.

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