„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 5. April 2016

Graham Harman, Vierfaches Objekt, Berlin 2015

(Merve Verlag, 17,00 €, 176 Seiten)

1. Naivität und Kritik
2. Vervierfachung der Objekte
3. Gestalt
4. Autonomie (oder auch nicht)
5. Lebenswelt und Seele
6. Karikaturen statt Expressionen

Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Heideggers Zeuganalyse kommt Graham Harman immer wieder auf Aspekte zu sprechen, bei denen es sich zugleich um Aspekte der Husserlschen Lebenswelt handelt. (Vgl. Harman 2015, S.47ff. und meinen Post vom 15.03.2016) Folgende Beschreibung des zuhandenen Zeugs, das bei Heidegger immer vor allem aus Werkzeug besteht, könnte zugleich ohne weiteres auch als Beschreibung für die Lebenswelt dienen: „Bewusste Aufmerksamkeit stellt nur einen winzigen Teil unseres Lebens dar. Die meiste Zeit ziehen sich Objekte in einen schattenhaften unterirdischen Bereich zurück, der unsere bewussten Aktivitäten stützt und selten in unser Blickfeld hereinbricht. Heidegger behauptet zudem oft, dass dieser verborgene Untergrund ein einheitliches System statt einer Ansammlung autonomer Objekte ist ...“ (Harman 2015, S.48)

Für den „winzigen Teil“, den die bewußte Aufmerksamkeit in unserem Leben in Anspruch nimmt, hat Helmuth Plessner das Bild einer Pyramide des Lebens gefunden, deren Spitze das menschliche Bewußtsein symbolisiert und deren ganzer Rest bis hinunter zur Basis das Unterbewußte in Form von immer fundamentaleren Lebensprozessen bildet. (Vgl. meine Posts vom 17.11.2010 und vom 30.01.2012) Auch Harmans Hinweis darauf, daß der „verborgene Untergrund“ bei Heidegger ein „einheitliches System“ bildet, verweist auf seinen lebensweltlichen Charakter. Wir haben es nicht einfach nur mit einzelnen Werkzeugen zu tun, sondern mit einer mit diesen Werkzeugen verbundenen „(u)nsichtbaren Praxis“ (Harman 2015, S.52), die nur auffällig wird, wenn etwas nicht funktioniert: „Heidegger sagt, dass wir im Allgemeinen Zeug nur bemerken, wenn es irgendwie versagt.“ (Harman 2015, S.50)

Dieses ‚Versagen‘ betrifft sowohl die Werkzeuge wie auch unsere Gesundheit. In Krisenfällen fallen wir aus der Lebenswelt, die Kultur, Technik und Biologie umfaßt, heraus. Der einzige, aber umso wichtigere Unterschied zwischen Heideggers Zeug und Husserls Lebenswelt besteht darin, daß Heidegger mit seiner Zeuganalyse eine Ontologie verbindet, in der das verborgene Wesen des Zeugs eigentlicher bzw. wahrer ist als seine alltägliche Präsenz. Husserls Lebenswelt hingegen ist lediglich ein Ausdruck für die Horizontstruktur der menschlichen Intentionalität. ‚Horizonte‘ bilden bei Husserl Grenzbestimmungen unserer Wahrnehmung, vor derem Hintergrund sich uns die Phänomene zeigen bzw. geben. Aber hinter diesen Horizonten befindet sich keine Wahrheit, die die Wahrheit diesseits unseres Blickfeldes in Frage stellen könnte, sondern nur weitere Horizonte. Was unseren Blicken entzogen ist, ist nicht weniger phänomenal, als das, was wir hier und jetzt wahrnehmen.

Plessner fügt dieser Horizontstruktur der menschlichen Wahrnehmung noch einen weiteren Aspekt hinzu: die Seele. (Vgl. meine Posts vom 28.10. und vom 14.11.2010) Die Seele hat eine ähnliche Struktur wie die Husserlsche Lebenswelt. Mit ihrem Erscheinen ist immer ein Entzug verbunden. Aber auch hier gilt: der Teil der Seele, der sich entzieht, ist nicht wesentlicher als der Teil, der sich zeigt. Wir haben es bei der Seele vielmehr mit einer Expressivität zu tun, die sich anderen ‚Seelen‘, also Mitmenschen gegenüber verständlich machen will, um vor sich selbst verständlich werden zu können. Zugleich ist damit die Angst verbunden, mißverstanden und auf etwas festglegt zu werden, was sie nicht ist. Plesser bezeichnet das als „noli me tangere“.

Auch Harman kommt gelegentlich auf dieses Verhalten der menschlichen Seele zu sprechen: „Selbst Menschen ziehen sich in die dunkle Realität zurück, die niemals völlig verstanden wird, während sie zugleich außenstehenden Beobachtern präsent sind.“ (Harman 2015, S.52) – Bei ihm ist diese Feststellung aber in einen „Panpsychismus“ (Harman 2015, S.147ff.) eingebunden, der dieses Verhalten auf alle Objekte verallgemeinert, gleichgültig ob belebt oder unbelebt. Die spezifisch menschliche Dimension geht hier verloren. Weder Husserls Lebenswelt noch Plessners Seele spielen bei Harman eine Rolle. Wie bei Heidegger ist für ihn alles nur Zeug.

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