„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 17. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Ein Kritikpunkt Dammers gegen den Positivismus von Karl Popper (1902-1994) besteht darin, daß ihm „ein auf die Gesellschaft als ganze angewandter Vernunftbegriff“ fehlt. (Vgl. Dammer 2015, S.55) Daß es dabei nicht nur um eine ‚Vernunft‘ geht, die das gesellschaftliche Moment der menschlichen Existenz in ihre Reflexion mit einbezieht, sondern um eine mit einer eigenen Vernunft ausgestattete Gesellschaft, wird an Dammers Bemerkung zur Notwendigkeit einer „Erkenntnis gesellschaftlicher Wahrheit“ deutlich. Nur wenn man sich im Besitz einer „Idee einer wahren Gesellschaft“ befinde, würden auch die „wesentliche(n) Strukturmomente der Gesellschaft“ thematisierbar, wie Dammer mit Verweis auf Adorno (1903-1969) festhält. (Vgl. ebenda)

Ich habe ein Problem damit, der Gesellschaft eine Vernunft zuzusprechen. Wir geraten damit genau in die Problematik, die Dammer – nicht ganz zu Unrecht – der geisteswissenschaftlichen Pädagogik vorwirft: „Wesensbeschreibungen“ Vorrang gegenüber der „Erforschung der Wirklichkeit“ zu geben. (Vgl. Dammer 2015, S.87) Wenn von ‚Vernunft‘ die Rede ist, frage ich mich immer nach dem materiellen Träger dieser Vernunft. Und mit ‚materiell‘ meine ich nicht die marxistische Verhältnisbestimmung von Gesellschaft und Ökonomie. Ich meine vielmehr den materiellen ‚Körper‘, über den ein individuelles Subjekt in ein exzentrischen Verhältnis zu sich und zur Welt treten kann und den Helmuth Plessner als „Körperleib“ bezeichnet. (Vgl. meine Posts vom 14.07.2010 und vom 08.02.2011)

In einem Post zu Jan Assmann (vom 04.02.2011) hatte ich in Erwägung gezogen, daß die Gesellschaft in dem Moment, als sie von der Mündlichkeit zur Schrift überwechselte, in ein exzentrisches Verhältnis zu sich selbst getreten sei. Die Schrift wurde nun zum ‚Körperleib‘, zur materiellen Basis der Gesellschaft. Von da an wäre die Gesellschaft tatsächlich vernunftsfähig geworden.

Aber das ist nur ein sekundäres Vernunftsverhältnis. Das primäre Vernunftsverhältnis besteht in den Individuen, die diese Schriften lesen und über die die exzentrische Positionalität einer Gesellschaft vermittelt ist. Und schon auf die Individuen selbst ist der Wahrheitsbegriff nicht anwendbar. Denn die exzentrische Positionalität des Menschen macht Authentizität und einen naiven Wahrheitsbegriff – ist ‚Wahrheit‘ nicht immer naiv? – fragwürdig. Der Mensch befindet sich nur noch auf vermittelte Weise in seiner ‚Mitte‘, und letztlich weiß er nicht einmal mit völliger Gewißheit, „ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt“. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.298f.; vgl. auch meinen Post vom 28.10.2010)

Wir sollten also generell Begriffe wie ‚wahre Idee‘ und ‚wahres Wesen‘ vermeiden, wenn wir vom Menschen sprechen. Und natürlich sprechen wir immer von Menschen, wenn wir von der ‚Gesellschaft‘ sprechen. Denn die Gesellschaft besteht – anders als Luhmann meinte – aus Menschen.

An einer Stelle deutet Dammer, wiederum mit Verweis auf Adorno, an, was er meint, wenn er von gesellschaftlicher ‚Vernunft‘ spricht. ‚Unwahr‘ ist demnach eine Gesellschaft, „die Individualität postuliert, aber ihre Entfaltung einschränkt“. (Vgl. Dammer 2015, S.56) Wenn wir diese Stelle so verstehen dürfen, daß wir es hier nicht allgemein mit Widerspruchsfreiheit zu tun haben – in dem Sinne, daß eine Gesellschaft immer dann ‚wahr‘ ist, wenn sie sich nicht mit sich selbst im Widerspruch befindet (gleichgültig um welche Postulate es sich dabei handeln mag) –, sondern daß es in der Gesellschaft essentiell um ihr Verhältnis zu den Individuen geht, dann könnte man tatsächlich zwischen ‚vernünftigen‘ und ‚unvernünftigen‘ Gesellschaftsformen unterscheiden. Bei einer solchen Verhältnisbestimmung ginge es insbesondere um die „phronesis“ (Urteilskraft), die Dammer als eine „innere und äußere Freiheit“ beschreibt, den eigenen individuellen Verstand so zu gebrauchen, daß er sich durch „keine äußeren Zwecke“ bestimmen läßt „außer dem prinzipiellen des gelingenden Zusammenlebens“. (Vgl. Dammer 2015, S.40) Eine schönere Formulierung für das „sapere aude“ Immanuel Kants ist wohl kaum vorstellbar.

In vernünftigen Gesellschaftsformen dürfte die gesellschaftliche Praxis nicht durch eine bestimmte Praxisform dominiert werden, wie wir das heute kennen, wo die Ökonomie alle anderen Gesellschaftsbereiche dominiert und im Habermasschen Sinne kolonialisiert. In früheren Zeiten war es die Religion, die als dogmatische Gesamtpraxis alle anderen gesellschaftlichen Teilpraxen dominierte. In solchen Gesellschaftsformen haben die Individuen kaum eine Chance, sich im Plessnerschen Sinne auszuprobieren und sich in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Vielfalt zu bilden, wie es sich Wilhelm von Humboldt vorgestellt hatte. (Vgl. hierzu meine Posts vom 16.11.2010 und vom 04.09.2013) Gesellschaftliche Vielfalt wäre also eine notwendige Voraussetzung für individuelle Bildung und Selbstverwirklichung.

Dammers Kritik an Poppers „Stückwerk-Perspektive“ (Dammer 2015, S.56) geht also fehl. Nur das Stückwerk, das Fragment entspricht der individuellen Begrenztheit und Endlichkeit. Wir haben es hier mit einem anthropologischen Moment der menschlichen Existenz zu tun, auf deren ‚Grenze‘ wir uns zwar bewegen können, die wir aber nicht überschreiten können; schon gar nicht im Sinne eines technologisch induzierten Fortschritts in Richtung auf eine Verbesserung (enhancement) des Menschen. Alle gesellschaftlichen Maßnahmen bleiben darauf bezogen immer nur Stückwerk.

Übrigens bildet auch die Wissenschaft so eine gesellschaftliche Teilpraxis, die sich in einem besonderen Verhältnis zu allen anderen Praxisbereichen befindet. Legt sie dieses Verhältnis nicht technologisch aus und ordnet sie sich dabei auch nicht den ökonomischen Imperativen unter, sondern versteht sie es als ein Verantwortungs- und Reflexionsverhältnis, dann hätten wir es mit einer transdisziplinären Praxis zu tun. Und welche Disziplin könnte in dieser Hinsicht mehr Verantwortung haben als die Erziehungswissenschaft?

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

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