„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 3. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Der Synchronismus hat in der Sprachwissenschaft eine lange Tradition, die mit de Saussures Strukturalismus begonnen hat. Ferdinand de Saussure (1857-1913) hat die Diachronie, also die Entwicklungsgeschichte einer Sprache, von ihrer Synchronie, d.h. ihrer aktuellen Bedeutung für eine Sprechergemeinschaft, abgetrennt: „Er verglich die Sprache mit einem Schachspiel. Ein synchroner Ansatz ist wie ein Schachproblem: Alles was zählt, ist die aktuelle Stellung auf dem Brett, egal durch welche Züge es dazu gekommen ist.“ (Evans 2014, S.152)

Dieser Synchronismus hat sich wahrscheinlich auch deshalb bis in unsere Gegenwart durchgehalten, weil ihm ein entwicklungspsychologisches Faktum entspricht: Jedes Kind, das sprechen lernt, beginnt bei Null. Günter Dux spricht hier von der „kulturellen Nullage“ der individuellen Ontogenese. (Vgl. Dux 2000/2005, S.62; vgl auch meinen Post vom 10.09.2012) Dem sprechenlernenden Kind stehen also nur synchrone ‚Daten‘ zur Verfügung, mit deren Hilfe es sich seinen individuellen Sprachgebrauch rekonstruieren kann: „Ein Kind, das seine Sprache lernt, hat nur Zugang zu dem, was die Menschen jetzt sprechen, und kann seine Grammatik demnach nur aus dem ableiten, was es hört. Es hat keinerlei Zugang zu der Sprache seiner bereits verstummten Vorfahren.()“ (Evans 2014, S.153)

Das gilt zumindestens für einsprachig aufwachsende Kinder. Inwiefern mehrsprachig aufwachsende Kinder eventuell wie vergleichende Sprachwissenschaftler vorgehen, muß ich hier offen lassen. Aber auch dann gäbe es nur synchrone Vergleichsoptionen. Die Diachronie einer Sprache bleibt sprechenlernenden Kindern prinzipiell verschlossen.

Das ist übrigens ein wesentliches Moment, in dem sich die kulturelle Evolution von der biologischen Evolution unterscheidet. Aus biologischer Perspektive ist das Kind schon qua ‚Geburt‘, sprich durch die Gene, diachronisch bestimmt. Erst auf dieser genetischen Grundlage kann es sich auf der synchronen Zeitlinie seiner individuellen Entwicklung seine persönlichen Freiheiten erbilden. Kulturell beginnt das Kind aber bei einem Nullpunkt. Es muß sich seine kulturelle Grammatik, also seine ‚Sprache‘, in einen strukturell völlig offenen Raum hinein zusammenmontieren. Weder Phonetik noch Semantik noch Grammatik können genetisch-diachron vererbt werden.

Diese offensichtliche Verwiesenheit des sprechenlernenden Kindes auf Synchronie war immer schon ein starkes Argument für das synchrone Primat in der Sprachwissenschaft. Zusammen mit dem Universalismus der Wissenschaft mit den Monopolen des Englischen und der Mathematik als Wissenschaftssprachen (Vgl. Evans 2014, S.67) und der Globalisierung mit ihren ‚Verkehrssprachen‘ Englisch, Spanisch, Mandarin und Hindi (vgl. Evans 2014, S.21) trägt dieser Synchronismus zum fortschreitenden Sprachensterben bei. Hinzu kommt, daß Wissenschaftler das Sprechenlernen inzwischen sogar auf eine implizite Statistik reduzieren – ähnlich einem biologischen Selektionsmechanismus –, mit deren Hilfe das Kind beim versuchsweisen Drauflossprechen Trefferquoten ermittelt, die dann fortan als Bedeutungsträger im künftigen Sprechen fortexistieren dürfen, während die Fehlversuche ausgemerzt werden. (Vgl. meine Posts vom 24.07.2011 und vom 06.06.2012) Die kreativen Leistungen des sprechenlernenden Kindes im Rahmen seines Sinnverstehens und seiner Gestaltwahrnehmung fallen hierbei völlig unter den Tisch. Darauf werde ich in einem der folgenden Posts noch zu sprechen kommen.

Evans will jedenfalls die „Abtrennung der Geschichte“ von der Sprachwissenschaft rückgängig machen, denn „die sprachliche Rekonstruktion durch die Vergleichende Methode läuft Gefahr, ohne Verbindung zur wirklichen Welt und ihren Orten, Zeiten und Gegenständen dahinzutreiben, wenn sie nicht in Vergangenheitsmodellen anderer Disziplinen, insbesondere der Archäologie und der Genetik, verankert ist.“ (Evans 2014, S.166)

Überhaupt kann nur eine gleichermaßen vergleichende wie historische Sprachwissenschaft jene Sprachenvielfalt erfassen, die sich dem synchronen Ansatz prinzipiell verschließt. Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Sprachen (vgl. Evans 2014, S.133ff.) und die kulturellen Schicksale wandernder Gemeinschaften wie die der Sinti und Roma (vgl. Evans 2014, S.197-202) lassen sich nur mittels diachroner Ansätze ermitteln. Die Synchronisierung durch Englisch und die globalen Medien führt hingegen zur Vernichtung regionaler Genealogien und Diversitäten: „Es ist wahrscheinlich, dass technische Entwicklungen, die global operierende Medien und große Weltsprachen in die entlegensten Winkel dieser Welt bringen, und die immer schneller fortschreitende Zerstörung des traditionellen Lebensraums vieler kleiner Völker den Prozess des Sprachwandels noch weiter beschleunigen werden.“ (Evans 2014, S.321)

Das führt mich zu einer neuen Definition von Synchronismus, Diachronismus und Anachronismus. Der Synchronismus steht im Zeichen einer uniformen Globalisierung. Der Diachronismus steht für ein ungebrochenes Generationenverhältnis wechselseitiger Verantwortung, und der Anachronismus bezeichnet die Diversität von zeitlich wie kulturell heterogenen regionalen Gemeinschaften. Viele Muttersprachler, die als letzte ihres ‚Stammes‘ zurückgeblieben sind und enttäuscht sind von den großen, von Menschen verursachten Katastrophen des 20. Jhdts. und von der fortschreitenden Globalisierung „nehmen lieber ihre verschmähte Sprache mit ins Grab, weil sie das, was mit ihrer Welt passiert ist, so erschüttert hat, dass sie niemanden für würdig erachten, einen solchen Schatz zu erhalten.“ (Evans 2014, S.327)

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