„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 4. November 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Tomasello bezeichnet die Kooperation als ein „kennzeichnendes Merkmal menschlicher Gesellschaften, wie das für die Gesellschaften der anderen Menschenaffen nicht gilt.()“ (Vgl. Tomasello 2014, S.60f.) Man könnte also sagen, daß die Kooperation ein Gattungsmerkmal des homo sapiens bildet. Das scheint in das gängige Klischee von der kulturellen Entwicklung des Menschen zu passen, die die evolutionsbiologischen Prinzipien der Selektion angeblich außer Kraft gesetzt hat. Tatsächlich haben wir es aber bei Tomasello mit einem seltsamen Paradox zu tun. Die Kooperation gilt nämlich nur für das zweitpersonale Ich-Du-Verhältnis und für die Kommunikation von Mitgliedern größerer Gruppen wie etwa Stammesgesellschaften. (Vgl. Tomasello 2014, S.127) Nur innerhalb einer Großgruppe kooperieren Individuen auch mit anderen Individuen, die sie nicht kennen und die Tomasello als „Fremde“ bezeichnet, die zur „Eigengruppe“ gehören. (Vgl. Tomasello 2014, S.19)

Auf der Ebene der Großgruppen selbst gilt das evolutionsbiologische Prinzip der gegenseitigen Konkurrenz. Um sich wechselseitig als Mitglieder der eigenen Großgruppe zu erkennen, bedarf es deshalb besonderer kultureller Zurichtungen: „Das bedeutete, daß das Erkennen von anderen aus unserer eigenen Kulturgruppe alles andere als trivial wurde – und natürlich mußten wir auch sicherstellen, daß sie uns ebenfalls erkennen konnten.“ (Tomasello 2014, S.127) – Äußere Merkmale wie Kleidung, Frisur, Haltung und ein „gemeinsame(r) kulturelle(r) Hintergrund“ (Tomasello 2014, S.19) sorgten dafür, daß gegenseitiges Vertrauen innerhalb der Großgruppe sichergestellt wurde. Wir haben es also mit einem seltsamen Paradox zu tun: wo nach Tomasellos Einschätzung mit dem Frühmenschen vor etwa 400 000 Jahren die Kooperation zu einem Gattungsmerkmal wurde, wird genau dieses Gattungsmerkmal auf Gruppenebene wieder aufgehoben!

Auch die von den verschiedenen Diskurs- und Kommunikationstheoretikern als universelle Perspektive vielgepriesene Akteursneutralität, die über den egoistischen Einzelinteressen steht und normativ den Interessensausgleich reguliert, bezieht Tomasello nur auf die Großgruppe. (Vgl. Tomasello 2014, S.19) Nur innerhalb der Großgruppe stabilisiert sie das kooperative Verhalten. Auch wenn Tomasello diese Akteursneutralität im folgenden Zitat verbal so in Szene setzt, als handelte es sich um ein Universalitätsprinzip, ändert das letztlich nichts daran, daß sie ihre Grenzen an der Eigengruppe hat: „Wir sprechen hier nicht über eine individuelle Perspektive, die irgendwie verallgemeinert oder erweitert wird, oder über eine Art einfachen Aufsummierens vieler Perspektiven. Vielmehr sprechen wir über eine Verallgemeinerung, in dere(m) Zuge aus der Existenz vieler Perspektiven so etwas wie ‚jede mögliche Perspektive‘ wird, was im Grunde ‚objektiv‘ bedeutet. ... Auf diese Weise wird die gemeinsame menschliche Intentionalität ‚kollektiviert‘.“ (Tomasello 2014, S.141)

Tomasello verliert kein weiteres Wort darüber, wie der „akteurneutrale() Standpunkt der Gruppe“ (Tomasello 2014, S.19) gleichzeitig zu „jede(r) mögliche(n) Perspektive“ – also auch über die Grenzen der eigenen Großgruppe hinweg fremde Gruppen betreffend – verallgemeinert werden kann, wenn ‚Fremde‘ nicht mehr nur als nicht zur eigenen Gruppe gehörig wahrgenommen werden, wie beim hypothetischen Frühmenschen und bei den Menschenaffen, sondern „als Mitglieder spezifischer Fremdgruppen mit fremdartigen und häufig geringgeschätzten Verhaltensweisen“. (Vgl. Tomasello 2014, S.129)

Hier zeigt sich noch einmal, wie wichtig die zweitpersonale Perspektive zwischen Ich und Du ist. Die Wir-Intentionalität ist regional begrenzt und auf Großgruppen eingeschränkt. Wirklich global und universell ist hingegen die Zweitpersonalität, weil sie ad hoc zustandekommt (vgl. Tomasello 2014, S.18, 78) und sich deshalb nur an der situationsbezogenen ‚Brauchbarkeit‘ der kooperierenden Individuen orientiert. ‚Ich‘ und ‚Du‘ sind also universelle, wechselseitig austauschbare Perspektiven, die so etwas wie ‚Menschheit‘ bzw. ‚Menschlichkeit‘ beinhalten, während ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ regional begrenzt sind und sich gegenseitig ausschließen; sie sind nicht sozial rekursiv!

Es gibt aber noch eine primär gesellschaftliche Rekursivität, wie sie Plessner beschrieben hat, die aus ‚Ich‘ und ‚Wir‘ besteht, in der sich alle als ‚Ich‘ wechselseitig anerkennen, ohne zum ‚Du‘ überzugehen, sondern dieses ‚Du‘ zum ‚Sie‘ konventionalisieren. Dieses ‚Sie‘ respektiert das Noli-me-tangere der Seele, weil sie sich hinter dem Rollen-Sie gesellschaftlicher Aktivitäten verbergen kann. (Vgl. meine Posts vom 14.11. bus 17.11.2010) Deshalb ist es bedauerlich, daß Tomasello die Zweitpersonalität nur als ad-hoc-Gemeinschaft konzipiert, ohne deren längerfristigen Fundamente in der Liebe und in der Freundschaft zu berücksichtigen. Denn von diesen Gemeinschaftsformen läßt sich eine Gesellschaft abgrenzen, die von Gruppenzugehörigkeiten abstrahiert und dem Universalismus der Ich-Du-Beziehungen einen Ich-Wir-Universalismus auf der gesellschaftlichen Bühne gegenüberstellt.

Dieser Ich-Wir-Universalismus der Gesellschaft, der nicht mit der Wir-Intentionalität einer Großgruppe verwechselt werden darf, transzendiert das intime Vertrauensverhältnis innerhalb einer Gruppe/Gemeinschaft und befreit das Individuum zur Entdeckung seiner selbst. Erst jetzt hat es die Chance zu wirklicher, befreiter Expressivität. Die normativ gesicherte Verbindlichkeit der Kommunikationsakte bekommt jetzt ihr Gegenstück in der Wahrung der Integrität des Kommunizierenden. Wer immer das Wort ergreift, hat ein Anrecht darauf, daß das, was er meint, nicht auf das reduziert wird, was er, aus der Perspektive des Zuhörers, vermeintlicherweise gesagt hat. Bedeutsamkeit ist nicht das Begleitprodukt einer semantischen Identifizierung, sondern sie entspringt der Differenz zwischen Meinen und Sagen. Das Individuum ist kein Sein, sondern ein Prozeß. Dafür steht Plessners Noli-me-tangere.

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