„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 16. März 2016

Graham Harman, Die Rache der Oberfläche. Heidegger, McLuhan, Greenberg. Mit dem Essay ‚Rückschlag der Werkzeuge auf das Bewusstsein‘ (1989) von Vilém Flusser, Köln 2015

1. Kritik der Ontologie
2. Medien und Phänomene
3. Vilém Flusser: Rechnen contra Schauen

Graham Harman befaßt sich in seinem Vortrag nicht nur mit Martin Heidegger (1889-1976), sondern auch mit dem Medientheoretiker Marschall McLuhan (1911-1980) und mit dem Kunstkritiker Clement Greenberg (1909-1994). Dabei gibt es einiges über den Unterschied zwischen Medien und Phänomenen zu lernen. Allerdings muß man dazu zwischen den Zeilen lesen, denn Harman selbst macht diesen Unterschied nicht.

Ich selbst bin vor allem deshalb auf diesen Unterschied gestoßen, weil in Harmans Vortrag immer wieder vom ‚Inhalt‘ die Rede ist, ohne daß Harman es für nötig hält, zu erläutern, was genau damit gemeint ist. Dabei geht es immer wieder darum, daß der Inhalt etwas ist, was die „Denker der Tiefe“ wie Heidegger, McLuhan und Greenberg ablehnen: „Greenberg ist nicht weniger als Heidegger und McLuhan ein Denker der Tiefe – im Gegensatz zu den angeblichen Bewunderern der Oberflächlichkeit, die den Inhalt der Erfahrung stets zu ernst nehmen.“ (Harman 2015, S.5)

Der Inhalt scheint also etwas zu sein, das zur Oberfläche der Welt gehört, also so etwas wie ein Phänomen. So ist in Harmans Vortrag nicht nur von einer „Rache“ der Oberfläche die Rede, sondern auch von einer „Rache“ des Inhalts: „Der Anschlag dieser unterschiedlichen Denker auf den Inhalt misslingt. Der Inhalt rächt sich an uns und wird zum unerwarteten Schwerpunkt eines kommenden Denkens.“ (Harman 2015, S.7)

Bei Greenberg geht es darum, daß er Kunst darauf reduziert, im Dienst der Leinwand zu stehen. Greenberg wendet sich gegen den „literarischen Inhalt der Malerei“ (Harman 2015, S.7). Damit ist die malerische Darstellung von Gegenständen und Szenerien gemeint, die Greenberg zufolge dazu verleiten, zu glauben, es gehe in der Malerei darum, etwas zu ‚erzählen‘. Tatsächlich sei es aber die Aufgabe der bildenden Kunst, auf die Leinwand als Medium der Malerei zu verweisen: „Das Ziel der Malerei in der Moderne ist weniger dieses oder jenes darzustellen, als die formellen Möglichkeiten der flachen Leinwand in Angriff zu nehmen.“ (Harman 2015, S.19) – Ganz ähnlich bei McLuhan. Sein Ausspruch „Das Medium ist die Botschaft!“ ist bekannt. Auch McLuhan glaubt, „dass der Inhalt eines jeden Mediums bedeutungslos ist im Vergleich zu seinem tiefen und unsichtbaren Hintergrund“. (Vgl. Harman 2015, S.6)

Eine ähnliche Verhältnisbestimmung von Medium und Botschaft finden wir übrigens auch in Hans Blumenbergs „Höhlenausgänge“ (1989), doch ist Blumenbergs Ansatz nicht affirmativ, sondern medienkritisch. ‚Medien‘ sind bei Blumenberg ‚Höhlen‘, und die Aufgabe von Erzählungen (Inhalten) besteht darin, die Höhlenbewohner über ihre Situation aufzuklären. Indem Höhlenbewohner einander Geschichten über Höhlenbewohner erzählen (und sich so auf die ‚Leinwand‘ bzw. das Medium aufmerksam machen), befinden sie sich auf der Schwelle zum Höhlenausgang. (Vgl. meinen Post vom 12.07.2012)

Mit McLuhans Bestimmung von Medien als einem „tiefen und unsichtbaren Hintergrund“ kommen wir zum eigentlichen, primär phänomenologisch und nicht ontologisch bestimmten Sachverhalt. Tatsächlich wird hier, wie schon bei Heidegger, die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem, zwischen Wesen und Schein, mit der phänomenologischen Differenz zwischen Vordergrund und Hintergrund vermengt. Das Medium wird als der wesentliche Hintergrund zur vordergründigen Botschaft verstanden. Das Medium ist der Teil der Botschaft, den wir nicht bemerken, wenn wir telephonieren – Hauptsache das Telephon funktioniert –; wenn wir fernsehen  – Hauptsache der Fernseher funktioniert –; wenn wir Auto fahren  – Hauptsache das Auto funktioniert – etc.

Wenn diese Medien aber nicht mehr funktionieren, dann drängen sie sich in den Vordergrund und werden plötzlich wichtiger als ihr ‚Inhalt‘. (Vgl. Harman 2015, S.10 und S.12f.) Dieses mediale Charakteristikum macht deutlich, daß wir es hier, wie schon bei Heideggers Zeuganalyse, im Husserlschen Sinne mit der Lebenswelt zu tun haben.

Die Medien drängen sich also immer dann aus dem Hintergrund in den Vordergrund, wenn sie nicht mehr funktionieren. McLuhan und Greenberg zufolge sind diese Medien aber immer wichtiger als der vordergründige Inhalt: „Von größerer Bedeutung ist die Tatsache, dass wir fernsehen statt Radio zu hören. Die Strukturen des Mediums selbst bilden, ganz unbemerkt, das Bewusstsein.“ (Harman 2015, S.6) – Schon Günther Anders hat in der „Antiquiertheit des Menschen“ (1956) ähnlich argumentiert. Aber auch dieser Sachverhalt, daß nämlich die Medien, die wir benutzen, unser Bewußtsein formen, verweist zunächst einmal nur auf ihren lebensweltlichen Charakter und nicht darauf, daß sie wichtiger sind als die Inhalte, die sie transportieren.

Das Problem ist bei diesen Denkern und auch bei Harman selbst, daß sie die Inhalte mit den Phänomenen gleichsetzen: Inhalt = bewußtes Erleben = Oberfläche. Das Wort ‚Inhalt‘ wird synonym zum Phänomenbegriff gebraucht. Tatsächlich ist der Inhalt aber kein Phänomen, das sich selbst ‚gibt‘; kein Gegenstand, der für sich selbst steht; sondern er ist immer nur Teil eines Mediums, eines Textes also oder eines Gerätes (Fernsehen, Radio) bzw. der Effekt eines Gerätes (Bilder, Filme), durch das er gegeben wird. Phänomene sind niemals bloß Bestandteile von Medien. Phänomene sind auch kein „Inhalt der Erfahrung“ (Harman 2015, S.5) bzw. des Bewußtseins, einfach weil unsere Erfahrung bzw. unser Bewußtsein kein Medium ist. Allerdings können Inhalte zu Phänomenen werden; nämlich immer dann, wenn wir einen Text lesen und ihn vor unserem inneren Auge erzeugen. In diesem Fall werden Inhalte zu Narrationen, zu inneren Phänomenen.

Der Inhalt ist also nicht der Vordergrund eines Hintergrunds, wie ein Phänomen, das wir vor einem gleichbleibenden Hintergrund – etwa einer Landschaft – oder vor einem wechselnden Hintergrund – etwa einem Wettrennen – fokussieren, sondern Bestandteil eines Mediums. Hintergründe haben selten nur einen einzigen Vordergrund. Erst wenn dies der Fall ist, wenn also der Vordergrund zur Botschaft wird, wird der Hintergrund zum Medium. Dann hat der Hintergrund keinen anderen Zweck, als eben diese Botschaft zu senden und nichts anderes.

Wenn wir es in diesem Sinne mit einem Inhalt zu tun haben, z.B. bei einem Text, bilden nicht etwa das Papier und die Tinte den Hintergrund des Textes, sondern der Text selbst, also die Botschaft, enthält wiederum Vordergründe und Hintergründe. Eine Narration, eine Geschichte, kann in sich wieder Verschachtelungen von Vorder- und Hintergründen enthalten. Aber es sind nicht das Papier und die Tinte, die den Hintergrund der Geschichte bilden. Sie bilden nur das Medium.

Weil auch Harman die sich selbst gebenden Phänomene mit den durch Medien vermittelten Inhalten verwechselt, verleiht er der „Mannigfaltigkeit der Welt“ eine zu große Bedeutung. Seiner Ansicht nach ist Heidegger zu sehr von der „holistischen Ganzheit“ der Welt und des Seins überzeugt. (Vgl. Harman 2015, S.11) Es gibt aber noch eine andere holistische Kontur in den Dingen dieser Welt selbst. Sie erscheinen uns nicht nur in mannigfaltiger Qualität, sondern auch als je individuelle Gestalt. ‚Inhalte‘ sind hingegen immer, wie wir gesehen haben, Bewußtseinsphänomene. Das heißt in diesem Fall, daß sie durch Medien vermittelt und durch das Bewußtsein rekonstruiert werden. Unser Leib ist aber kein Bewußtseinsphänomen; er ist real, ein Körperding, und unsere leibsinnlichen Wahrnehmungen ‚vermitteln‘ uns Phänomene, die sich selbst geben. Die sinnlichen Phänomene sind unsere Wahrnehmungen.

Sinnliche Phänomene sind deshalb stabiler als Bewußtseinsphänomene (Narrationen). Sie geben sich nicht nur, sondern als Außenwelt leisten sie auch unseren inneren Wahrnehmungen und Manipulationen Widerstand. Harman faßt diesen Widerstand als mangelnde „Übersetzbarkeit der Dinge“. (Vgl. Harman 2015, S.11) Er meint damit, daß sie sich dem Zugriff des Menschen entziehen. Zugleich wird dadurch aber die sinnliche Wahrnehmung auf Hermeneutik zurückgeführt, was eine qualitative Veränderung des phänomenalen Status der Dinge beinhaltet. ‚Übersetzung‘ impliziert eine ‚Mannigfaltigkeit‘ von möglichen Texten bzw. Inhalten, insofern wir sie verschieden verstehen und auffassen. Sinnliche Phänomene sind aber nicht in diesem Sinne mannigfaltig. Bei allen wechselnden Eigenschaften und Aspekten haben sie eine beständige Gestalt, die sich in der Zeit durchhält. In Bezug auf diese sinnlichen Phänomene gibt es keine Meinungsverschiedenheit.

Um die Beständigkeit der Gestalt zu gewährleistens bedarf es keines zugrundeliegenden verborgenen Wesens. Es bedarf dazu nichts als die sichtbare Gestalt selbst in ihrer Grundlosigkeit. Es gibt sogar eine Variante der Quantentheorie, die „shape dynamics“, die auf dieser Formbeständigkeit beruht. Auch Harman selbst verweist auf diesen Gestaltcharakter von Phänomenen, wenn er von dem Apfel spricht, den er „als Verdichtung aller wirbelnden und wandelnden Apfelerscheinungen“ beschreibt. (Vgl. Harman 2015, S.8)

Es ist genau diese zur sinnlichen Wahrnehmung gehörende „Verdichtung“, die das sinnliche Phänomen von den medial vermittelten Inhalten unterscheidet, zu deren Erschließung es einer eigenen hermeneutischen Anstrengung bedarf, ohne daß diese Erschließung jemals zu einem eindeutigen Ergebnis führen würde. Dennoch erheben sogar diese ‚Inhalte‘ einen Anspruch auf subjektive Verdichtung. Nicht nur bei der Gestalthaftigkeit unserer Wahrnehmungen, sondern auch bei unseren Narrationen geht es um etwas, das der von Harman abschätzig konnotierten „holistischen Ganzheit“ des Seins entspricht: um Sinn!
 PS: Nachdem ich in die Lektüre von Harmans „Vierfaches Objekt“ (2015: VO) eingestiegen bin, stelle ich fest, daß ich ihn hinsichtlich seiner Kritik der holistischen Ganzheit des Seins bei Heidegger falsch verstanden habe. Tatsächlich überläßt er die sinnlichen Objekte nicht einer gestaltlosen Mannigfaltigkeit, sondern er spricht ihnen eine spezifische Einheit zu, die dem Wechsel der Qualitäten zugrundeliegt. Dabei verortet er die sinnlichen Objekte auf einer mittleren Ebene, die gegenüber den tiefer liegenden Bereichen der Atome und Elemente ihre eigene Autonomie hat. (Vgl. VO, S.23) Diese mittlere Ebene ist die Ebene unserer Wahrnehmungen, also alles, was im Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung liegt. Diese „mittlere Schicht autonomer Objekte“ (ebenda) läßt sich nicht einfach atomar rekonstruieren. Sie ist unabhängig von ihren physischen und chemischen Eigenschaften. Mit anderen Worten: Was ich ‚Gestalt‘ nenne, hat bei Harman eine eigene ontologische Würde; und darin stimme ich mit ihm überein, wobei ich allerdings eine phänomenologische Begrifflichkeit bevorzuge. Außerdem schränkt Harman an späterer Stelle den autonomen Status sinnlicher Phänomene wieder ein und reserviert ihn für seine ‚realen‘ Objekte, die sich jeder sinnlichen Präsenz verweigern. (Vgl. VO, S.156)
Jedenfalls werde ich meine in diesem Post geäußerte Kritik nicht korrigieren. Denn das Mißverständnis hat mich auf die Spur einer Differenz zwischen Phänomenen und Medien gebracht. Für Harman hat diese Differenz keine Relevanz, da er Inhalte und Phänomene als Synonyme verwendet. Er interessiert sich vor allem für die Differenz zwischen dem Sinnlichen und dem Realen, eine Differenz, die die Phänomenologie nicht akzeptiert. Hierin besteht der eigentliche Dissens zwischen Harman und mir.
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