„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 29. Oktober 2015

Axel Meyer, Adams Apfel und Evas Erbe. Wie die Gene unser Leben bestimmen und warum Frauen anders sind als Männer, München 2015

(C.Bertelsmann, 416 S., gebunden, 19,99 €)

2. Methode I: Genauigkeit
3. Methode II: Polemik
4. Methode III: Korrelation
5. Geschlecht (Sex)
6. Intelligenz
7. Sinn des Lebens
8. Genom und Gehirn

Axel Meyer verhält sich über weite Passagen seines Buches nicht wie ein fachlich kompetenter, sachlich argumentierender Autor, sondern wie jemand, der eine tiefe narzißtische Kränkung erfahren hat und diese nun mit Angriffen auf alle, die er als seine Gegner wahrnimmt, zu kompensieren versucht. Worin diese Kränkung besteht, kommt in folgendem Zitat zum Ausdruck: „Vieles von dem, was an uns Natur ist und das Erbe unserer Ahnen, können wir mit bloßem Auge erkennen. Der Einfluss der Biologie auf uns reicht aber weiter. Auch von diesem Eisberg sehen wir nur die Spitze. Das Werkzeug der Biologie aber sind die Gene. Wer so redet, bekommt heute schnell den Vorwurf zu hören, er oder sie sei ‚Biologist‘.“ (Meyer 2015, S.10)

Dieser Biologismus-Vorwurf scheint Meyer so tief getroffen, ja innerlich verletzt zu haben, daß er jetzt auf jede Art von Kritik reflexartig zurückkeilt und seine vermeintlichen Gegner mit Ismus-Etiketten versieht, indem er sie mal als „Kulturisten“ bezeichnet (vgl. Meyer 2015, S.356) und ihnen ein andermal „Genderismus“ vorwirft (vgl. Meyer 2015, S.362). Das erinnert ein wenig an das Verhalten von Schülern auf dem Pausenhof.

Auf die Gründe für das negative Image, das die Biologie lange Zeit gehabt hat, geht Meyer überhaupt nicht ein. An einer Stelle verweist er auf den „Sozialdarwinismus“ und distanziert sich dabei von der Sichtweise, daß die „Natur“, in diesem Fall also das sogenannte ‚egoistische‘ Gen, irgendwelche Ziele verfolgen könnte: „Denn Evolution ist nicht ‚(T)rial and Error‘, also Versuch und Irrtum, sondern umgekehrt: Zuerst kommt der ‚Fehler‘, also Mutation und Sex, und dann werden diese Varianten von der Evolution ausprobiert – also ‚Error und Trial‘.“ (Meyer 2015, S.102f.) – An einer anderen Stelle erwähnt Axel Meyer die Soziobiologie, allerdings nur, um damit die ideologische Voreingenommenheit der Studentenbewegung zu belegen, die in der „Mitte der 1970er Jahre“ die Durchführung einer ernsthaften wissenschaftlichen Studie im Bereich der Soziobiologie verhindert hatte. (Vgl. Meyer 2015, S.158)

Auf eine tatsächliche historische Vorbelastung der Biologie durch inhumane Theorien und Praktiken geht Meyer an keiner Stelle ein. Den Behaviorismus und die enge Verbindung zwischen Biologie und Psychologie erwähnt Meyer mit keinem Wort. Anders als de Waal, der in seinem Buch „Das Prinzip Empathie“ (2011/2009) ebenfalls auf die verbreitete Biologie-Feindlichkeit in den 1970er und 1980er Jahren in der Öffentlichkeit eingeht und dafür Verständnis zeigt:
„Eine bestimmte Art von Tierstudien hat übrigens einen enormen, ganz konkreten Einfluss auf den Umgang von Menschen untereinander gehabt. Vor hundert Jahren hielt man sich in Findel- und Waisenhäusern an die Ratschläge einer psychologischen Schule, die nach meiner Meinung mehr Unheil angerichtet hat als irgendeine andere: Die Rede ist vom Behaviorismus. Der Name bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass Verhalten – behavior – alles ist, was wissenschaftlich gesehen und erkannt werden kann, und dass wir uns deshalb um mehr nicht zu kümmern bräuchten. Der Geist, so es ihn denn geben sollte, bleibt eine Blackbox. Emotionen sind weitgehend bedeutungslos. Diese Einstellung tabuisierte das Innenleben von Tieren: Es galt, Tiere als Maschinen zu beschreiben, und Forscher, die sich mit Tierverhalten beschäftigen, mussten eine Terminologie entwickeln, die bar aller menschlichen Konnotationen war.“ (De Waal 2011, S.24)
Mit dem Hinweis auf die Findel- und Waisenhäuser spricht de Waal den „Hospitalismus“ an: die Pflegerinnen waren gehalten, die Kinder nur zu füttern und jeden Sozialkontakt mit ihnen zu vermeiden. Das führte zur Hospitalisierung der Kinder, d.h. sie entwickelten sich nicht, sondern verharrten in Apathie, die sich u.a. in einem rhythmischen Hin- und Herwackeln mit dem Kopf äußerte.

Axel Meyer verweigert sich einer solchen, durch historische Rückblicke geschärften Selbstkritik. Stattdessen erweitert er seine Kritik am ‚Genderismus‘, indem er sie anläßlich eines Besuchs von Judith Butler in Berlin (vgl. Meyer 2015, S.356f.) auch auf die Geisteswissenschaften überträgt. Die Genderstudies stehen dabei, wenn ich das richtig sehe, pars pro toto für die Geisteswissenschaften; denn Meyer geht im Anschluß an seine Ausführungen zu „Judith Butler & Co“ nahtlos zu einer – wieder sehr polemisch gehaltenen – Kritik der Geisteswissenschaften über. (Vgl. Meyer 2015, S.358ff.)

Die Polemik schadet dem sachlichen Gehalt von Meyers Kritik an den Genderstudies bzw. dem „Gendermainstream“ (Meyer 2015, S.345f.). Wenn er die politische Inkorrektheit seiner eigenen ideologischen Unvoreingenommenheit wie eine Monstranz vor sich herträgt (vgl. Meyer 2015, S.253), wird die Spitze gegen den Gendermainstream, der mittels Sprachregelungen das Denken in der Öffentlichkeit zu kontrollieren versucht – die „Jüngerinnen von Judith Butler & Co.“ versuchen, so Meyer, „per Dekret auch die Sprache zu verändern“ (vgl. Meyer 2015, S.360) –, unglaubwürdig.

Dabei ist es meiner Ansicht nach durchaus sinnvoll, zwischen wissenschaftlich ernstzunehmenden Versuchen einer biologischen Geschlechtsbestimmung und ideologisch befrachteten, kulturellen Genderpraktiken zu unterscheiden:
„In der Genderforschung gibt es starke Tendenzen zu behaupten, dass es biologisch determinierte Geschlechter sowie biologisch vorgegebene Geschlechterrollen gar nicht gibt, sondern dass dies alles nur ein Produkt kultureller Einflüsse sei. In der extremsten Version dieser Sicht auf die Welt wird reklamiert, dass Menschen als ursprünglich ‚genderneutrale‘ Wesen in kulturell vorgeformte Normen gepresst würden und sich erst auf diese Weise ‚Genderidentitäten‘ herausbildeten.“ (Meyer 2015, S.292)
Das Spektrum der Geschlechtervarietät, das mit dem Gender-Begriff eröffnet wird, reicht – neben der sexuellen Dichotomie von Mann und Frau – von etwa sieben verschiedenen Geschlechtskategorien, dem LGBTQIA (Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender) (vgl. Meyer 2015, S.S.169f.), bis hin zu insgesamt 58 ‚Geschlechtern‘, zwischen denen Nutzer von Facebook bei der Anmeldung wählen können (vgl. Meyer 2015, S.346). Meyer beschreibt die Anti-Diskriminierungspropaganda, die mit dieser ausufernden Geschlechterdifferenzierung einhergeht, als eine Art Luxusproblem:
„... es geht den meisten von uns so gut, dass wir die Muße haben, uns darüber Gedanken zu machen, dass wir es uns nicht aussuchen konnten, mit welchem Geschlecht wir geboren wurden. So viel Nabelschau können sich nur wenige Gesellschaften leisten, in vielen Teilen der Welt geht es immer noch darum, hungrige Mäuler zu füttern.“ (Meyer 2015, S.372)
Dabei gesteht Meyer den betroffenen Menschen durchaus zu, daß sie unter ihrer sexuellen Diffusion leiden, weil sie mit den auf der sexuellen Differenz von Mann und Frau basierenden, gesellschaftlich anerkannten Lebensentwürfen nichts anfangen können. (Vgl. Meyer 2015, S.347) Aber die Gesellschaft kann nicht jeder noch so kleinen ‚Minderheit‘ – es wäre durchaus vorstellbar, die erwähnten 58 Geschlechtsidentitäten so zu erweitern, daß jedes Individuum von einer eigenen ‚Kategorie‘ erfaßt wird – ‚Gerechtigkeit‘ widerfahren lassen. Es gibt auch so etwas wie einen Anspruch an das Individuum selbst, daß es sein Leben ‚führt‘, d.h. es in die eigene Hand nimmt und daraus etwas zu machen versucht. Der Unterschied zwischen Mann und Frau ist nun mal der offensichtlichste Unterschied zwischen den Menschen (vgl. Meyer 2015, S.13), und er ist ebenso offensichtlich biologisch: „Man muss sich nur nachdrücklich in Erinnerung rufen, was sich aus unserer evolutionsbiologischen Geschichte und derjenigen von Millionen anderer Arten von Lebewesen eindeutig schließen lässt: nämlich dass es diese beiden Kategorien – männlich und weiblich – nun einmal gibt. So ist es, lebt damit!“ (S.357f.)

Dabei ist es aber wiederum interessant, daß selbst dieser biologische Unterschied noch Differenzierungen zuläßt. Interessanterweise macht Meyer nämlich den Unterschied zwischen Mann und Frau weder an den primären Geschlechtsorganen noch an der chromosomalen Geschlechtsidentität fest, sondern an der Größe der Keimzellen (Gameten): „Generell basiert die Definition des biologischen Geschlechts auf der Größe der Gameten, der Geschlechtszellen.“ (Meyer 2015, S.84f.)

Tatsächlich kommt es nämlich immer wieder vor, daß Männer mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen und Frauen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren werden. (Vgl. Meyer 2015, S.170ff.) Auch chromosomal läßt sich das Geschlecht nicht immer durch das X-Chromosom oder durch das Y-Chromosom eindeutig bestimmen (vgl. Meyer 2015, S.152-165), weil es z.B. das männliche Geschlecht bestimmende Gene nicht nur auf dem Y-Chromosom, sondern auch auf dem X-Chromosom gibt und weil das Männlichkeitsgen schlechthin, das SRY-Gen, das sich auf dem Y-Chromosom befindet, durch Crossing Over auch mal auf das X-Chromosom überwechseln kann (vgl. Meyer 2015, S.137f.).

Tatsächlich scheint also das Vorhandensein von Eizellen das einzige einigermaßen sichere Kriterium zu sein, um das Geschlecht eindeutig zu bestimmen, und diese sind 85.000-mal größer als die Samenzellen. (Vgl. Meyer 2015, S.85)

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2 Kommentare:

  1. Kommen daher auch Hermaphroditen? Wir hatten in der Schule zwar das Crossing-Over, aber dass sich dadurch auch Gene vom Y-Chromosom auf ein X-Chromosom übertragen können, haben wir eher nicht diskutiert.

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    1. Irgendwo im Buch ist auch von Hermaphroditen die Rede. Aber ausgerechnet die Stelle habe ich mir nicht eigens notiert, und jetzt finde ich die nicht wieder. Für das SRY-Gen, dem Männlichkeitsgen, macht es jedenfalls keinen Unterschied, ob es sich auf dem Y- oder auf dem X-Chromosom befindet. Es bestimmt auf jeden Fall, daß aus dem Embryo ein Mann wird. Zumindestens vorläufig, unabhängig davon, ob sich der spätere Mensch nun damit einverstanden zeigt oder nicht.

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