„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 14. Januar 2015

Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung des Menschen

Es gibt in der Natur keine enormen Anomalien, sagt Frans de Waal. (Vgl. meine Posts vom 15.05.2011 und vom 08.12.2014) Die biologische Evolution ist kontinuierlich und nicht diskontinuierlich. Vielleicht bezieht sich dieses Primat der Kontinuität sogar auf die Entstehung des Lebens. Die geologischen Prozesse des Planeten, die im Endeffekt zu Leben auf ihm geführt haben, sind sicherlich in der Hauptsache anorganischer Natur. Aber sie erinnern in der beständigen Umwälzung der Materie, aus der u.a. eine sauerstoffhaltige Atmosphäre hervorgegangen ist, an Stoffwechselprozesse. Das Terraforming macht den Eindruck, als sei dieser Planet lange vor der Entstehung biologischen Lebens auf gewisse Weise schon ein lebendiger Planet gewesen, wobei das eigentliche biologische Leben, sobald es entstand, wiederum auf die geologischen Prozesse zurückwirkte und mit ihnen wechselwirkte. So formten Pflanzen maßgeblich die Oberfläche des Planeten und schränkten die Wirkungen der Erosion ein. Erst so konnte so etwas wie eine ‚Landschaft‘ entstehen. Die Vielgestaltigkeit der Landschaften verdankt sich allererst dem Pflanzenbewuchs und später auch der Wechselwirkung zwischen Pflanzen und Tieren. Ohne Pflanzen wäre die Oberfläche des Planeten öde und eintönig.

Links zur Geologie:
Gleichgewichte - Ansichten eines belebten Planeten. Teil 1: Die Anfänge
Gleichgewichte - Ansichten eines belebten Planeten. Teil 2: Meere
Gleichgewichte - Ansichten eines belebten Planeten. Teil 3: Zivilisationen

Vielleicht kann man geologische und biologische Prozesse tatsächlich als einen kontinuierlichen Evolutionsprozeß zusammenfassen, in dem Leben nicht als eine diskontinuierliche Anomalie auftritt. In dieser Kontinuität befindet sich auch noch die biologische Phylogenese des Menschen. Zu Anomalien kommt es erst in der kulturellen ‚Phylogenese‘, so daß man hier eigentlich nicht mehr von einer Phylogenese, also nicht von einer ‚Stammesgeschichte‘ des Menschen sprechen kann. Die kulturelle Entwicklung des Menschen führt vielmehr ständig zu Abbrüchen und Sackgassen, die einerseits parasitären Fehlentwicklungen geschuldet sind, in denen ‚Kulturen‘ einseitig die Ressourcen ihrer ökologischen Nischen verbrauchen, so daß sie schließlich ihren eigenen Fortbestand gefährden. Oder der Wechsel der Generationen gerät außer Kontrolle, unterminiert die kulturelle Tradition und führt auf diesem Wege zum Zusammenbruch von Gesellschaftsformen. Hier gibt es offensichtlich eine anachronistische Spannung zwischen kultureller und individueller Entwicklung, da mit jedem Menschen die kulturelle Entwicklung von einer Nullage aus neu beginnt.

Um meine Überlegungen zu veranschaulichen, habe ich die Graphik in meinem Post vom 21.04.2010 umgearbeitet. Geologie und Biologie stelle ich auf eine Ebene: sie stehen für einen kontinuierlichen Evolutionsprozeß, in dem es keine prinzipielle Differenz zwischen anorganischen und organischen Stoffwechselprozessen gibt. Natürlich gibt es auf organischer Ebene die eine Innen/Außen-Differenz stiftende Zellmembran. Dennoch nehme ich hier um des Gedankens willen den Übergang zwischen toter und lebender Materie als gleitend an. Dieser gleitende Übergang gilt auch für die Evolution der menschlichen Gattung, die prinzipiell tierischer Herkunft ist. Biologisch gesehen ist der Mensch ein Menschenaffe.


Die Sprache stiftet zwar eine prinzipielle Differenz zwischen Tier und Mensch und setzt den Menschen aus der Tierheit heraus (exzentrische Positionalität). Aber die lange Phase der Mündlichkeit ist noch durch Kontinuität geprägt. Die Menschen verharren über viele Generationenwechsel hinweg in einer kulturellen Stabilität, in der sich der tatsächliche kulturelle Wandel der individuellen Wahrnehmbarkeit entzieht (shifting baselines). Der Mensch ist auf individueller Ebene nur potentiell exzentrisch positioniert. Tatsächlich umhüllt ihn seine Lebenswelt wie eine Höhle. Mag es auch, was den Aufenthalt in realen Höhlen betrifft, ein Mythos sein, daß der Frühmensch ein Höhlenmensch gewesen sei. Was seine Lebenswelt betrifft, war er es jedenfalls.

Insofern ist die Phase der Mündlichkeit noch Teil der Stammesgeschichte der Gattung ‚Mensch‘, und erst die Schriftlichkeit katapultiert den Menschen in eine Geschichte, die ihm die Rückkehr in die höhlenartige Geborgenheit einer intakten Lebenswelt auf immer verwehrt. Jetzt trennt sich das Individuum von der Gattung und wird sich selbst zur Spezies. Von nun an hat der exzentrisch positionierte Mensch eine Biographie, und diese verläuft anachron zur kulturellen Entwicklung.

Das bedeutet, daß sich der kulturelle Entwicklungsprozeß in der individuellen Ontogenese nicht ungebrochen linear fortsetzt, sondern mit jedem einzelnen Menschen aufs Neue beginnt. Biologische und historische ‚Epochen‘ werden so jedes Mal aufs Neue gemischt, und diese Gemengelage ergibt in der Gesamtheit einer Generation so etwas wie einen kulturellen Fingerabdruck, der sich nicht vererbt. Er wirkt sich nur dahingehend aus, daß sich die jeweils nächste Generation von ihm her auf wiederum konkret-individuelle Weise kulturalisiert.

Mit dem Beginn der Schriftlichkeit bildet also der moderne Mensch in den letzten 5000 Jahren eine Anomalie bzw. er produziert fortwährend Anomalien, und das nicht im biologischen Sinne, so daß Frans de Waal mit seiner Behauptung Recht behält.

Anmerkung zum technologischen Charakter der menschlichen Kulturentwicklung: Die kulturellen und individuellen Entwicklungslinien stellen keine nahtlose Fortsetzung der biologischen Entwicklungslinie dar. Insofern haben wir es auch nicht mit einer Beschleunigung der biologischen Evolution zu tun. Die biologische Evolution hat ihren eigenen Rhythmus, von dem sich die Rhythmen der kulturellen Entwicklungsprozesse und ihrer Abbrüche deutlich absetzen. Für die zunehmende, fortlaufend Anomalien hervorbringende Beschleunigung des kulturellen Fortschritts stehen in der globalisierten Welt die Technologie und ihre Innovationen.

Anomalien bilden z.B. die Kunststoffe, mit denen wir die Weltmeere von der Oberfläche bis in die Sedimente hinein verseuchen. ‚Kunststoffe‘ sind keine ‚Naturstoffe‘. Unter Kunststoffen verstehe ich auch die 18 Millionen Tonnen Giftstoffe jährlich, die allein die Deutschen in Salzbergwerken versenken und die immer giftig bleiben werden, weil es keinen natürlichen Kreislauf gibt, der sie abbauen könnte. Die ‚Natur‘ wäre niemals auf die Idee gekommen, Kunststoffe hervorzubringen. Es ist die Frage, ob sich die Technik, wenn sie sich in eine ‚Bionik‘ verwandelt und der Biologie abgeschaute Produkte entwickelt, wieder in den Kreislauf der Natur einzugliedern vermag. Das wäre jedenfalls zu hoffen. Aber die Gentechnik schaut der ‚Natur‘ ihre Vorgehensweise nicht einfach nur ab, sondern greift direkt in den Evolutionsprozeß ein und überschreitet somit maximal die Grenzen des Wißbaren und des Verantwortbaren. Und ein Geoengineering, das den auftretenden Problemen hinterherlaufend den Kreislauf der Natur nachträglich zu reparieren versucht oder ihn letztlich sogar durch einen planetarischen Cyborg zu ersetzen versucht, wird nur immer wieder neue enorme Anomalien hervorbringen.

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Samstag, 10. Januar 2015

Ontogenese

Die individuelle Entwicklung des Menschen beginnt Günter Dux zufolge mit einer kulturellen „Nullage“. (Vgl. Dux „Historisch-genetische Theorie der Kultur“ (2000/2005), S.62; vgl. auch meinen Post vom 10.09.2012) Im Untertitel seines Buches ist von „instabilen Welten“ die Rede. Die kulturelle Instabilität menschlicher Gesellschaften ist eine direkte Folge dieser kulturellen Nullage, weil die individuelle Entwicklung des Einzelnen spezifischer kultureller Maßnahmen wie Erziehung oder Initiationsriten bedarf, die die biologischen Anlagen ergänzen und ihnen vor allem allererst einen Sinn geben. Das hat über viele Hunderttausende von Jahren in der Menschheitsgeschichte auch problemlos funktioniert, weil die vorschriftliche Mündlichkeit den jeweils spezifischen kulturellen Binnenraum mit der Welt des Menschen gleichsetzte und eine exzentrische Positionierung zur eigenen Kulturalität nicht möglich gewesen war. Erst mit der Erfindung der Schrift trat der eigene Kulturbestand dem Leser als Text gegenüber, und die individuelle Entwicklung des Einzelnen konnte sich von der kulturellen Entwicklung lösen. (Vgl. meinen Post zu Assmann vom 04.02.2011)

Im Extrem erleben wir die mit jedem Wechsel der Generationen einhergehende kulturelle Instabilität an der Bereitschaft junger Menschen, in den Irak oder nach Syrien zu gehen, um für den islamischen Staat zu kämpfen und damit den humanitären Traditionen ihrer Eltern und Großeltern den Rücken zu kehren. Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von Monsterkindern, und er führt dieses kulturgefährdende Verhalten wiederum auf ein kulturelles Modell zurück: auf das Christentum, dessen Gründer Jesus ebenfalls seinen Eltern den Rücken kehrte, um einen radikalen Neuanfang zu verkünden. Jesus steht für eine Todesbereitschaft, die für spätere Generationen bei ihrer Weltverneinung zum Vorbild wurde. (Vgl. „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (2014))

Positiv gewendet beschreibt die Todesbereitschaft den selbstbewußten Willen zur Auferstehung. Die von Dux beschriebene kulturelle Nullage wird von Sloterdijk in eine Entwicklungslinie überführt, die er als „Palingenesie“ bezeichnet. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.63f.; vgl. auch meinen Post vom 24.08.2014) Menschen und Gesellschaften bzw. ‚Kulturen‘ entwickeln sich nicht kontinuierlich in eine bestimmte Richtung, sondern nach einem „trial and error“-Verfahren. Trotz aller Sackgassen und Fehler machen die Menschen insgesamt doch Fortschritte. Tod und Auferstehung sind deshalb keine einmaligen und außerordentlichen Ereignisse, sondern bilden ein beständiges Fallen und wieder Aufstehen und Weitergehen, so daß dieses Weitergehen selbst nichts anderes ist, als eine Form des fortgesetzten Fallens.

Ungeachtet dessen, daß die individuelle und kulturelle Entwicklung des Menschen nicht auf biologische Vorbedingungen zurückgeführt werden kann, interpretiert Sloterdijk diese Entwicklung doch biologisch als einen Selektionsprozeß. Das wird aber der exzentrischen Positionalität jeder Generation nicht gerecht. Sloterdijk verfehlt die spezifische Situation des Individuums. Das gleiche gilt auch für Günter Dux, der die kulturelle Nullage an der Geburtlichkeit des Individuums festmacht. Es ist aber nicht einfach dem mit der Geburt verbundenen Umstand, daß der Mensch als Säugling praktisch bei Null anfangen muß, geschuldet, daß sich jede individuelle Entwicklung in unserer heutigen, globalisierten Welt als so prekär und risikoreich erweist. Das kulturelle ‚Risiko‘ des Generationenwechsels haftet nicht an der Entwicklung des Kindes, sondern des Jugendlichen.

Mit Bezug auf den Jugendlichen spricht Rousseau in seinem „Emile“ von einer zweiten Geburt des Menschen, und er setzt sie mit der Pubertät gleich. Das ist übrigens auch das Alter, in dem in den meisten vormodernen Kulturen die Initiationsriten ansetzten, mit denen die bisherigen Kinder in der Gesellschaft der Erwachsenen aufgenommen wurden. Rousseau differenziert die verschiedenen Lebensalter des Kindes und des Jugendlichen nach ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, phänomenologisch gesprochen: nach ihrer ‚Intentionalität‘.

Folgendermaßen konzeptionalisiert Rousseau die Entwicklung des Kindes: Das Kind ist mit der Geburt, als Säugling, vollkommen abhängig von den Erwachsenen. Es ist also schwach. Deshalb hat es den Wunsch stark zu sein. In den verschiedenen Phasen der Kindheit wird es immer stärker, und es bewertet auch alles nach diesem Kriterium Schwäche/Stärke. Deshalb ist es so wichtig, daß das Kind die wahren Kräfteverhältnisse richtig einschätzen lernt, mit anderen Worten: daß ihm die Erwachsenen nicht aus falsch verstandener Kindesliebe zu Diensten sind und ihm alle Wünsche erfüllen. Dann fühlt es sich nämlich stark, obwohl es das gar nicht ist. Das Schwächegefühl und der Wunsch nach Stärke sind sein wichtigster Entwicklungsmotor. Hält es sich aber fälschlicherweise schon für stark, hört es auch auf, sich zu entwickeln. In den zwei bis drei Jahren vor der Pubertät ist das Kind dann tatsächlich stark, weil es nämlich keine Bedürfnisse mehr hat, die es sich nicht selbst erfüllen könnte, wenn wir mal von den primären Bedürfnissen ausgehen und nicht von denen, die uns die Konsumgesellschaft suggeriert. Jetzt hat das reife, starke Kind überschüssige Kräfte und die kann es ins Lernen stecken. Es entwickelt eine Wissensbegierde und Neugierde, wie es sie danach, insbesondere in der Pubertät, nicht mehr haben wird.

Übertragen auf Plessners exzentrische Positionalität kann man sagen, daß die kindliche Differenz schwach/stark eine Vorform der Innen/Außen-Differenz bildet. Anders als beim Jugendlichen empfindet das Kind seine Schwäche nicht als ein grundsätzliches Problem. Es ist sozusagen nur im Moment ‚schwach‘. Aber es wird immer größer werden, und damit auch immer ‚stärker‘, bis es so stark sein wird wie die von ihm bewunderten Erwachsenen. Was tatsächlich aber ein Mißverständnis ist. Denn tatsächlich sind die Erwachsenen, wie Rousseau hervorhebt, im Vergleich zum starken Kind in seiner letzten Entwicklungsphase vor der Pubertät schwach.

Das Kind befindet sich also gewissermaßen ständig auf der Grenze zwischen Schwäche und Stärke, ähnlich wie sich in Plessners Anthropologie der Mensch ständig auf der Grenze zwischen innen und außen befindet. Plessner verbindet die exzentrische Positionalität mit der Brechung des Intentionsstrahls: wenn wir unsere Wünsche und Bedürfnisse nicht unmittelbar erfüllen können, also nicht ‚von der Hand in den Mund‘, werden wir uns unserer selbst und unseres Selbst bewußt.

Nicht so das Kind. Ein gesundes Kind hat Rousseau zufolge keine Identitätszweifel. Es hat nur einen Wunsch: stark zu sein. Sein tägliches Scheitern bildet nur den Weg, auf dem voranschreitend es täglich stärker wird. Die Logik dieser Entwicklungslinie unterscheidet sich prinzipiell von dem „trial and error“, von dem bei Sloterdijk die Rede ist. ‚Fehler‘ sind hier nicht einfach ‚Fehler‘, die wir im Dunkeln herumtappend begehen, sondern Erfahrungen, die das Selbst- und Weltverhältnis des Kindes formen und seinen individuellen Verstand schärfen.

Erst mit dem Beginn der Pubertät, wenn der Jugendliche neue soziale Bedürfnisse entwickelt, insbesondere seine erwachende Sexualität, wird das Scheitern zu einem Identitätsproblem. Erst jetzt beginnt der Jugendliche, sich seiner selbst bewußt zu werden. Und er beginnt, alles in Frage zu stellen. Jetzt erst, mit der zweiten Geburt des Menschen, wird die von Günter Dux beschriebene kulturelle Nullage zu einem gesellschaftlichen Problem.

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Montag, 5. Januar 2015

Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986

1. Politik und Subpolitik
2. Polarisierungen

An den Begriffkonzepten so unterschiedlicher Autoren wie Theodor Litt (1880-1962), Hans Jonas (1903-1993), Ulrich Beck (1944-2015) und Jeremy Rifkin (*1945) läßt sich zeigen, daß eine Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren auf eine ähnliche Polarisierung aus sich gegenseitig bekämpfenden Prinzipien hinaus führt. Für Theodor Litt habe ich dabei auf „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt“ (1955), für Hans Jonas auf „Das Prinzip Verantwortung“ (1979) und für Jeremy Rifkin auf „Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“ (2/2004) zurückgegriffen.

Theodor Litt ist ein Pädagoge aus der ersten Hälfte des 20. Jhdts. und stand der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nahe, hatte aber einen eigenständigen anthropologischen Ansatz. Er unterschied zwischen „Umgang“ und „Sache“. Mit dem Wort „Umgang“ bezog er sich auf ein lebensweltliches Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft und zur Natur. Dieses lebensweltliche Verhältnis zur menschlichen und nicht-menschlichen Welt ist durch die Ganzheit der Mittel-Zweckverhältnisse gekennzeichnet. Mittel und Zwecke stehen noch in einem ausgewogenen, für den Menschen durchschaubaren und deshalb auch verantwortbaren Verhältnis zueinander. Die Menschen können noch die Folgen ihres Handelns überschauen. Der Begrenztheit ihres Handelns entspricht eine Selbstbegrenzung, eine innere Disziplin, für die das individuelle Gewissen steht.

Mit dem Wort „Sache“ bezog sich Litt auf ein wissenschaftlich-technologisches Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft und zur Natur. Alle lebensweltlichen Bezüge sind aus diesem Weltverhältnis eliminiert. Technologisch führte das zu einer Trennung von Mitteln und Zwecken. Die technologischen Mittel bestimmen hier die Zwecke und überwiegen diese in einem Ausmaß, daß die Zwecke dahinter ganz zu verschwinden drohen. An die Stelle der individuellen Selbstbegrenzung tritt eine gesellschaftliche Omnipotenz: alles, was gemacht werden kann, wird gemacht, ungeachtet dessen, wie sinnvoll es sein mag. Und letztlich kann alles gemacht werden.

Theodor Litt zufolge ist die menschliche Natur durch einen inneren Widerspruch (Antinomie) gekennzeichnet: er ist gleichermaßen geneigt und fähig, das Gute wie das Böse zu tun. Das ist seine Freiheit. Übrignes war Theodor Litt strammer Antikommunist, wobei man aber berücksichtigen muß, daß er auch Antifaschist gewesen war und weder in Nazi-Deutschland noch in der DDR bereit gewesen war, seine universitäre Forschung und Lehre dem jeweils vorherrschenden Totalitarismus unterzuordnen. Jedenfalls setzte er ‚gut‘ mit der westlichen Demokratie und ‚böse‘ mit dem Kommunismus gleich. Er plädierte für eine Pädagogik der Wachsamkeit, die die Freiheit des Individuums respektiert und dieses Individuum zugleich allererst zu seiner Freiheit befreit; eine Pädagogik, für die die klassische Bildung steht, die Theodor Litt mit Wilhelm von Humboldt verband.



Theodor Litt trat für die Erneuerung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses ein, für einen Fortschritt, der die Umgangsverhältnisse des Menschen respektiert und bewahrt.

Hans Jonas arbeitet mit dem Begriffspaar Gegenwart und Zukunft. Die Moral des Menschen ist auf die Gegenwart begrenzt. Für sie gilt der kategorische Imperativ: alles Handeln, also alle ‚Mittel‘, die jemand verwendet, muß sich an der moralischen und physischen Integrität seiner Mitmenschen begrenzen. Niemand darf seine Mitmenschen durch sein Handeln verletzen oder bedrohen. Kant bezeichnete das als die Selbstzweckhaftigkeit jedes Menschen. In Form der goldenen Regel bedeutet das: ich soll anderen nichts antun, von dem ich nicht will, daß es mir angetan wird.

Jonas kritisiert Kant dahingehend, daß diese Reziprozität des kategorischen Imperativs auf die Gegenwart beschränkt bleibt und die Zukunft nicht einbezieht. Allerdings berücksichtigt er dabei die andere Fassung des kategorischen Imperativs nicht, derzufolge all unser Handeln einer allgemeinen Gesetzgebung genügen soll. Wenn ich dieses ‚allgemein‘ weit genug fasse, fallen darunter nicht nur die gegenwärtige Generation, sondern auch die künftigen, noch ungeborenen Generationen. In diesem Fall müßte so eine allgemeine Gesetzgebung auch deren künftiges Schicksal miteinbeziehen, und die Kantische Moralphilosophie wäre nicht mehr nur auf die Gegenwart beschränkt.

Jonas geht jedenfalls davon aus, daß eine Moral, die auch die Zukunft des Menschen umfaßt, eines neuen existentiellen Imperativs bedarf, der alle Technologien, die die künftige Existenz des Menschen auf diesem Planeten bedrohen, verbietet. Die wissenschaftliche Forschung darf also nicht mehr alles ‚machen‘, was sie kann. Sie muß sich über die möglichen technologischen Folgen ihrer Forschungsergebnisse Gedanken machen. Nicht die Anwendungsorientierung steht im Vordergrund, sondern die Frage nach dem Sinn.

Dazu bedarf es einer Neufassung der politischen ‚Macht‘: es darf nicht mehr in erster Linie um eine technologische Kontrolle der Natur und auch nicht um eine technologische Kontrolle des Menschen gehen – wie sie ja inzwischen durch das Internet endgültig in die Privatbereiche der Menschen eingedrungen ist –, sondern es geht vielmehr um eine politische und eine gesellschaftliche Kontrolle der Technologieentwicklung.

Hans Jonas war übrigens der Meinung, daß die (kommunistische) Planwirtschaft hier einen gewissen Vorteil gegenüber der Demokratie hat, weil sie effektivere Handlungsoptionen hat. Die Planwirtschaft ermöglicht es, die ersten beiden Formen der Macht über die Natur und über die Menschen in den Dienst einer die Existenz des Menschen gewährleistenden Kontrolle über die Technologie zu stellen. Die bedenkliche Konsequenz aus dieser Option wäre so etwas wie eine Ökodiktatur oder auch so etwas wie ein Geoengineeringfaschismus. Die bisherige ‚Marktwirtschaft‘, also den Kapitalismus, hält Jonas jedenfalls für völlig ungeeignet. Es ist also kein Wunder, daß Jonas seine politische Hoffnung auf Verantwortungseliten setzt und nicht auf das Individuum.

Auf Ulrich Beck brauche ich hier nicht weiter einzugehen. Das habe ich schon im letzten Post getan. Es sei nur auf die Parallele zwischen Litts „Sache“, Jonas’ „Gegenwart“ und Becks „einfache Modernisierung“ verwiesen, die allesamt die aus dem Lot geratenen Mittel-Zweckverhältnisse und die technologische Omnipotenz des Menschen thematisieren. Die Parallele zu Becks „Umgang“ und Jonas’ „Zukunft“ besteht bei Beck in der reflexiven Modernisierung, die das Umgangsverhältnis des Menschen zur menschlichen und nicht-menschlichen Welt wieder mit einbezieht. Die Technik muß in der reflexiven Modernisierung für ein verantwortbares Risikomanagement genutzt werden.

Jeremy Rifkin unterscheidet zwischen „Sozialkapital“ und „Marktkapital“. Dabei steht das „Sozialkapital“ für ein menschliches Verhältnis von Mitteln und Zwecken, in dem der Mensch im Kantischen Sinne einen Selbstzweck bildet. Im „Marktkapital“ werden alle ‚Mittel‘ mit ‚Geld‘ gleichgesetzt, – was übrigens der Habermasschen Kolonialisierung der Lebenswelt entspricht. Das Sozialkapital ist am Gemeinwohl und das Marktkapital an der Befriedigung physiologischer und materieller Bedürfnisse orientiert. Rifkin zufolge ist das Sozialkapital fundamentaler als das Marktkapital: es geht dem Marktkapital voraus und ermöglicht es. Das Sozialkapital entspricht also Litts „Umgang“ (und Habermasens „Lebenswelt“).

Rifkin fordert eine Neuverteilung der Arbeit. Die Arbeitszeit muß so verkürzt werden, daß alle Menschen Arbeit finden. An die Stelle des Geldes soll der „Zeitdollar“ treten, der alles, was die Menschen tun, gleich bewertet: von der Kinder- und Altenpflege bis hin zum Lesen und Besprechen ;-) eines Buches. Es gibt keine geringer und keine höher bewerteten Tätigkeiten. Im Vordergrund steht das Gemeinwohl und nicht die Marktwirtschaft.

An dieser Auswahl verschiedener Positionen zeigt sich, daß alle diese Analysen das menschliche Selbst- und Weltverhältnis immer auf eine ähnliche Weise polarisieren: menschliches Handeln (Mittel) wird in Bezug auf menschliche Zwecke gesetzt oder das menschliche Mittel-Zweckverhältnis gerät durch Technologie aus dem Gleichgewicht. Was wir brauchen, ist also ein neuer Bezug zur Technologie. Technologie muß wieder mehr wie Handwerk sein. Ich selbst habe jedenfalls inzwischen einen regelrechten Widerwillen gegen jede neue technologische Innovation entwickelt, mit der alle halbe Jahre die Lebensverhältnisse der Menschen ‚revolutioniert‘ werden. Wir müssen wieder unser Leben selbst in die Hand nehmen und unser Leben führen!

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Sonntag, 4. Januar 2015

Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986

1. Politik und Subpolitik
2. Polarisierungen

Am 1. Januar starb der Soziologe Ulrich Beck an den Folgen eines Herzinfarkts. Ich habe sein Buch „Risikogesellschaft“ (1986) erst mit großer zwanzigjähriger Verspätung gelesen, obwohl mir dieser Begriff die ganze Zeit über geläufig gewesen war, wie ‚Kindergarten‘ oder ‚Altersvorsorge‘. Kaum ein von einem einzelnen Autor geprägter Begriff ist so sehr zu einem Teil der Alltagssprache geworden wie die untrennbar mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verbundene „Risikogesellschaft“.

Meine verspätete Lektüre hatte immerhin den Vorteil gehabt, daß ich die letzten zwanzig Jahre seit dem Erscheinen von Becks Buch bei meiner Erstlektüre unmittelbar präsent hatte und nun mit großem Staunen zur Kenntnis nehmen konnte, wie präzise Beck 1986 gesellschaftliche Entwicklungen bis ins Detail vorweg genommen hatte. Mir erschien es so, als hätte Beck sein Buch gerade erst geschrieben, in voller Kenntnis der politischen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre.

Ich machte mich sogleich daran, Seminare zu Becks „Risikogesellschaft“ vorzubereiten, und ich konfrontierte die Studenten mit der Notwendigkeit, ihr eigenes Studium als Teil einer Lebensplanung, die berufliche Karrieren umfaßt, grundlegend in Frage zu stellen. ‚Bildung‘, so meine Schlußfolgerung aus Becks Analysen zur Risikogesellschaft, kann nicht länger als Garant für eine berufliche Karriereplanung gelten. Jeder Einzelne von uns nimmt an einem Lotteriespiel teil, in dem die Erfolgschancen nach dem Zufallsprinzip verteilt werden. Schule und Universität versuchen nur, mehr schlecht als recht, die Teilnahmebedingungen an diesem Lotteriespiel möglichst gerecht zu gestalten. Am Ende entscheidet aber nicht die Bildung, sondern der Zufall.

Mitten in der durch „Bologna“ bewirkten Umbauphase der klassischen deutschen Bildungsuniversität zu einem stromlinienförmigen Ausbildungsbetrieb, der die Studenten mit dem Versprechen in seine Einrichtungen lockt, sie möglichst schnell und effektiv auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten, kamen meine Seminare bei den Studenten  – insbesondere an einem Standort, der frühzeitig alle klassischen Studiengänge der Lehrerausbildung und des Diplom radikal abgeschafft hatte – allerdings nicht so gut an. BA und MA standen für eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung, und ich war der Miesmacher.

Ulrich Beck verband die Wissenschaftskritik mit Gesellschaftskritik. Die Wissenschaft war für ihn nicht einfach nur eine Forschungseinrichtung, die Grundlagenforschung betreibt oder die Wirtschaft mit technologischen Innovationen versorgt. Tatsächlich stellte er den bisherigen Wissenschaftsbetrieb grundsätzlich dadurch in Frage, daß er den Autoritätsanspruch der Wissenschaft kritisierte. Diese ‚autoritäre‘ Wissenschaft war unfähig, ihren eigenen Erkenntnisanspruch zu reflektieren und zu begrenzen. Sie korrespondierte mit einer Phase der gesellschaftlichen Modernisierung (einfache Modernisierung), die alle traditionellen Werte unter Ideologieverdacht stellte und die Natur vor allem als ein Mittel und als eine Ressource verstand, den Wohlstand der menschlichen Gesellschaft zu ermöglichen und sicherzustellen.



Diese der einfachen Modernisierung entsprechende Wissenschaft bezeichnete Beck als ‚halbierte‘ Wissenschaft. Sie nahm für sich das Recht und die Autorität in Anspruch, alles zum Gegenstand der Forschung zu machen, und erhob damit einen umfassenden Erkenntnisanspruch. Zugleich aber vermied sie es, sich selbst zu thematisieren. Die wissenschaftliche Forschung konnte selbst nicht angezweifelt werden. Und darin bestand Beck zufolge die Halbierung der Wissenschaft: der umfassende Erkenntnisanspruch gegenüber der Welt war verbunden mit der Verweigerung, sich selbst zu hinterfragen.

In der „Risikogesellschaft“ wird die einfache Moderne aber nun reflexiv. Sie wird sich der ökologischen Folgeprobleme einer unbegrenzten Industrialisierung bewußt. An die Stelle eines utopischen Wohlstandsoptimismusses, demzufolge es mit dem industriellen Wachstum immer nur aufwärts geht, tritt ein Bewußtsein für die bedrohte Menschlichkeit und für die Notwendigkeit, auch in der Zukunft einen humanen Minimalbestand gegenüber dem marktwirtschaftlichen Zugriff sicherzustellen.

Zur Reflexivität dieser Moderne gehört auch, daß die Risiken, die den humanen Minimalbestand bedrohen, nicht für alle Augen sichtbar sind. Die Folgen unseres Handelns, etwa Radioaktivität oder andere Umweltgifte, werden nur sehr indirekt und zeitlich verschoben sichtbar. Es bedarf wiederum wissenschaftlicher Forschung, die über diese Gefahren aufklärt. Um diese Forschung zu verstehen, bedarf es deshalb eines hohen Bildungsgrades auf Seiten der Gesellschaft. ‚Bildung‘ ist also nicht in erster Linie ein Karrieremittel, sondern eine Grundvoraussetzung für verantwortungsvolle gesellschaftliche und politische Teilhabe.

Mit der reflexiven Moderne wird also auch die Wissenschaft reflexiv. Damit stellt sie auch ihre eigene Autorität in Frage. Sie bleibt zwar in einer aufgeklärten Gesellschaft die einzige Erkenntnisautorität, aber ihre Verantwortung begrenzt sich gegenüber dem Anspruch des ‚Laien‘, ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Der im Zuge der einfachen Modernisierung und Verwissenschaftlichung zunehmend aus der Forschung ausgegrenzte Mensch wird bei Ulrich Beck wieder zum Zentrum und Zweck einer nunmehr sich selbst reflexiv begrenzenden wissenschaftlichen Forschung.

In der reflexiven Gesellschaft verändert sich auch das Verhältnis der Politik zur Gesellschaft. Politik wird zu einem großen Teil Subpolitik. Sie kann nicht mehr auf staatliches Handeln, auf gewählte Repräsentanten beschränkt werden. Es stellt sich also die Frage nach dem neuen politischen Subjekt. In der Phase der einfachen Modernisierung war es der Arbeiter bzw. marxistisch: das Proletariat. In der „Risikogesellschaft“ ist das politische Subjekt durch die Bedrohung definiert: durch das Risiko, dem es ausgesetzt ist. Da das Risiko aber gleichermaßen unsichtbar wie global ist, hängt das politische Bewußtsein, wie schon erwähnt, im hohen Maße von der Bildung und vom Wissen der Menschen ab. Die Ausbeutungsverhältnisse sind nicht so einfach und klar wie zu Zeiten der einfachen Modernisierung: dort der Kapitalist, hier der Arbeiter.

Auch dies ist ein Grund dafür, daß die Wissenschaft reflexiv werden muß. Sie wird zu einem Mittel der Ideologie: die von den Konzernen gesponserte Wissenschaft sammelt und fälscht Belege, die wie früher bei den Tabakkonzernen die Unbedenklichkeit des Zigarettenrauchens ‚beweisen‘. Oder wie in den letzten Jahren: im Dienste der Konzerne stehende Netzwerke von Wissenschaftlern ‚bezweifeln‘ – angeblich in bester wissenschaftlicher Tradition – die Beweise der kritischen Klimaforscher und torpedieren so die verschiedenen internationalen Klimakonferenzen, auf denen es um die Begrenzung der Folgen des Klimawandels geht. Denn nichts ist schließlich wissenschaftlicher als der Zweifel, vor allem wenn er mit der Autorität wissenschaftlicher Kompetenz gesät wird.

Reflexivität tut also not, gerade auch dort, wo mit dieser ‚Reflexivität‘ Mißbrauch getrieben wird. Und der Laie ist es, der entscheiden muß, welchen Daten er Glauben schenkt. Analog zur Sub-Politik könnte man hier deshalb auch von Sub-Science sprechen. In der Anfangszeit der neuzeitlichen Wissenschaft gab es so etwas wie eine Bürgerwissenschaft, und es scheint so, als wäre so eine Laienbewegung wieder im Entstehen begriffen.

Ulrich Beck hat mit seinen Analysen die Wissenschaft wieder ins Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung gestellt. Das ist sein Verdienst. Im nächsten Post werde ich zeigen, daß er damit in einer guten Tradition steht.

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