„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 13. August 2015

Michael Pauen/Harald Welzer, Autonomie. Eine Verteidigung, Frankfurt a.M. 2015

(S. Fischer Verlag, gebunden, 328 S., 19,99 €)

1. Zusammenfassung
2. Experimente I: Meßkriterien
3. Experimente II: Design
4. Experimente III: Kasuistik
5. Differenz von Innen und Außen
6. Spielräume
7. Vorschläge zur Verteidigung der Autonomie

Zum Design des von Pauen und Welzer durchgeführten Forschungsprojekts (vgl. Pauen/Welzer 2015, S.147ff.) gehört ein Fragebogen zur Messung des Autonomiegrads von etwa 1131 Studierenden, aus denen dann 56 Probanden ausgewählt wurden, „von denen 31 die höchsten bzw. 25 die niedrigsten Autonomiewerte aufwiesen“. (Vgl. Pauen/Welzer 2015, S.150) Mit ihnen wurden dann insgesamt sechs Experimente durchgeführt, bei denen unterschiedliche Kompetenzen geprüft wurden, zu denen die Beurteilung von Sachtexten (vgl. Pauen/Welzer 2015, S.152ff.) und moralischen Dilemmata (vgl. Pauen/Welzer 2015, S.155f.) sowie das individuelle Kommunikationsverhalten (vgl. Pauen/Welzer 2015, S.156f.) und außerdem drei Konformitätsexperimente gehörten, von denen sich das erste auf das Verhalten und die beiden anderen auf die Neurophysiologie der Probanden bezogen (vgl. Pauen/Welzer 2015, S.157ff.).

Pauen/Welzer legten dem Fragebogen ein „multidimensionales Persönlichkeitsmuster“ zugrunde, das sie „eng mit der Selbstwahrnehmung von Personen“, also der befragten 1131 Studierenden verbanden, die dazu aufgefordert wurden, auf einer Skala anzuzeigen, „wie hoch sie etwa ihr Selbstwertgefühl einschätzten“. (Vgl. Pauen/Welzer 2015, S.149) – An dieser Stelle verlieren Pauen/Welzer kein Wort zu ihrer früheren Feststellung, daß „Menschen im Allgemeinen“ „ziemlich miserabel“ darin sind, sich selbst „in Bezug auf Autonomie“ zu beurteilen. (Vgl. Pauen/Welzer 2015, S.40) Offensichtlich hielten die Autoren es nicht für nötig, diesen mißlichen Umstand bei der Konzeption des Fragebogens zu berücksichtigen. Stattdessen bauen sie ihre ‚Messung‘ genau auf jener Selbsteinschätzung auf, an der wir alle regelmäßig zu scheitern pflegen.

Es bleibt auch unklar, ob die Befragten und/oder später die ausgewählten Probanden über den Sinn und Zweck des Fragebogens und der darauf folgenden Experimente aufgeklärt wurden, um von ihrer Mitarbeit zu profitieren. So hätte man sich z.B. im Vorfeld des Fragebogens gemeinsam über die verwendeten Items verständigen können und so eventuelle Mißverständnisse, so weit möglich, vermieden. Oder andersrum: ob man bewußt auf die unbeeinflußte Spontaneität und Unbedarftheit der Befragten gesetzt hat und dabei darauf vertraute, daß die verschiedenen Items insgesamt die zu messende ‚Autonomie‘ weitgehend und individuell genug erfassen, um ein brauchbares Ergebnis zustandezubringen.

Einige Items, die verwendet wurden, zählen Pauen/Welzer auf: Einschätzung der eigenen Robustheit bzw. Ängstlichkeit, die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, die Fähigkeit, „unklare Situationen und Ungewissheit“ zu ertragen und eigene Erwartungen an die persönliche Selbstwirksamkeit. (Vgl. Pauen/Welzer 2015, S.150) Was ich an dieser Aufzählung insbesondere vermisse, ist eine Unterscheidung der verschiedenen Autonomieformen. Die Autoren beschränken die Multidimensionalität ihres Persönlichkeitskonzepts auf die Verwendung unterschiedlicher Items. Sie scheinen davon auszugehen, daß allein schon deren bloße Mischung im Fragebogen die behauptete Multidimensionalität zu gewährleisten vermag.

Dabei hätten Pauen/Welzer nur etwas genauer bei Immanuel Kant hinschauen müssen, mit dem sie sich allerdings oft genug in ihrem Buch befassen (vgl. Pauen/Welzer 2015, S.80ff., 87ff. u.ö.), und ihnen hätte auffallen müssen, daß Kant nicht umsonst drei Kritiken geschrieben hat: die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft. Alle drei Kritiken befassen sich mit ebenso vielen Formen der Autonomie: der theoretischen Autonomie (Erkenntnis), der praktischen Autonomie (Moral) und der ästhetischen Autonomie (Geschmack). Kant hat sie nicht zu einer einzigen Autonomie zusammengefaßt, sondern als drei grundverschiedene Formen von Autonomie beschrieben, für die er jeweils ein eigenes Buch brauchte.

Zu allen drei von Kant analysierten Dimensionen der Autonomie, der Erkenntnis, der Moral und der Ästhetik, gäbe es übrigens eine Intensität (Willensstärke), eine Frequenz (Häufigkeit des sichtbaren Verhaltens), einen Individualisierungsgrad (Bildungsniveau) und entsprechende Gelegenheitsstrukturen (Spielräume). (Vgl. meinen gestrigen Blogpost)

Was den Fragebogen und die nachfolgenden Experimente betrifft, diskutieren Pauen/Welzer auch nicht im Ansatz die Frage, ob ihr ‚multidimensionales‘ Konzept nicht vielleicht auch die Notwendigkeit beinhaltet, ähnlich wie Kant die verschiedenen ‚Dimensionen‘ irgendwie auseinanderzuhalten, anstatt sie einfach miteinander zu vermengen und zu vermischen (bzw. zusammenzurechnen), in der naiven Hoffnung, daß die so aussortierten Probanden in den anschließenden, wiederum unterschiedliche, sauber voneinander getrennte Aspekte menschlichen Denkens und Handelns hervorhebenden Experimenten irgendwie brauchbare, aussagekräftige Ergebnisse produzieren.

Letztlich kam es auch so, wie es das Forschungsdesign erwarten läßt: In keinem der Experimente ließen die gewonnenen Daten den Schluß zu, daß hohe Autonomie oder geringe Autonomie irgendeinen Einfluß darauf hatte, wie die Probanden sachlich oder moralisch urteilten, noch wie kommunikativ und kooperativ sie sich verhielten. In bemerkenswerter Gleichförmigkeit kommen Pauen/Welzer zum immer wieder gleichen Ergebnis, etwa zur Sachkompetenz (Persuasionsexperiment): „Die Hypothese erwies sich als falsch, in den Bewertungen gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den ‚Highs‘ und den ‚Lows‘.“ (Pauen/Welzer 2015, S.154)

Oder zum moralischen Urteilsvermögen: „Hinsichtlich unserer eigentlichen Fragestellung nach den Unterschieden zwischen ‚Autonomen‘ und ‚Konformen‘ erwies sich unsere Hypothese allerdings wieder als falsch.“ (Pauen/Welzer 2015, S.155)

Oder zum Kommunikationsverhalten: „Wir sahen Niedrigautonome mit ausgeprägtem Mitteilungsbedürfnis genauso wie Hochautonome, die der Fragestellung gegenüber indifferent blieben und kein besonderes Interesse zeigten, ihre Meinung ins Gespräch einzubringen.“ (Pauen/Welzer 2015, S.157)

Oder zum Konformitätsexperiment (bei dem es darum ging, dem eigenen Augenschein zu trauen und nicht den falschen Vorgaben anderer): „Allerdings zeigten sich bei den konsistent falschen Vorgaben von seiten der Konfidenten keine statistisch bedeutsamen Unterschiede zwischen den Gruppen – die Autonomen urteilten nicht autonomer als die Konformen.“ (Pauen/Welzer 2015, S.159)

Pauen/Welzer halten ernüchtert fest: „Dieses Ergebnis des Experiments spiegelt also in keiner Weise die vom Fragebogen ermittelten Selbsteinschätzungen wider.“ (Pauen/Welzer 2015, S.159) – Dennoch kommen die Autoren angesichts dieses niederschmetternden Ergebnisses nicht auf die Idee, daß an ihrem Fragebogen und damit an ihrer multidimensionalen Autonomieskala irgendetwas nicht stimmen könnte. Dabei zeigt sich gerade beim zuletzt erwähnten Experiment noch einmal, wie schwierig es für die Probanden gewesen sein muß, sich selbst in Bezug auf die ihnen gestellten Fragen (Items) einzuschätzen: „Die Verteilung der angepasstesten Antworten wies sogar einen ‚Niedrigautonomen‘ als denjenigen aus, der sich von allen 56 Personen am wenigsten angepasst hatte, während sich an der Spitze der Anpassung ein ‚Hochautonomer‘ fand.“ (Pauen/Welzer 2015, S.159f.)

Erst einige Seiten später gestehen die Autoren – zumindestens indirekt – kleinlaut ein, daß ihr Experiment von vornherein falsch konzeptioniert und deshalb zum Scheitern verurteilt gewesen war: „Die Zuordnung auf einer persönlichkeitspsychologischen Skala, die eher autonome von eher konformen Persönlichkeiten unterscheidbar macht, erlaubt keinerlei Voraussage darüber, wie diese Personen sich in Entscheidungssituationen verhalten werden. ... Menschen tendieren in Gruppensituationen zu konformem Verhalten, gleichgültig, ob sie sich für autonom halten oder nicht. Primär werden die individuellen Entscheidungen und Handlungen durch soziale Bedingungen bestimmt ... Entsprechend lassen sich Situationen danach unterscheiden, ob sie größere oder geringere Spielräume für autonomes Verhalten vorsehen.“ (Pauen/Welzer 2015, S.162) — Mit anderen Worten: statt auf Persönlichkeitseigenschaften hätten sich die Autoren von vornherein auf die sozialen Situationen konzentrieren sollen, in denen autonomes Verhalten möglich wird.

Insofern ist es menschlich verständlich, wenn Pauen/Welzer einen besonderen Triumphalismus an den Tag legen, als wenigstens die letzten beiden Experimente zur Neurophysiologie, bei denen es ebenfalls um das Konformitätsverhalten der Probanden ging, einen gewissen Erfolg zeitigen – beziehungsweise nur eines von ihnen. Von zwei zu unterschiedlichen Zeiten stattfindenden Experimenten am EEG wies zumindestens eins der beiden Experimente nach, „dass die Niedrigautonomen sich der (vermeintlichen) Gruppenmeinung häufiger anschlossen als die Hochautonomen, woraus sie (die Psychologen Sina Trautmann-Lengsfeld und Christoph Herrmann – DZ) den Schluss ziehen, dass Dispositionen zu konformem Verhalten eher auf der Ebene der neuronalen Verarbeitung als auf der des bewussten Entscheidens wirksam werden.“ (Pauen/Welzer 2015, S.161)

Nur schade, daß das andere, von denselben Wissenschaftlern durchgeführte Neuro-Experiment dieses Ergebnis nicht bestätigt. Aber das ist sowieso irrelevant, denn wir haben es hier mit einem klassischen mereologischen Fehlschluß zu tun. Was sich auf der bewußten Verhaltensebene nicht zeigt, wird nun auf der neurophysiologischen Ebene – und diesmal sogar mit „wissenschaftlicher Evidenz“ (die anderen Experimente waren also unwissenschaftlich?) – nachgewiesen und gegen die bewußte Verhaltensebene ausgespielt. Außerdem, und darin liegt der erwähnte Triumphalismus, soll das sogar „einer Sensation“ gleichkommen. Na gut denn: wenns sonst nichts zu feiern gibt ...

Daran aber, daß auch dieses letzte Experiment auf der Basis eines unbrauchbaren Fragebogens stattfand, ändert das vermeintlich sensationelle Ergebnis aber auch nichts.

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