„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 1. April 2015

Patrick Rothfuss, Die Musik der Stille, Stuttgart 2015

Jean-Jacques Rousseau war der Meinung gewesen, daß die Dinge die besten Lehrmeister der Kinder seien. Sie geben ihnen Antworten, die die Kinder sich selbst erfragen und erarbeiten müssen, anders als die Erwachsenen, die ihnen schon Antworten geben, noch bevor sie Gelegenheit gefunden haben, auch nur eine Frage zu stellen. Dinge geben den Kindern Lehren, Erwachsene Belehrungen.

Die Dinge sind schweigsame Lehrmeister. Das ist im Grunde ihr Wesen. Denn ‚Ding‘ kommt von ‚Thing‘, und im Englischen heißt es ja auch genau so. Das ‚Ding‘ ist eine Versammlung, ein Ratgeber, aber eben kein geschwätziger. Es ist ein Gericht, das sein Urteil spricht und die angeknackste Welt wieder in Ordnung bringt. Patrick Rothfuss findet ein Wort für dieses Gericht: er nennt es „Unterding“. Das Unterding ist eine Versammlung von Dingen in den Fundamenten der Welt. Es ist ein Gegenbegriff zum Internet der Dinge, der maximalen Geschwätzigkeit der Dinge für sich selbst, die uns Menschen nichts mehr zu sagen haben, weil wir es verlernt haben, ihnen zuzuhören.

Das Unterding ist voller Dinge, die uns etwas zu sagen haben, von Dingen, die voller Antworten sind und voller Liebe, weil es dort einen Menschen gibt, der ihnen zuhört und der sich ihnen zuwendet, um für sie einen Ort zu finden, im Unterding, wo sie hingehören und ihre Antworten vernehmbar werden. Auri, das schmale Mädchen in den Katakomben unterhalb der Universität, lebt ein Leben fern von den Menschen, in ihrer eigenen Welt, der Welt der Dinge, dem Unterding.

Sie ist eine Jägerin und Sammlerin, ein Wildbeuter, wie es unsere Vorfahren zweieinhalb Millionen Jahre lang gewesen sind. Wie unsere Vorfahren ist sie „in der Lage, die Dinge zu nutzen, die die Welt ihr an die Hand gegeben hatte.“ (Vgl. Rothfuss 2015, S.114) In „Die Musik der Stille“ (2015) erzählt Patrick Rothfuss sieben Tage aus ihrem Leben, und gleich der erste Tag, von dem er berichtet, ist so ein Sammel- und Findetag, an dem sie sich zum tiefsten Grund der Dinge hinab begibt, um dort neue Antworten zu finden. Schon die Katakomben unterhalb der Universität sind menschenleer und einsam. Aber tiefer noch, auf dem Grund eines überschwemmten Gewölbes, zu dem sie hinabtaucht, gelangt sie zu einem schweren, suppentellergroßen Ding: „Es war voller Liebe und Antworten, so voll, dass sie spürte, wie all das schon bei der zartesten Berührung daraus hervorquoll.“ (Rothfuss 2015, S.24) – Sie schafft es nur mit großer Mühe, es an die Oberfläche zu bringen und ertrinkt fast dabei.

Wie sich herausstellt, handelt es sich um ein Zahnrad aus Messing, dem ein Zacken fehlt: „Das arme Ding. So liebenswert und so verloren zu sein. So voller Antworten zu stecken und so viel verborgenes Wissen zu enthalten. So schön und zugleich kaputt zu sein. Auri nickte und legte dem Zahnrad tröstend eine Hand aufs Gesicht.“ (Rothfuss 2015, 72) – Es ist beschädigt, angeknackst, so wie Auri selbst: „Man tat, was man konnte. Man kümmerte sich um die Welt, um der Welt willen. Und man hoffte, in Sicherheit zu sein. Dennoch war ihr klar: alles konnte zusammenbrechen, und es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Und ja, sie wusste, dass sie nicht ganz richtig war. Sie wusste, dass alles in ihr schräg stand. Sie wusste, dass ihr Kopf vollkommen in Unordnung war. Sie wusste, dass sie einen Knacks hatte. Sie wusste es.“ (Rothfuss 2015, S.127)

Auri versucht also, den Dingen in ihrer Unterwelt zu helfen, ihnen einen Ort zuzuweisen, an den sie hinpassen. Sie wandert auch mit dem beschädigten Messingrad umher durch unterirdische Gänge und Zimmer, aber so sehr sie sich bemüht, sie findet keinen Ort für es. Wie sie dabei ihre Sammlungen begutachtet und Dinge zurechtrückt, weil sie nicht richtig liegen, wird deutlich, daß sie so ihr eigenes Inneres zurechtrückt und ordnet. Sie arbeitet an einer Collage, einem Stilleben. Diese Collage, dieses Stilleben ist das Unterding und zugleich sie selbst. Levi-Strauss würde von einer „Bricolage“ sprechen, von einer Grundform des menschlichen Denkens. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2013) Claparéde, Piaget und Wygotski wollen dieses Denken auf die Kindheit beschränken und bezeichnen es als „Synkretismus“.

Schließlich entdeckt sie, warum das Messingrad nirgendwo hinzugehören scheint. Als sie es auf einem Bord, wo sie es abgestellt hatte, zur Seite dreht, von einem Messingzahn zum nächsten, wird ihr klar, daß es nicht das Messingrad ist, daß sich dreht: „Es kippte von einem Zahn zum nächsten. Und erst als Auri das Messingrad drehte, verstand sie, weshalb es so schrecklich schwer war. Es war ein Drehpunkt. Ein Angelpunkt. Ein Dreh- und Angelpunkt. Es bewegte sich, drehte sich, doch in Wirklichkeit schien es sich nur zu drehen. In Wirklichkeit stand es still. In Wirklichkeit drehte sich stattdessen die ganze Welt.“ (Rothfuss 2015, S.129)

Das Messingrad ist also kein einzelnes Ding in der Unterwelt. Vielmehr ist es das Zentrum von Unterding und alles dreht sich um dieses Messingrad, während es selbst verharrt, so wie sich die Erde um die Sonne dreht, aber die Sonne dreht sich nicht.

Aber es ist ein angeknackstes Zentrum. Ihm fehlt eine Zacke. Von ursprünglich zehn Zacken sind nur neun übriggeblieben. Aber auch hier macht Auri schließlich eine Entdeckung: als ihr das Messingrad beim Herumtragen aus der Hand und eine Treppe hinunterfällt, bricht es in drei Teile auseinander. Und alle drei Bruchstücke haben jeweils drei Zacken: „Der Dreh- und Angelpunkt war zerbrochen, aber das war nicht falsch. Eier brachen. Sogar Wellen brachen. ... Drei schartige Stücke mit je drei Zähnen. Er war kein Bolzen mehr, ins Herz der Dinge gerammt. Er war nun drei Dreien.“ (Rothfuss 2015, S.146)

Das angeknackste Messingrad ist kein angeknackstes Messingrad mehr. Es ist etwas Neues geworden, das eine neue Vollkommenheit offenbart, eine Antwort für Auri, die die ganze Zeit auf der Suche nach etwas anderem gewesen war und es nicht hatte finden können, etwas für den siebten Tag, an dem sie sich mit dem einzigen Menschen treffen würde, der ihr etwas bedeutet. Und dem sie nun etwas schenken würde: „Drei vollkommene Dreien würden ihr Geschenk für ihn sein.“ (Rothfuss 2015, S.146)

So findet Auri durch das innerste Herz der Dinge im Unterding hindurch ihren Weg zu einem anderen Menschen. Und jetzt, am Ende der Geschichte, erweist sie sich als eine Meisterin; sie, die bisher den Dingen gedient hatte und die ihren eigenen Willen im Zaum gehalten hatte, weil es, wie sie sich immer wieder ermahnt, es wert sei, „die Dinge so zu tun, wie es sich gehörte“ (Rothfuss 2015, S.30 u.ö.), erweist sich jetzt als ihre Meisterin, als eine Kennerin des Geheimnisses „tief im verborgenen Herzen der Dinge“: „Auri stand da, lächelte im Zirkel ihres goldenen Haars und ließ die ganze Wucht ihres Begehrens auf die Welt niederfahren. Und alle Dinge erbebten. Und alle Dinge erkannten ihren Willen, Und alle Dinge beugten sich, ihr zu gefallen.“ (Rothfuss 2015, S.157)

Auri ist letztlich nicht nur eine Collagistin, ein Arrangeur von Stilleben; sie ist auch eine Alchimistin, denn sie kennt den Stein der Weisen. Das ist eine erstaunliche Entdeckung, die der Leser am Ende des Buches macht. Aber dann so erstaunlich wohl doch wieder nicht. Schließlich kennt sich niemand besser mit den Dingen aus als die Alchimisten, und auch sie versuchen, ähnlich wie Auri mit ihren Arrangements, über die Veredlung von Stoffen sich selbst zu veredeln. Auris alchimistische Meisterschaft zeigt sich zweimal, am fünften Tag, als sie Seife siedet, und am siebten Tag, als sie eine Kerze zieht. (Vgl. Rothfuss 2015, S.113ff. u. 152ff.)

Aber nein! Auri ist wohl doch keine Alchimistin. Denn meistens läßt sie die Dinge sein, was sie sind, und verändert nur den Ort, wo sie sind. Weil sie deren Antworten dort besser hören kann. Ihre Dinge sind keine Reagenzien, sondern Katalysatoren. Sie ist die einzige, die sich verändert, jeden der sieben Tage anders ist und immer wieder aufs Neue ihren Zustand an der Ordnung prüft, die sie den Dingen um sich herum gegeben hat. – Was ihr nur am dritten Tag nicht gelingt. Es ist der einzige Tag ohne Dinge. Der Tag, an dem sie weint.

Wirklich erstaunlich ist aber eine Bemerkung des Autors am Schluß seines Nachworts, und der Rezensent gesteht, daß es an dieser Stelle er selbst war, der in Tränen ausbrach, als er las: „Diese Geschichte ist für all die leicht angeknacksten Leute da draußen. Ich bin einer von euch. Ihr seid nicht allein. Und in meinen Augen seid ihr alle schön.“ (Rothfuss 2015, S.173)

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2 Kommentare:

  1. Wie bereits Husserl für die Phänomenologie forderte "zu den Sachen selbst" - sind die Sachen (les choses) oder Tatsachen (facts) nicht nur schweigsam, sondern vor allem unbestechlich. Und das Thing war eine Versammlung, die wegen einer Sache zusammen kam.
    Rothfuss ist nicht mein Ding. :-)
    Frohe Ostern, Aiko.

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    1. Ich kenne inzwischen den einen und anderen, dessen Ding der Rothfuss ebenfalls nicht ist. Danke für die Grüße und Gruß zurück!

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