„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 2. Dezember 2015

Bildungs- und Kompetenzbegriff der ersten PISA-Studie

1. Basiskompetenzen versus vollständige Menschenbildung
2. Das Exemplarische und die Bildungsstandards
3. Gefühlte Kompetenz

In der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wurde in den 1950er Jahren ebenfalls nach einer Methode gesucht, den Schulunterricht so zu gestalten, daß sich das individuelle Potential der einzelnen Schüler bestmöglich entfalten konnte. Die damalige Antwort auf diese Frage war das Exemplarische, das dem heutigen Begriff des Bildungsstandards entspricht, sich aber auf bezeichnende Weise von ihm unterscheidet. Das Exemplarische bildete den geisteswissenschaftlichen Versuch, die Erkenntnis- und Umgangsdimensionen des individuellen Weltverhältnisses in umfassender Weise zu erweitern.

Der Versuch, exemplarische Lerngegenstände zu bestimmen, die in besonderer Weise dazu geeignet erschienen, das Mensch-Weltverhältnis zu entfalten und zu erweitern, war mit einer Debatte zur Reduzierung der Stoffülle verbunden. In diesem Sinne haben wir es mit einer Input-Orientierung des Schulunterrichts zu tun, die das exemplarische Möglichkeitsfeld abstecken sollte, innerhalb dessen, wie man damals hoffte, die Schüler ihre Lern- und Bildungspotentiale entdecken und realisieren konnten.

Im Unterschied zu dieser Input-Orientierung ist die von der ersten PISA-Studie (2001) angestoßene Diskussion um die Bildungsstandards output-orientiert. Die Frage ist hier aber, wie zwischen ‚Input‘ und ‚Output‘ zu differenzieren ist. Im Grunde kann ‚Input‘ gleichermaßen die Ebene der Schulfächer und ihrer Inhalte meinen (Kerncurriculum) wie die Ebene der Lern- und Bildungsziele, die sich auf der Lehrplanebene in den verschiedenen Kompetenzmodellen niederschlagen. Im letzteren Sinne, als Kompetenzmodelle, sind sie in genau dem Sinne ‚Input‘, als sie den Schulunterricht von Beginn an darauf festlegen, was die Schüler am Ende gelernt haben sollen. Lehrer wie Schüler haben sich an diesen Vorgaben zu orientieren: insofern also ‚input-orientiert‘.

Da wir es hier aber eben auch mit einer Vorwegnahme von Bildungszielen zu tun haben, sind die Bildungsstandards natürlich auch als ‚output‘-orientiert zu verstehen, – also als outputorientierter Input. Dieser ‚Output‘ macht sich, trotz seiner gelegentlichen Abmilderung zum ‚Outcome‘, letztlich vor allem daran fest, was am Ende einer Unterrichtsreihe oder einer Schullaufbahn in Tests und Prüfungen bei den Schülern als deren ‚Leistung‘ gemessen wird. Bildungsstandards sollen also irgendwie beides ermöglichen: einerseits den ‚Input‘ eines Kerncurriculums samt Kompetenzmodellen definieren und andererseits zugleich die Lernergebnisse und den Bildungserfolg der Schüler (Output) meßbar machen, also gleichzeitig Standards für die Qualität des Schulunterrichts und Kriterien für die Leistungsbewertung liefern.

Es stellt sich die Frage, ob die Schülerleistungen für diese umfassende Funktionalisierung zu das gesamte Schulsystem abbildenden Meßobjekten überhaupt taugen und ob man hier nicht noch einmal zwischen Bildungsstandards und Kriterien der Leistungsbewertung unterscheiden müßte. Der Begriff der ‚Bildung‘ bezieht sich primär auf das, was der einzelne Schüler für sich von den Angeboten des Schulunterrichts realisiert, und dies bleibt prinzipiell unbeobachtbar. Deshalb läßt sich die ‚Qualität‘ des Schulunterrichts nicht linear an den Schülerleistungen ablesen. Kerncurriculum und Schulkultur schlagen sich nicht einfach in den Schülerleistungen nieder, um dann als Fallout (Output) mit den geeigneten Meßtechniken nachgewiesen werden zu können.

Wir haben es beim Curriculum einer Schule notwendigerweise mit einer Input-Orientierung, nämlich mit Angeboten der jeweiligen Schule zu tun, deren Qualität eigentlich an der Zufriedenheit der Kunden, also der Schüler gemessen werden müßte. Stattdessen werden diese ‚Kunden‘ nun aber selbst zu ‚Produkten‘, denen gegenüber jetzt die ‚Gesellschaft‘ als der eigentliche Kunde auftritt, der der Schule diese ‚Produkte‘ abnimmt und diese – z.B. mittels Qualitätstests am einzelnen Schüler – als mehr oder weniger brauchbar oder unbrauchbar für die Zwecke der gesellschaftlichen Reproduktion befindet. Wenn also von einer Output-Orientierung des Schulunterrichts die Rede ist – pädagogisch abgemildert als mehr den Prozeßaspekt hervorhebenden ‚outcome‘ –, so geht es nicht in erster Linie um den Output für den Schüler, sondern für die Gesellschaft.

Auch dieser Sachverhalt spricht dafür, statt von ‚Bildungsstandards‘ besser von ‚Leistungskriterien‘ zu sprechen: Leistungskriterien richten sich im ganz offen funktionalen Sinne auf die gesellschaftlichen und beruflichen Anschlußfähigkeiten der Schüler. Dieser Funktionalismus der Leistungskriterien kommt objektiv in den administrativen Strukturen des Schulunterrichts wie z.B. in Lehrplänen und Prüfungsordnungen zum Ausdruck. Er hat aber auch eine subjektive Dimension hinsichtlich der Verfügungsinteressen der Lernsubjekte. Die Lernsubjekte bewerten die Qualität des Schulunterrichts hinsichtlich ihrer ‚Anwendbarkeit‘ im Rahmen ihrer eigenen Lebenswelt und hinsichtlich ihrer persönlichen Karrierewünsche.

Beide Leistungserwartungen, objektive wie subjektive, können und müssen kommunikativ aufeinander bezogen und diskursiv miteinander vermittelt werden. Das ändert zwar nichts an ihrem funktionalen Charakter, eröffnet aber im Sinne Klafkis eine emanzipatorisch-kommunikative Perspektive gemeinsamer Bedürfnis- und Interessenkoordination und ihrer Kontrolle.

Quer zu diesem kontrollierten Anschluß- und Anwendungsfunktionalismus steht die Umgangsdimension des Schulunterrichts, in der sich die Bildungsperspektive einer gemeinsamen Zweck-Mittelbestimmung eröffnet, die sich an den Zwecken von Lehrern und Schülern begrenzt. Diese Dimension ist nicht noch einmal im Sinne einer funktionalen Leistungsbewertung einholbar. Nur das schulische und unterrichtliche Möglichkeitsfeld der Umgangsdimension läßt sich standardisieren, nicht aber ihre Realisierung durch die Schüler.

Wollen wir also weiterhin von Bildungsstandards reden, so müssen sie dem am fachlichen Gegenstand (Kerncurriculum) sich messenden individuellen Verstand und den im Umgang (Schulklasse und Schulgemeinschaft) sich entwickelnden sozialen Kompetenzen der Schüler eine Chance geben, und sie müssen zugleich den Schulunterricht in seiner Bewertungs- und Selektionsfunktion begrenzen. Bildungsstandards unterscheiden sich dann als paradoxe Struktur von Kriterien der Leistungsbewertung, weil sie als Standards zur Begrenzung der funktionalen Leistungsbewertung aufgefaßt würden. Salopp formuliert: Bildungsstandards wären dann Standards zur Begrenzung von Standards.

Der Bewertungsanspruch von so verstandenen Bildungsstandards richtet sich weder auf den Lehrer noch auf die Schüler in ihren wechselseitigen Erwartungshaltungen, sondern auf den Schulunterricht als Institution. In diesem Sinne bewerten sie seine Qualität als einen Erfahrungsraum, in dem die Schüler ihre individuellen Perspektiven auf Lerngegenstände und Mitschüler entwickeln, differenzieren und ausleben können. In dieser Funktion würden die Bildungsstandards dem Exemplarischen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik entsprechen, ohne dabei auf einen materialen Kanon von Bildungsinhalten festgelegt zu sein. Da die exemplarische Wirkung in der Initiative des Lernsubjekts liegt, verbietet es sich, sie auf die Leistungen im jeweiligen Fachunterricht zu übertragen, als ginge es um ihre kontrollierte ‚Umsetzung‘ wie bei Leistungskriterien.

Wenn wir Bildungsstandards als paradoxe Struktur verstehen, als Standards zur Begrenzung von Standards, kann der Schulunterricht wieder seinem eigentlichen pädagogischen Auftrag gerecht werden und seinen Beitrag zur Entwicklung und Entfaltung des individuellen Potentials der Schüler leisten.

(Literatur: Detlef Zöllner, Lernen und Leistung. Zur Intentionalitätsstruktur von Schule und Unterricht. Überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner Habilitationsschrift, Norderstedt/Leipzig 2006)

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