„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 26. März 2016

Düzen Tekkal, Deutschland ist bedroht. Warum wir unsere Werte verteidigen müssen, Berlin 2016

(Berlin Verlag, 16.99 €, Klappbroschur, 224 S.)

1. Wo stehst du?
2. Lügenpresse
3. Alternativlosigkeiten
4. Wir und Ihr
5. Werte

Düzen Tekkal blickt mich vom Cover ihres Buches „Deutschland ist bedroht“ (2016) auf schwer zu bestimmende Weise an. Ein skeptischer Blick wird von der Andeutung eines verhaltenen Lächelns begleitet. Ich fühle mich auf die Probe gestellt. Wo bzw. wofür stehst du? – Diese Frage am Anfang und am Ende ihres Buches hält Tekkal für wichtiger als die Frage nach der Herkunft, die sie als Tochter aus einer jesidischen Gastarbeiterfamilie als Mißachtung ihrer Person empfindet. (Vgl. Tekkal 2016, S.42 und S.219) Zu Beginn, als ich das Buch zum ersten Mal in die Hand nehme, empfinde ich vor allem die Skepsis ihres Blicks, und ich frage mich, auf welcher Seite stehend ich mich wohl beim Lesen vorfinden werde. Schon bald aber, schon nach wenigen Seiten, als ich wieder einen Blick auf das Coverportrait werfe, hat sich die Skepsis der Autorin in ein Lächeln verwandelt. Ich bin erleichtert. Ich stehe auf der richtigen Seite.

Ich hatte in den letzten Jahren nur wenige Bücher in der Hand, die in einem so guten, klaren, fehlerfreien Deutsch geschrieben sind wie das von Düzen Tekkal. Die meisten Bücher sind heute schlecht lektoriert und redigiert, wimmeln von Druckfehlern und, schlimmer noch, von grammatischen Schlampereien. In Tekkals Buch habe ich nur einen einzigen Fehler gefunden – und ich bin ein aufmerksamer Leser – und das auch nur, weil ich immer die wichtigsten Stellen herausschreibe, um mir für meine Rezension eine Sammlung von Zitaten zusammenzustellen, was bedeutet, daß ich Bücher immer zweimal lese.

Tekkals Sprache ist klar, ungekünstelt und direkt und trifft mitten ins Herz. Die unglaublichen Greueltaten des IS, über die sie zu berichten weiß, werden in einem sachlichen Ton wiedergegeben. Zugleich hält sie mit ihren Emotionen nicht hinterm Berg. Aber immer weiß man genau, wann sie über aktuelle Ereignisse berichtet und wann sie ihre Gefühle zu Wort kommen läßt. Die Autorin ist eine Journalistin, die weiß, wie man beides auseinanderhält und dafür sorgt, daß beides so zur Sprache kommt, daß es sich gegenseitig nicht beeinträchtigt.

„Krieg macht ehrlich“ (Tekkal 2016, S.55), diese Erkenntnis ist das Leitmotiv ihres Buches, und sie kann eigentlich niemanden, der es liest, unberührt lassen. Deutschland befindet sich Tekkal zufolge nach 70 Jahren wieder im Krieg. Und zwar nicht wegen der stets präsenten Gefahr von Terroranschlägen, sondern wegen der deutschen jungen Männer, die an der Seite der IS-Kämpfer in den Kampf ziehen, und es sind viele, viele andere junge Männer und junge Frauen, die in Deutschland bleiben und sich in den sozialen Netzwerken von der islamistischen Haßpropaganda beeinflussen lassen: „Die Kinder, Jugendlichen und Männer, die Mädchen und Frauen aus Deutschland, die sich dem IS anschließen, wurden auch in Deutschland sozialisiert. Inzwischen sind es fast tausend, die diesen Weg gegangen sind, darunter ungefähr hundert meist noch sehr junge Frauen. In Syrien und Irak findet also auch ein deutscher Krieg statt.“ (Tekkal 2016, S.68)

Aber tatsächlich ist es nicht dieser Krieg, der Deutschland bedroht, sondern es sind ‚die‘ Deutschen selbst – die Frage, inwieweit ‚wir‘ noch von ‚den‘ Deutschen reden können, soll in einem späteren Post erörtert werden –, denn der fundamental-islamistische Terror hat einen „bösen Zwilling“, die organisierten Neonazis, Pegida und die AFD, und all diejenigen, „die unsere demokratischen Werte nicht akzeptieren und dagegen öffentlich Propaganda machen“ (vgl. Tekkal 2016, S.58), nicht selten, wie Pegida und AFD, gerade im Namen dieser Werte, für die sie angeblich auf die Straße gehen bzw. ihre ‚alternative‘ Politik propagieren. Nicht zu vergessen all jene braven, ‚unpolitischen‘ Mitbürger, die für alle Mißstände gerne ‚der Politik‘ die Schuld geben und „meckern, wenn es nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen“. (Vgl. Tekkal 2016, S.12) – Dabei wird dann unreflektiert das ganze demokratische ‚System‘ mit seinen repräsentativen Strukturen in Frage gestellt. Das trägt zu einem wachsenden Mißtrauen und einer sich ausbreitenden allgemeinen Gesprächsverweigerung bei, die das wechselseitige Zuhören und Ernstnehmen – unverzichtbare Voraussetzungen einer demokratischen Kultur – zu einer Seltenheit werden lassen.

Die Kritik ist oft genug berechtigt. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir die Freiheit haben, sie zu äußern. Und wir haben auch die Freiheit, uns politisch zu engagieren. Diese Freiheit darf nicht so weit gehen, daß wir uns selbst der Grundlagen unserer Freiheit berauben. Und diese Grundlagen sind es, die Düzen Tekkal verteidigt wissen will.

An ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte ihrer jesidischen Familie und Herkunft hält Düzen Tekkal ihren Lesern den Spiegel vor, den Spiegel einer Liebe zu einem Deutschland, in dem sie aufgewachsen ist und das ihr alle Chancen gegeben hat, die sie bereitwillig und kämpferisch nutzte, – auch gegen ihre Herkunft, zu der sie sich heute bekennt und auf die sie wieder stolz ist. Dieses Deutschland, das sie im Grundgesetz verkörpert sieht, hat ihre Familie befreit und hat ihr dabei geholfen, sich wiederum von ihrer Familie zu befreien, so daß sie heute beides zugleich sein kann, deutsch und jesidisch. Vor allem nachdem sie sich aufgrund eines Telephonanrufs im August 2014, einem Hilferuf von unbekannten Menschen aus dem Nordirak, auf den Weg machte, um verzweifelten, von einem Völkermord bedrohten Jesiden eine Stimme zu geben. (Vgl. Tekkal 2016, S.18)

Ich gestehe, daß mir die Tränen kamen, als ich las, was sie dort erlebte. Als Deutscher habe ich es gelernt, einer bestimmten Art des Grauens ins Gesicht zu sehen. Der Holocaust, der das Erbe jedes deutschen Staates nach 1945 bildet, hat uns in gewisser Weise darin geschult, das Schlimmste für möglich zu halten, und zwar nicht irgendwo in der Ferne, zum Beispiel der Türkei, wie Tekkal aus dem Osterspaziergang von Goethes Faust zitiert, sondern im Herzen unseres eigenen Landes. Aber das ist eine maschinelle Art von Grausamkeit, auf industrielle Weise ausgeführt. Das schafft Anonymität auf beiden Seiten, sowohl der Opfer wie der Täter. Und ich habe auch gelernt, daß es gerade diese Anonymität ist, die den Opfern das größte Unrecht antut, weil sie sie ihrer Individualität beraubt. – Aber das sind alles nur Worthülsen.

Die Grausamkeiten des IS sind ganz und gar nicht anonym. Diese Grausamkeiten sind persönlich und direkt und trotzdem nicht weniger perfide und unerträglich wie die Duschen der Vernichtungslager, von denen ich gelernt habe, daß sie keine Vergleiche zulassen. Und Vergleiche will ich hier auch nicht ziehen. Ich will nicht Gewalt mit Gewalt und Leid mit Leid gegeneinander aufrechnen. Aber an die eine Form der Gewalt habe ich mich gewöhnt; sie ist Geschichte. Doch fällt es mir schwer, dort hinzusehen, worauf Düzen Tekkals Worte deutlich genug hinzeigen, wenn sie von den Erfahrungen jesidischer Frauen mit dem IS berichtet:
„Erst jetzt, viele Monate später, da die überlebenden Frauen zu sprechen beginnen, zeigt sich das ganze Ausmaß der Gewalt: Ich sprach mit einem Geschwisterpaar, das in die Fänge des IS geraten war. Die ältere Schwester war gerade 18 und bot sich selbst den Terroristen an, damit ihre jüngere, neun Jahre alte Schwester verschont würde. Viele jesidische Frauen nahmen das Leid lieber selbst auf sich als zu erleben, dass es ihren Glaubensschwestern widerfährt. Eine jesidische Frau, die inzwischen Asyl in Deutschland bekommen hat und psychologisch betreut wird, verlor durch den IS ihre gesamte Familie. Ihr Mann wurde ermordet, ihre beiden Söhne wurden vom IS zu Kindersoldaten gemacht. Man drillt die Kinder darauf, gegen ihre eigenen Familien zu kämpfen. Ihre beiden Töchter wurden versklavt. Mit dem Säugling konnten die Männer des IS nichts anfangen; sie brachen ihm vor den Augen der Mutter das Genick. Seither wird die Frau von diesem Bild verfolgt, sie wird es nicht mehr los.“ (Tekkal 2016, S.26)
Das Erstaunlichste ist für mich, daß aus vielen dieser Frauen Kämpferinnen wurden. Viele der Frauen, die aus der IS-Gefangenschaft befreit wurden, griffen zu den Waffen und zogen mit jesidischen und kurdischen Einheiten in den Kampf:
„Viele der eben erst aus der Gefangenschaft freigekommenen Frauen wollen an der Front ihre Ehre gegen den ‚Islamischen Staat‘ verteidigen. Das wundert die Welt, mich wundert es nicht. Diese Frauen wurden entführt, versklavt und verkauft, manchmal monatelang vergewaltigt. Nach ihrer Freilassung oder ihrem Freikauf haben sie sich Einheiten der kurdischen YPG, Peschmerga-Einheiten oder jesidischen Frauenbataillonen angeschlossen. Sie sagten: Wir wollen keine Opfer mehr sein.“ (Tekkal 2016, S.113)
Was Düzen Tekkal über die Bedrohung Deutschlands zu berichten weiß, hat mich tief bewegt, nicht zuletzt weil mich vieles an das Deutschland erinnert, in dem auch ich aufgewachsen bin und das ich nach vielen ideologischen Umwegen und persönlichen Ernüchterungen schließlich zu schätzen gelernt habe. Es war und ist kein perfektes Deutschland. Es war und ist keine perfekte Demokratie. Aber Perfektion ist nur eine andere Form von Unmenschlichkeit. Bleiben wir also menschlich und respektieren wir die Menschlichkeit unserer Mitmenschen. Das ist die Botschaft, die ich für mich persönlich Tekkals Buch entnehme, die ihre Hauptaufgabe als Journalistin darin sieht, die Menschen sprechen zu lassen, auch wenn das, was sie zu sagen haben, ihr nicht gefällt: „Mir war immer wichtig, Menschen sprechen zu lassen, statt über sie zu sprechen. Das sind für mich spannende Momente. Ich muss mit meinem Gesprächspartner nicht einer Meinung sein, aber es ist erhellend, was er erzählt.“ (Tekkal 2016, S.156)

Für diese einfache Menschlichkeit sieht sich die Autorin Todesdrohungen ausgesetzt. Sie wird für ihren Mut bewundert, wenn sie ihre Meinung äußert. Aber Düzen Tekkal will nicht mutig sein müssen, nur weil sie eine Selbstverständlichkeit in Anspruch nimmt. (Vgl. Tekkal 2016, S.172)

Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben.

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