„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 24. August 2015

Sozialperspektiven

In diesem Blogpost möchte ich ein Konzept von Sozialperspektiven vorstellen, das sich an Helmuth Plessners exzentrischer Positionalität orientiert. Um die Struktur dieser Sozialperspektiven zu veranschaulichen, greife ich auf die Personalpronomina zurück, deren übliche Einteilung ich auf sieben Personenperspektiven erweitere, indem ich das ‚Es‘ der dritten Person vom ‚Er‘/‚Sie‘ abtrenne und als eine eigene ‚Person‘ aufführe. Außerdem fokussiere ich diese sieben Sozialperspektiven auf die drei fundamentalen Subjektpronomina ‚Ich‘, ‚Du‘ und ‚Wir‘.

Man hätte vielleicht auch die beiden Personalpronomina ‚Er‘ und ‚Sie‘ als zwei eigenständige Perspektiven voneinander unterscheiden können. Aber im Sinne einer Einteilung der Menschen in ‚Männer‘ und ‚Frauen‘ gehört diese Differenz zum Wir/Ihr einer sich wechselseitig ausschließenden Gruppenidentität.


Zwischen ‚sozial‘ und ‚asozial‘ unterscheide ich im Sinne der Plessnerschen Exzentrik als Gleichzeitigkeit von Zentrum und Peripherie. Das ‚x‘ in der Tabelle steht dann für zwei verschiedene Sozialformen der Gegenüberstellung, bei denen sich ‚Ich‘ und ‚Wir‘ mit einem anwesenden Interaktionspartner (‚Du‘ bzw. ‚Ihr‘) konfrontiert sehen. Diese beiden Sozialformen bezeichne ich als ‚sozial‘. Das ‚o‘ steht hingegen für eine randständige Sozialform, in der sich ‚Ich‘ und ‚Wir‘ auf ein abwesendes Abstraktum beziehen (dritte Person singular: ‚Er‘, ‚Sie‘, ‚Es‘ und das Kollektiv-‚Sie‘ der dritten Person plural) oder für den Bezug des ‚Ich‘ auf sich selbst. Diese beiden Sozialformen bezeichne ich als ‚asozial‘.

Erste Reihe: Ich / Ich, Du, Er, Sie, Es ... Sie
Im Sinne der Plessnerschen Exzentrik kann sich eine Beziehung des Menschen zu sich selbst – Ich/Ich – nur aufgrund des mit seinem Körperleib einhergehenden Bruchs in der Erfüllung seiner fundamentalen Bedürfnisse ergeben. Könnte der Mensch seine Bedürfnisse im Sinne eines Reflexbogens aus Reiz und Reaktion befriedigen, käme es niemals zu einer Selbstreflexion. Erst das Versagen des Reflexbogens wirft den Menschen auf sich selbst zurück und positioniert ihn exzentrisch zur menschlichen Welt (singular: Er, Sie; plural: Sie) und zur nicht-menschlichen Welt (Es) und zu sich selbst (Ich). Diese Sozialperspektiven – Ich / ... Ich, Er, Sie, Es ... Sie – sind allesamt asozial, entweder weil Ich sich auf sich selbst bezieht oder weil sie sich am Rand unserer Aufmerksamkeit befinden. Ich kann mich auf ihn oder sie nur dann als ‚Er‘ oder ‚Sie‘ beziehen, wenn sie mir nicht konkret gegenüberstehen.

Die einzige soziale Beziehung auf dieser Ich-Ebene ist die zum ‚Du‘. Das ‚Du‘ ist ein ‚Ich‘ wie das ‚Ich‘ selbst, das sich auf dieses ‚Du‘ bezieht. Das ‚Du‘ ist überhaupt nur ein ‚Du‘, insofern es auch ein ‚Ich‘ ist. ‚Ich‘ und ‚Du‘ versetzen sich wechselseitig (rekursiv) als Ich in den jeweils Anderen. Sie bilden füreinander wechselseitig des Anderen Mitte, sind also im gleichen Sinne exzentrisch zueinander positioniert, wie es das jeweilige Ich für sich selbst ist.

Im ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ hingegen kommt das Ich als Ich nicht vor. Der einzelne Mensch erscheint im ‚Wir‘ oder ‚Ihr‘ einer Gruppe nicht als ‚Ich‘, sondern als ‚Er‘, ‚Sie‘ oder schlimmstenfalls als ‚Es‘, wie wir es gegenwärtig in den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Sachsen erleben. ‚Die‘ Flüchtlinge sind allesamt keine einzelnen Menschen, kein als ‚Ich‘ empfundenes ‚Du‘, sondern eine lästige Sache, die man loswerden will. ‚Er‘ oder ‚Sie‘ bzw. ‚Es‘ soll wieder dorthin zurück, wo es hergekommen ist.

Ich überspringe die zweite Reihe in der Graphik und mache zunächst mit der dritten Reihe weiter: Wir / Ich, ... Er, Sie, Es ... Ihr, Sie.
Obwohl das ‚Ich‘ im ‚Wir‘ nicht vorkommt, gibt es auch zwischen ‚Ich‘ und ‚Wir‘ eine soziale Beziehung, die Michael Tomasello als „Altruismus“ bezeichnet. (Vgl. meinen Post vom 08.06.2012) Tomasello beschreibt diesen Altruismus als ‚selbstlosen‘ Einsatz des einzelnen Menschen für die Interessen seiner Gruppe; ein Einsatz, der letztlich aber nicht so selbstlos ist, wie es den Anschein hat. Der wirklich selbstlose Einsatz für einen anderen Menschen erwartet sich dafür keine Gegengabe. Er ist nicht ‚mutualistisch‘, wie Tomasello schreibt, und er kommt nur auf der Ebene einer Ich/Du-Beziehung zustande. Rousseau bezeichnet diese Sozialperspektive als Mit-Leid, was offensichtlich der geteilten Intentionalität bei Tomasello entspricht. Rousseau zufolge ist das Mitleid noch amoralisch, bildet aber eine Vorstufe der Moral und ein Mittel der Moralerziehung.

Der ‚selbstlose‘ Einsatz des Einzelnen für seine Gruppe hingegen hat seinen Lohn im Erhalt der Gruppe, die ihm Sicherheit und Geborgenheit gibt. Die Gruppe nimmt deshalb auch den Einsatz des Einzelnen für das Gruppeninteresse wohlwollend und würdigend zur Kenntnis, etwa wenn sich jemand in einen Streit einmischt und ihn zu schlichten versucht. Das vorbildliche Verhalten des Einzelnen wird zum Gegenstand der öffentlichen Anerkennung und Auszeichnung. Der ausgezeichnete Einzelne wird so zum Gegenstand der Spiegelung von Gruppeninteressen und fördert auf dieser symbolischen Ebene, abgesehen von seinem konkreten Verhalten, zusätzlich den sozialen Zusammenhalt der Gruppe. Dieser Altruismus beruht also auf einem Mutualismus, dem wechselseitigen Geben und Nehmen von ‚Ich‘ und ‚Wir‘ im Rahmen der Gruppe. Aber das ‚Ich‘ kommt hier nicht als solches zur Geltung, anders als beim ‚Ich‘ und ‚Du‘, sondern nur insofern es sich als funktional für die Gruppe erweist.

Die andere soziale Dimension auf der Wir-Ebene besteht in der Gegenüberstellung von ‚Wir‘ und ‚Ihr‘. Im Unterschied zum Ich/Du, in dem sich zwei Menschen als ‚Ich‘ begegnen und anerkennen, grenzen sich ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ voneinander ab. Ihre soziale Beziehung ist rein negativ bestimmt: ‚Wir‘ ist nicht ‚Ihr‘ und ‚Ihr‘ ist nicht ‚Wir‘. Es gibt eine negative Rekursivität, die nicht auf Vertrauen, sondern auf Mißtrauen basiert: „Wir wissen, was ihr wollt, aber das gehört uns!“; oder: „Wir wissen, was ihr empfindet, aber das lehnen wir ab!“ – Im ersteren Falle konkurrieren zwei Gruppen um dieselben Ressourcen, und im zweiten Falle projizieren zwei Gruppen die eigenen negativen Gefühle auf die jeweils andere Gruppe.

‚Du‘ und ‚Wir‘ kommen auf der Wir-Ebene nicht vor: das ‚Du‘ nicht, weil es eines Ichs bedarf, um ein ‚Du‘ sein zu können, und das ‚Wir‘ nicht, weil es auf der Gruppenebene keine Selbstreflexion gibt. Das ‚Wir‘ reflektiert sich nicht. Es ist zu sich selbst nicht exzentrisch positioniert.

Das ‚Wir‘ kann allerdings so etwas wie eine Sachgemeinschaft bilden. (Vgl. meinen Post vom 15.11.2010) Es kann also eine nicht-soziale Beziehung zu einem ‚Er‘, ‚Sie‘ (singular), ‚Sie‘ (plural) oder ‚Es‘ aufnehmen. Bei den ersten drei Pronomina hätten wir es mit einer geistes- bzw. sozialwissenschaftlichen Perspektive und bei dem ‚Es‘ mit einer naturwissenschaftlichen Perspektive zu tun. Hier werden menschliche und nicht-menschliche Themen zum Gegenstand eines gemeinsamen Erkenntnisstrebens. Auch hier zählt das einzelne ‚Ich‘ nicht als ‚Ich‘, sondern nur insofern, als es zur gemeinsamen Sache etwas beizutragen vermag.

Kommen wir noch einmal auf die zweite Reihe zurück: Ich/Du / Ich, Du, Er, Sie, Es ...
Ganz ähnlich wie beim ‚Wir‘ kann es auch auf der Ebene des Ich/Du zu einer Sachgemeinschaft kommen, die hier allerdings nicht selten auch eine Lebensgemeinschaft bildet: nämlich zwischen Eltern und ihren Kindern und zwischen dem Meister und seinem Schüler. Die Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern läßt sich als eine Ich/Du-Beziehung beschreiben, die sich über ein zweites ‚Du‘, das Kind, definiert. Das ‚Du‘ des Kindes ist den Eltern so sehr ein ‚Ich‘ wie das gemeinsame ‚Du‘ von Mutter und Vater für das Kind ein ‚Ich‘ ist. Zugleich sind sich Mutter und Vater auf einer umso intensiveren Weise füreinander wechselseitig ‚Ich‘ und ‚Du‘, als sie sich durch das ‚Du‘ des Kindes ergänzt und vervollständigt erleben. Die Dyade öffnet sich zu einer Triade.

Auch im Meister-Schüler-Verhältnis öffnet sich die Dyade zu einer Triade. Meister und Schüler ergänzen sich in ihrem wechselseitigen ‚Ich‘-und-‚Du‘-Bezug durch den Gegenstand ihres Unterrichts – ‚Er‘, ‚Sie‘ und ‚Es‘ –, also durch die ganze Palette der menschlichen und nicht-menschlichen Welt. Dabei bleibt der Sachbezug – anders als in der science community – im Unterricht sozial vermittelt. In dieser Ich/Du-Konstellation verwandelt sich das Es: „Es“, so schreibt Jan Masschelein mit Bezug auf Michel Serres, „ist das Dritte, das die erste und zweite Person repositioniert“. (Vgl. „Experimentum Scholae“, in: Serjoscha P. Ostermeyer/Stina-Katharina Krüger (Hg.), Aufgabenorientierte Wissenschaft. Formen transdisziplinärer Versammlung, Münster/New York 2015, S.273-280: 278) Repositionierung in diesem Zusamenhang meint auch: der letzte Zweck des Unterrichts besteht nicht in der Sache und ihren Abstraktionen, sondern in der konkreten Verantwortung des Meisters für die Bildung seines Schülers.

Abschließend bleibt festzuhalten: Zur wechselseitigen Ich/Du-Dyade gibt es kein weiteres ‚Wir‘, ‚Ihr‘ oder (plural) ‚Sie‘. In die Richtung einer identitätsstiftenden Gruppendifferenzierung geht die Dyade in keine Triade über. Weil das ‚Ich‘ hier keinen Bestand hat, löst sich die Ich/Du-Perspektive auf.

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