„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 8. Mai 2015

Maxwell R. Bennett/Peter M.S. Hacker, Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften, Darmstadt 3/2015 (2003)

(Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 585 Seiten mit einem Vorwort von Annemarie Gethmann-Siefert, brosch., 49,90 €)

1. Zusammenfassung
2. Fachsprachliche und nichtfachsprachliche Begriffe
3. Denken und Sprechen
4. Phänomenologie und Sprachanalytik
5. Bindungsproblem (Gestaltwahrnehmung)
6. Innen-Außen-Differenz als Kryptokartesianismus
7. Qualia, Seele und das Arrangieren von Dingen
8. Gibt es Willensakte?
9. sprachanalytischer Reduktionismus

Gegen die Vorstellung, daß sich Wahrnehmungserlebnisse von Geranien oder Denkprozesse irgendwo ‚im Gehirn‘ abspielen, wenden Bennett/Hacker ein, daß es korrekt ausgedrückt heißen müßte, daß wir die Geranien im Garten sehen und daß wir z.B. in unserer Wohnung denken und nicht in unserem Gehirn: „Wir sind Menschen, und wir leben nicht in unseren Schädeln, sondern in unseren Wohnungen.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.486)

Die unter Neurowissenschaftlern verbreitete Neigung, zwischen einer äußeren Welt und inneren Wahrnehmungen zu unterscheiden, führen Bennett/Hacker auf einen verborgenen Kartesianismus zurückt, den sie als „Krypto-Cartesianismus“ bezeichnen. (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.315ff.) Ähnlich wie Descartes, der zwischen einer res cogitans und einer res extensa, also zwischen einer inneren Denkwelt und einer äußeren Dingwelt unterschied, unterscheiden die Neurowissenschaftler zwischen dem Gehirn und dem Körper bzw. der Welt selbst: „Man sollte an dieser Stelle den bemerkenswerten Umstand erwähnen, dass die mit cartesianischen und empirischen Traditionen in Zusammenhang stehende irreführende philosophische Ausdrucksweise, nämlich die Rede von einer ‚Außenwelt‘, vom Geist auf das Gehirn übertragen wurde. Sie war aus dem Grunde irreführend, weil sie den Anschein erweckte, es gäbe eine innere ‚Bewusstseinswelt‘ und eine äußere ‚Welt der Materie‘. Was jedoch ein verworrener Gedanke ist. ... Der Unterschied zwischen dem, was im Gehirn, und dem, was außerhalb derselben ist, ist rein sprachlicher Natur und ganz unproblematisch.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.89, Anm.118)

Ironischerweise begeben sich Bennett/Hacker mit diesem Bezug auf das Gehirn auf das neurowissenschaftliche Niveau, anstatt die Differenz zwischen innen und außen als das zu nehmen, als was sie sich ‚zeigt‘; nämlich als ein Merkmal des ganzen Menschen, der, wie Plessner es beschreibt, die Welt in zwei ‚Richtungen‘ wahrnimmt: nach innen und nach außen. Wir haben es mit dem Phänomen einer Grenzüberschreitung zu tun, die Plessner auch als „Transgredienz“ bezeichnet. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Und das Grenzorgan, an dem wir diese Blickrichtungsänderungen vollziehen, ist die Haut.

Damit ist keinerlei räumlicher Verschachtelungsvorgang verbunden, entsprechend der bekannten russischen Puppe. In diesem Sinne gibt es keine psychischen Innenräume und keine physischen Außenräume. Aber es gibt sehr wohl eine innere und eine äußere Welt. Und das Gehirn befindet sich nicht ‚in‘ der Innenwelt bzw. es bildet auch nicht selbst eine Innenwelt. Es ist lediglich ein Organ des Körpers und gehört insofern zur Außenwelt. Indem sich Bennett/Hacker aber gegen eine Innenweltperspektive wenden und die Innen/Außen-Differenz mit dem neurowissenschaftlichen Kryptokartesianismus gleichsetzen, subsumieren sie die Innen/Außen-Differenz unter das Lokalisationsprinzip des mereologischen Fehlschlusses. Letztlich machen sie sich damit selbst des Reduktionismusses schuldig, den sie den Neurowissenschaftlern vorwerfen.

Das Fehlen einer Innen/Außen-Differenzierung führt direkt zur Gleichsetzung von Denken und Sprechen und zur Gleichsetzung von Bedeutung mit Referentialität. (Vgl. meinen Post vom 05.05.2015) Die Expressivität, die mit einer Differenzierung zwischen dem, was wir meinen, und dem, was wir sagen, einhergeht, gerät aus dem Blick. Darauf werde ich im nächsten Post noch mal zurückkommen.

Alle Redewendungen im Sinne einer „Standardverwendung“ von Sprache, die auf eine Innen/Außen-Differenzierung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses hinweisen, führen Bennett/Hacker auf das entsprechende Verhalten des Menschen zurück. Psychologische Prädikate, also alle Bewußtseinszustände von Wahrnehmungserlebnissen über Gefühle bis hin zu Gedanken und Intentionen, sind „kriteriell“ mit dem entsprechenden Verhalten des Menschen verknüpft. Wenn etwa eine Person sagt, daß sie traurig ist, und sie auch eine entsprechende Mimik und eine entsprechende Körperhaltung an den Tag legt, dann sind ihre Worte durch dieses Verhalten ausreichend belegt: „Die kriteriellen Gründe dafür, einer anderen Person psychologische Prädikate zuzuschreiben, sind begrifflich mit dem betreffenden Prädikat verknüpft. Sie sind mitkonstitutiv für die Bedeutung des Prädikats. Die normale Zuschreibung psychologischer Prädikate zu anderen Personen geht also nicht mit einer induktiven Identifizierung einher.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.107)

Mit „induktive Identifizierung“ ist hier das gemeint, was Tomasello als Abduktionslogik bezeichnet, also der Rückschluß vom beobachtbaren Verhalten auf innere Bewußtseinszustände. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2014) Psychologische Prädikate erhalten ihre Bedeutung also Bennett/Hacker zufolge nicht von diesen inneren Bewußtseinszuständen her, sondern nur vom entsprechenden beobachtbaren Verhalten her. Semantik wird auf Referentialität reduziert. Bedeutung stiftet nur, worauf sich zeigen läßt.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen