„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 1. März 2016

Rüdiger Safranski, Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015

1. Phänomenologie und Zeit
2. Räumliche und zeitliche Grenzen
3. Zeiterleben als Apperzeption
4. Die ‚Zeit‘ der Gestaltwahrnehmung
5. Der kurze Weg der Technik

Kant zufolge ist die Zeit der innere Sinn. Die äußeren Sinne – wie etwa die klassischen fünf: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Getast – lassen sich an konkreten Sinnesorganen festmachen. Der innere ‚Sinn‘ hat kein spezifisches Organ und besteht vor allem in biologischen Rhythmen wie dem Herzschlag, dem Ein- und Ausatmen, dem Hunger und der Sättigung, dem Wachen und dem Schlafen. Als philosophisches Thema befassen sich insbesondere die Phänomenologen mit dem Zeiterleben. Auch Rüdiger Safranski widmet sich in seinem Buch, „Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“ (2015), vor allem dem phänomenologischen Zeiterleben: „Ich nähere mich der Zeit auf der Spur ihrer Wirkungen, ich beschreibe also, was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen.“ (Safranski 2015, S.12)

Nur das siebte Kapitel zur „Weltraumzeit“ ist dem physikalischen Zeitbegriff gewidmet, in dem mit der ‚Eigenzeit‘ nicht die subjektive Zeit empfindungsfähiger Wesen wie dem Menschen gemeint ist, sondern die relative Bewegung unbelebter Körper. (Vgl. 154ff.) Safranski beginnt mit der „Langeweile“, weil in ihr die phänomenologische Zeiterfahrung beginnt. (Vgl. Safranski 2015, S.19ff.) In der Langeweile drängt sich die Zeit einem unter ihr leidenden Subjekt regelrecht auf. Die Unausweichlichkeit der ‚leeren‘ Zeit wirft das Subjekt auf sich selbst zurück: „Der sonst dicht geknüpfte Ereignisteppich, der das Zeitvergehen für die Wahrnehmung verhüllt, ist dann fadenscheinig geworden und gibt den Blick frei auf eine vermeintlich leere Zeit. Das lähmende Rendezvous mit dem reinen Zeitvergehen nennen wir Langeweile.“ (Safranski 2015, S.19)

Dabei zeigt sich in der Langeweile ein Doppelaspekt, auf den Safranski in seinem Buch aber nicht näher eingeht, auf den er aber in einem Interview zu sprechen kommt: Auf frappierende Weise erinnert die Erfahrung der Langeweile an die subjektiven Begleitumstände einer Meditation. Die gleichen Gefühlszustände, die mit einer Meditation einhergehen, widerfahren uns in der Langeweile, wie an folgender Stelle deutlich wird: „Das Gerade und Abgezirkelte, auch wenn es äußerlich geräumig sein mag, hat die paradoxe Wirkung, dass es ein Gefühl von Enge hervorruft. Das liegt daran, dass die Regelmäßigkeit im Raum dieselbe Wirkung tut wie die Wiederholung in der Zeit. Es stellt sich der Eindruck von ermattender und zugleich bedrängender Monotonie ein.“ (Safranski 2015, S.33)

Safranski entgeht an dieser Stelle, daß ‚Monotonien‘ wie Regelmäßigkeit und Wiederholung Mittel einer mönchischen bzw. meditativen Praxis bilden, die dazu beitragen, unser Bewußtsein zu konzentrieren und zu fokussieren oder umgekehrt es zu weiten, die Welt loszulassen oder uns selbst auszubalancieren. In diesem Sinne könnte man die Langeweile geradezu als Schwelle zu einem anderen Bewußtseinszustand begreifen, die es nur auszuhalten gilt, um sie zu überschreiten. Wir müssen lediglich begreifen, daß uns die Langeweile etwas aufdrängt, was wir in der Meditation geradezu anstreben, nämlich innerliches Leerwerden: „Das in der Langeweile enthaltende Warten ist eine leere Intention, wie das die Phänomenologen nennen.“ (Safranski 2015, S.25)

So liegen also in der Langeweile Anfang und Ziel der menschlichen Zeiterfahrung verborgen, wobei Safranski bei letzterem weniger an die erlösende Leere als Befreiung von der Zeit denkt, sondern vielmehr an die Fülle des erlebten Augenblicks als Vorgeschmack auf die Ewigkeit. (Vgl. Safranski 2015, S.228f.)

Safranski hat sein Buch in insgesamt zehn Kapitel gegliedert und dabei versucht, die Chronologie dieser Kapitel am inneren Zeiterleben zu orientieren. Er beginnt folgerichtig mit der Langeweile (vgl. Safranski 2015, S.19ff.), der wir nur entgehen können, indem wir etwas anfangen, am besten mit uns selbst (vgl. Safranski 2015, S.41ff.). Wer etwas anfängt, hat etwas zu besorgen, und so widmet sich das nächste Kapitel der Sorge. (Vgl. Safranski 2015, S.63ff.) Am effektivsten sorgen wir uns, wenn wir uns gemeinsam sorgen; also geht es im folgenden Kapitel um die vergesellschaftete Zeit. (vgl. Safranski 2015, S.86ff.) Wenn wir uns nicht nur um etwas sorgen, sondern auch um die Zeit, die wir brauchen, um etwas zu besorgen, haben wir es mit der bewirtschafteten Zeit zu tun, um die es im fünften Kapitel geht. (Vgl. Safranski 2015, S.106ff.) Machen wir uns nicht nur um die Zeit Sorgen, in der wir etwas zu besorgen haben, sondern um die Zeit, in der es um uns selbst geht, um unsere Lebenszeit, eröffnet sich der Ausblick auf eine Weltzeit, die unsere Lebenszeit umfaßt. Darum geht es im sechsten Kapitel. (Vgl. Safranski 2015, S.131ff.)

Das siebte Kapitel fällt aus dieser Reihe heraus und bildet eigentlich nur einen physikalischen Exkurs. In diesem Kapitel geht es um die „Weltraumzeit“. (Vgl. Safranski 2015, S.154ff.)

Mit dem Kapitel zur „Eigenzeit“ kehrt Safranski zur Phänomenologie zurück. (Vgl. Safranski 2015, S.176ff.) Hier geht es Safranski zunächst um eine Politik des Respekts vor der Eigenzeit des Menschen, die ihn vor der Maschinenzeit der Industrie- und Wirtschaftswelt in Schutz nimmt. Darüberhinaus verknüpft Safranski die subjektive Eigenzeit mit der Weltraumzeit, indem er das weltraumzeitliche Verspäten von Ereignissen (wir sehen von allem immer nur die Vergangenheit) mit der menschlichen Erfahrung verknüpft, in der alle subjektiven Erlebnisse immer schon unwiederbringlich vergangen sind: „In der psychophysischen Realität“, so Safranski, „regiert die Furie des Verschwindens“. (Vgl. Safranski 2015, S.187)

Die letzten beiden Kapitel befassen sich mit der Frage, wie dennoch eine erfüllte Gegenwart möglich ist und worin möglicherweise die menschliche Hoffnung auf Unsterblichkeit begründet sein könnte. (Vgl. Safranski 2015, S.201ff. und S.226ff.)

So sehr ich mit Safranskis phänomenologischer Vorgehensweise sympathisiere, so wenig überzeugt mich doch die Vorstellung von der anthropologischen Ursprünglichkeit der Zeiterfahrung. Mit Bezug auf Heidegger sind es Safranski zufolge vor allem, neben der Langeweile, die Sorge ums Überleben und die Angst vor dem Tod, die den Menschen sich seiner selbst bewußt werden lassen. (Vgl. Safranski 2015, S.71) Dabei identifiziert Safranski die Sorge als das wesentliche Merkmal der menschlichen Intentionalität: „In der Regel greift es (das Bewußtsein – DZ) besorgend nach Dingen und Menschen, die stets im Horizont der vergehenden Zeit erscheinen und begegnen. Intentionalität ist genau diese Unruhe und Bewegtheit, diese Art des Bezugs.“ (Safranski 2015, S.64)

Meiner Ansicht nach bildet das Wissen um die eigene Sterblichkeit nicht ein aus dem eigenen inneren Erleben stammendes Ursprüngliches, sondern etwas Äußerliches und Abgeleitetes. Indem ich andere Menschen sterben sehe, werde ich auf meine eigene Sterblichkeit zurückgeworfen. Auch Safranski gesteht das ein: „Einerseits weiß ich um die eigene Sterblichkeit, und andererseits ist es mir unmöglich, von innen her das eigene Ende denken zu können. Von außen ist das kein Problem.“ (Safranski 2015, S.237)

Diese Unfähigkeit des Bewußtseins, das eigene Ende zu denken, führt in dem Kapitel über die Sorge dazu, daß Safranski sich zu der Aussage versteigt, daß das Bewußtsein wesentlich draußen ist, und nicht innen, denn zu einem Wissen um seine eigene Sterblichkeit kann es ja nur durch einen Analogieschluß von den Sterbenden auf sich selbst gelangen: „Man wird zu dem, was man draußen wahrnimmt oder versteht. ... Bewusstsein ist nicht hier drinnen, sondern, da es Bewusstsein von etwas ist, so ist es dort draußen bei der Welt, bei den Dingen und Menschen.“ (Safranski 2015, S.68)

Bewußtsein ist niemals nur Bewußtsein von Dingen „draußen in der Welt“, sondern immer auch von inneren ‚Dingen‘, von Gedanken und Empfindungen. Indem Safranski das leugnet, hebt er an dieser Stelle die Doppelaspektivität des Bewußtseins auf, gleichzeitig nach innen und nach außen gerichtet zu sein, und er verlagert die Innen-Außen-Differenz von der räumlichen in die zeitliche Dimension, indem er zwischen einer „inneren“ und einer „äußeren“ Zeit unterscheidet. (Vgl. Safranski 2015, S.136f.) Darauf und auf die Inkonsistenz dieser Differenzierung (denn die Innenräumlichkeit des Bewußtseinslebens soll ja bloß eine „Illusion“ sein (vgl. Safranski 2015, S.68)) werde ich im nächsten Post detaillierter eingehen.

Für jetzt möchte ich nur festhalten, daß ich das Zeiterleben nicht als etwas Ursprüngliches verstehe, sondern als eine Ableitung aus der von Plessner beschriebenen körperleiblichen Erfahrung, daß unsere Intentionen an der Realität scheitern. Die Zeit ist ein Bewußtseinsphänomen; das Bewußtsein selbst aber balanciert auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Diese Grenze ist der Beobachtungsstandpunkt, relativ zu dem unsere Zeit zu fließen beginnt.

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