„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 11. Juni 2016

Adam Czirak/Gerko Egert (Hg.), Dramaturgien des Anfangens, Berlin 2016

(Neofelis Verlag, 26.00 €, Softcover, 276 S.)

(Adam Czirak / Gerko Egert, Dramaturgien des Anfangens. Einleitung, S.7-22; Gerald Raunig, Aller Anfang ist dividuell, S.23; Jörn Etzold, Rousseau und der Anfang des Theaters, S.35; Karin Harrasser, Fall in den Zeitkristall. Choreographien des Anfangens und Weitermachens, S.59; Julia Bee, Dramatisierungen des Anfangens. Die Intros von Homeland, True Blood und True Detective, S.75; Christoph Brunner, Relationaler Realismus? Zur politischen Ästhetik der Dramatisierung, S.107; Heike Winkel, Jenseits von Tragödie und Farce. Neues politisches Kino in Russland und seine Popularisierung: Chto delat und Svetlana Baskova, S.131; Leena Crasemann, Leere Leinwand, weißes Blatt. Der Anfangsmoment künstlerischen Schaffens als topisches Bildmotiv, S.161; Matthias Warstat, Wie man Revolutionen anfängt. Lenin und das Agitproptheater, S.185; Krassimira Kruschkova, Performance für Anfänger. Nicht(s)tun, S.203; José Gil, Tanz – Prolog, S.219-234; Erin Manning, Den nächsten Schritt beginnen, S.235; Sibylle Peters, Starting over. Der Unwahrscheinlichkeitsdrive. Ein Forschungsbericht, S.253)

José Gils Beitrag „Tanz – Prolog“ (S.219-234) schließt sich nahtlos an den vorhergehenden Beitrag von Krassimira Kruschkova (S.203-218) an. Tatsächlich finde ich den für Kruschkovas Beitrag zentralen Begriff der Afformanz in Gils Begriff des „Antriebs“ als einem „Nullpunkt der Bewegung“ wieder, „in dem alle Bewegungsformen sich erst umreißen, bevor sie sich entfalten“. (Vgl. Gil 2016, S.222)

Gils Beitrag liest sich über weite Strecken wie ein Gedicht, wie ein Tanz der Worte, und das ist sicher auch eine Leistung von Sara Ehrentraut, die den Beitrag aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt hat. José Gil liefert uns eine Phänomenologie des Tanzes, die Helmuths Plessners Phänomenologie des Körperleibs, den wir haben und der wir zugleich sind, um ein drittes Merkmal erweitert: der Körper als ein Raum, den wir bewohnen, wenn wir ihn tanzen. (Vgl. Gil 2016, S.226)

Der Raum, der Körper als Raum, den der Tänzer kreiert, bildet weder einen Innenraum noch einen Außenraum. (Vgl. Gil 2016, S.225) José Gil bezeichnet ihn als „Milieu“, darin steckt ‚lieu‘: Ort bzw. Raum. In diesem ‚Milieu‘ bewegt sich der Tänzer „wie ein Fisch im Wasser oder ein Vogel in der Luft“ (vgl. Gil 2016, S.225), allerdings mit dem Unterschied, daß weder Fisch noch Vogel ihr Milieu erschaffen, wie der Tänzer: „Er (der Tänzer – DZ) muss ihn (den Raum – DZ) kontinuierlich transformieren, da sein Körper beständig danach strebt, zu seiner anfänglichen Position eines Objekts im Raum zurückzukehren, eines schweren, ungastlichen Objekts.“ (Gil 2016, S.226)

Diese Art des befristeten Bewohnens eines „ungastlichen“ Objekts ist die Antwort des Tänzers auf Theodor W. Adornos (1903-1969) Diktum, daß es sich in Zeiten, in denen es „kein richtiges Leben im falschen“ geben könne, es sich auch nicht gehört, „bei sich selber zu Hause zu sein“. (Vgl. Minima Moralia (1951)) An die Stelle dauerhaften Wohnens tritt sein durch ein fragiles Gleichgewicht ermöglichtes Trotzdem. Um den Körper bewohnen zu können, muß der Tänzer dem „ungastlichen“ Objekt ein neues Gewicht geben, ein Gleichgewicht, und dieses Gleichgewicht ist nicht „statisch“, wie im „aufrechten Stand“ (vgl. Gil 2016, S.231), sondern in Bewegung, und diese Bewegung trägt den Körper davon (vgl. Gil 2016, S.220). Das Gleichgewicht, von dem Gil spricht, fügt eine aus der Stabilität, dem Stand, herausfallende Bewegung in eine Bahn, eine Linie ein, die vor dem Beginn der Bewegung schon begonnen hat und nach ihrem Ende weiterführen wird: ein Unendliches. (Vgl. Gil 2016 ,S.221f.)

So wie Gil mit den Worten spielt, mit denen er den Tanz beschreibt, fallen dem Leser unweigerlich kosmische Metaphern ein. Gil läßt den Leser an den Urknall und an Planetenbahnen denken. Er beschreibt eine Bewegung, die aus einer unvordenklichen Beschleunigung bzw. Explosion heraus allmählich zur Ruhe kommt, bis endlich ein Zustand der scheinbaren „Unbewegtheit“ erreicht ist: „Endlich konnte man sich in einem beruhigenden Bild seiner selbst und der Welt betrachten.“ (Gil 2016, S.219) Aber tatsächlich, so Gil, setzte und setzt sich diese Bewegung im mikroskopischen Bereich, „auf dem Grund der Körper“, immer noch fort. (Vgl. ebenda)

Aus diesen mikroskopischen Bewegungen heraus, so Gil, wird jede Bewegung erst möglich. Und zum Tanz wird diese Bewegung, wenn aus dem permanenten Fallen des aufrechten Gangs oder auch aus dem ins Fallen übergehenden aufrechten Stand heraus, als „absolute(m) Referent(en) der Bewegung“ (Gil 2016, S.231), jenes schon erwähnte Gleichgewicht hervorgeht, das die Schwere des Körpers aufhebt und in eine an die Umlaufbahn der Planeten erinnernde Bewegungsform überführt, die aus dem „Rest“ des nicht in reine Energie umgewandelten realen Gewichts immer wieder neuen Schwung gewinnt, um sich fortzusetzen:
„Der Tänzer wird immer fallen, selbst wenn er tanzend fällt, durch die Einwirkung der reinen Schwere: Ebenso wird er durch die Einwirkung seines Gewichts gefallen sein. Er wird folglich mit diesen zwei Vektoren spielen und dabei ununterbrochen aus dem ‚Rest‘ des realen Gewichts, der vom Prozess bleibt, den Ansatzpunkt des Impulses der folgenden Bewegung machen. Indem er diesen Rest negiert, holt er Schwung (élan).“ (Gil 2016, S.226f.)
Die Umwandlung des Fallens in eine Tanzbewegung bedeutet zugleich auch eine Aufhebung des von Sloterdijk beschriebenen postlapsaristischen Zeitalters. (Vgl. meinen Post vom 22.08.2014)

An Plessners Körperleib erinnert auch Gils „Körperbewusstsein“, das den Körper des Tänzers durchtränken muß, weil er nur so den Raum schaffen kann, durch den er „ohne die Reibung des Gewichts“ ‚gleitet‘. (Vgl. Gil 2016, S.225) Fast möchte man meinen, daß wir es bei José Gils Essay mit einem Anti-Kleist zu tun haben, demzufolge vollendete Grazie nur durch Bewußtlosigkeit möglich wird. Schließlich sind es bei Kleist vor allem Marionetten, die tanzend dem Gesetz der Schwerkraft trotzen. Gils Argument ist überzeugend:
„Das Gleichgewicht hängt nicht vom alleinigen Spiel materieller Kräfte in der Gegenwart ab, sondern von der Weise, wie das Körperbewusstsein diese Kräfte verteilt. Ohne Konzentration wird es der Tänzer nicht fertigbringen, seinen Körper ins Gleichgewicht zu bringen: Dieser bildet kein System, das dem Bewusstsein äußerlich wäre, wie etwa ein Kartenhaus oder eine Waage.“ (Gil 2016, S.230)
Bliebe zu ergänzen: nicht nur nicht wie ein Kartenhaus oder eine Waage, sondern auch nicht wie eine Marionette. Aber auch Kleist bezieht sich nicht nur auf leblose Marionetten; er verweist auch auf den Bären, der die Attacken eines Florettfechters pariert. Ein Echo dieses Bären bilden übrigens die gepanzerten Eisbären in Philip Pullmans „Der Goldene Kompaß“ (2001). Kleist geht es letztlich nicht um ein Bewußtloses, sondern um ein Unbewußtes, so wie Gil, der vom „Unbewussten des Körpers“ spricht, „das Bewusstsein des Körpers geworden ist (und nicht Selbstbewusstsein oder reflexives Bewusstsein eines ‚Ich‘).“ (Gil 2016, S.234)

Genau auf dieser Ebene lebt sich das Körperbewußtsein des Tänzers aus, das Gil etwas unglücklich als „spezifisches virtuelles Gewicht“ bezeichnet. Man denkt dabei unweigerlich an ein Computerprogramm. Tatsächlich geht es um das spirituelle Moment der „Leichtigkeit“:
„Wenn seine (des Tänzers – DZ) Stabilität an der direkten Einwirkung des Bewusstseins auf den Körper hängt, bedeutet dies, dass ein ‚spirituelles‘ Moment in die Komposition des Systems eintritt. ... Es ist nicht mehr einfach nur die Tatsache, bewusst zu sein, die den Körper im Gleichgewicht hält, sondern das Bewusstsein der Bewegung, das ihn durchläuft.“ (Gil 2016, S.231)
Das spezifische, weil mit jedem neuen Tanz sich neu ausbalancierende virtuelle Gewicht hebt das reale Gewicht weitgehend auf, deshalb ‚virtuell‘. Tatsächlich haben wir es aber eher mit einem geistigen bzw. spirituellen Gewicht zu tun, das an die Stelle des realen Gewichts tritt und das mit dem Rest der verbleibenden Erdenschwere spielt. Denn der „Astronaut“ im leeren Weltraum „tanzt nicht“, wie Gil betont. (Vgl. Gil 2016, S.226)

Es wäre reizvoll, José Gils „Tanz- Prolog“ und Helmuth Plessners „Anthropologie des Schauspielers“ parallel zu lesen. (Vgl. meine Posts vom 29.05. und vom 21.06.2013) Eine zentrale These teilen beide Essays: Der Körper wird im Schauspiel wie im Tanz zum „künstlerische(n) Material“. (Vgl. Gil 2016, S.230) Zugleich scheinen beide Essays im hohen Maße antithetisch zueinander zu sein: Wo Plessner seine Anthropologie auf die Differenz von Innen und Außen zurückführt, bewegt sich der Tänzer bei Gil „weder im Außenraum noch in einem subjektiven Innenraum“ (vgl. Gil 2016, S.225).

Haben wir es hier tatsächlich mit einer Antithese zu tun? Diese Frage führt über die Grenzen meiner Rezension hinaus. Dabei müßte jedenfalls die Rolle des Publikums berücksichtigt werden, das bei Plessner ein zentrales Thema bildet, bei Gil aber völlig ausgeblendet wird.

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