„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 4. Juni 2016

Adam Czirak/Gerko Egert (Hg.), Dramaturgien des Anfangens, Berlin 2016

(Neofelis Verlag, 26.00 €, Softcover, 276 S.)

(Adam Czirak / Gerko Egert, Dramaturgien des Anfangens. Einleitung, S.7-22; Gerald Raunig, Aller Anfang ist dividuell, S.23; Jörn Etzold, Rousseau und der Anfang des Theaters, S.35; Karin Harrasser, Fall in den Zeitkristall. Choreographien des Anfangens und Weitermachens, S.59-74; Julia Bee, Dramatisierungen des Anfangens. Die Intros von Homeland, True Blood und True Detective, S.75; Christoph Brunner, Relationaler Realismus? Zur politischen Ästhetik der Dramatisierung, S.107; Heike Winkel Jenseits von Tragödie und Farce. Neues politisches Kino in Russland und seine Popularisierung: Chto delat und Svetlana Baskova, S.131; Leena Crasemann, Leere Leinwand, weißes Blatt. Der Anfangsmoment künstlerischen Schaffens als topisches Bildmotiv, S.161; Matthias Warstat, Wie man Revolutionen anfängt. Lenin und das Agitproptheater, S.185; Krassimira Kruschkova Performance für Anfänger. Nicht(s)tun, S.203; José Gil Tanz – Prolog, S.219; Erin Manning, Den nächsten Schritt beginnen, S.235; Sibylle Peters, Starting over. Der Unwahrscheinlichkeitsdrive. Ein Forschungsbericht, S.253)

Karin Harrasser entwickelt in ihrem Beitrag „Fall in den Zeitkristall“ (S.59-74) anhand eines Films von Werner Herzog, „Herz aus Glas“ (1976), und eines Films von Pier Paolo Pasolini, „Teorema“ (1968), eine Theorie des Mediums als Transformationshilfe: „Imaginationen von Transformation und Übergang“ sind, so Karin Harrasser, „die Themen, die mich interessieren“. (Vgl. Harrasser 2016, S.63) Dabei rückt sie mit Gilles Deleuze (1925-1995) die Wirkungsweise von Medien in die Nähe von alchimistischen Prozessen (vgl. Harrasser 2016, S.65), in denen materielle Umwandlungsprozesse als Medium für psychische Transformationen dienen.

Harrasser hat es insbesondere das Glas angetan, als eine zweifelhafte, zwischen Flüssigkeit und Festkörperlichkeit schwankende Substanz (vgl. auch meinen Post vom 01.02.2016), die in Form einer Kristallkugel auch der Wahrsagerei dient. (Vgl. Harrasser 2016, S.61) Dabei fungiert, so Harrasser, die „Glaskugel als Grenzobjekt“ zwischen Vergangenheit und Zukunft, das wie ein Brennspiegel die „Träume() seines „Gegenübers“ zu einer „Zukunftsvision“ fokussiert. (Vgl. Harrasser 2016, S.62)

Harrassers Reflexionen zu den medialen Effekten des Films sind faszinierend. Diese Reflexionen bewegen sich aber nicht nur an der Grenzlinie zwischen „Virtuellem und Aktuellem“ entlang (vgl. Harrasser 2016, S.64). Wir haben es zudem mit einer Gratwanderung zwischen Kybernetik und Achtsamkeit zu tun, die aber nicht im Zentrum ihrer Überlegungen steht, sondern nur an ihrem Rande sichtbar wird.

Harrasser fokussiert ihre Frage nach den medial unterstützten Transformationen, entsprechend dem Titel des Herausgeberbandes – „Dramaturgien des Anfangens“ –, auf die Art ihres Beginns und seiner möglichen ‚Inszenierung‘. Darin steckt zweierlei: Weckung von Aufmerksamkeit und Steuerung dieser Aufmerksamkeit. Schon beim Glasthema deutet sich diese kybernetische Differenz an, wenn Harrasser schreibt, daß die „Glasbläser“ an der „Schwelle“ zwischen „glühende(m), undurchsichtige(m) Plasma“ und „erkaltete(m), filigrane(m) Endprodukt“ stehend „Demiurgen“ des „Machens“ seien. (Vgl. Harrasser 2016, S.63) Die Durchsichtigkeit des Glases, die Aufmerksamkeit des Kinopublikums, beides wird ‚gemacht‘ bzw. mit Hilfe der Kamera ‚gerichtet‘ (vgl. Karrasser 2016, S.61). Die Medien, für die Karrasser sich interessiert, ermöglichen wie die Kristallkugel „Choreographie(n) der Blicklenkung“; sie bilden „Infrastrukturen für eine bestimmte Erwartungshaltung“ und führen so den Transformationsprozeß herbei, für den das Kinopublikum sich bereitwillig eingefunden hat. (Vgl. ebenda)

Daneben gibt es aber noch die andere Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit, die nicht ‚gemacht‘ wird. Karin Harrasser spricht von einer „gesteigerten Aufmerksamkeit für anwesende, aber noch nicht ergriffene Möglichkeiten in der Gegenwart“. (Vgl. Harrasser 2016, S.61) In der ‚Steigerung‘ dieser Aufmerksamkeit steckt zwar schon wieder ein kybernetisches Moment, aber zugleich steckt darin auch ein besonderer Bewußtseinszustand, der jeder medialen Vereinnahmung vorausliegt: ein „anderes Aufhorchen auf die Welt“ (Karrasser 2016, S.69) und ein „zögernde(s) Geöffnetsein“ (Karrasser 2016, S.60). Insbesondere dieses ‚Zögern‘ entzieht sich der uneingeschränkten Mediatisierung. Was sich in uns zögernd öffnet, liegt jenseits solchen ‚Machens‘.

Karrasser gelangt in die Nähe dieser Art der Aufmerksamkeit, wenn sie die Schattenseiten der medialen Aufmerksamkeitslenkung erwähnt. Indem die Medien ihren Schwerpunkt auf das Einfangen der Aufmerksamkeit legen, leiten sie einen anarchischen Verwandlungsprozeß ein (vgl. Karrasser 2016, S.69), der sich der Kontrolle entzieht. Das in diesem Sinne Anfangen-Können, das tatsächlich nur eine Art des Eingefangen-Werdens bildet, findet kein Ende mehr. (Zur Notwendigkeit des Endes vgl. Jörn Etzold und meinen Post vom 03.06.2016)  Der Anfang wird fetischisiert: „Das Problem scheint nicht länger das Anfangen, das Durchbrechen einer verknöcherten Struktur zu sein, sondern im Gegenteil: dass das Anfangen zum Imperativ verkommen ist und man mit nichts mehr fertig wird, sind die Heimsuchungen der Moderne.“ (Harrasser 2016, S.71

Die medialen Verlockungen erweisen sich als falsche Versprechungen, aber als solche der süchtigmachenden Art: wer so ‚anfängt‘, kann nicht mehr damit aufhören, so anzufangen. Die Kybernetik des Anfangens hindert uns an jener Aufmerksamkeit, die es uns ermöglicht, mit uns selbst etwas anzufangen. Harrasser weist selbst noch einmal explizit darauf hin, wenn sie mit den Wörtern ‚Medien‘, ‚Propheten‘ und ‚Messias‘ spielt und in dem einen ihrer beiden Resümees verkündet, „dass die Verführung durch Propheten (ob sie nun kommender Messias, Kommunismus oder Film heißen) ohnehin immer ein Betrug war“: „Nicht mehr überspannt zu erwarten, sondern die Kräfte des Gegenwärtigen aufzuschließen, ist im Vergleich dazu befreiend.“ (Harrasser 2016, S.74) – Schon Friedrich Kittler (1943-2011) hatte den Betrug als Wesensmerkmal jedes Mediums bezeichnet. (Vgl.u.a. meine Posts vom 08.04. bis zum 14.04.12)

Soweit aber geht Karin Harrasser dann doch nicht. Ihr zweites Resümee lautet: „Der Film als Vertreter dieser Öffnung ist kein Vertreter einer kommenden Wahrheit, er ist Vermittlung, er baut Relationen, er verbindet und trennt.“ (Harrasser 2016, S.74) – So positiv kann sie eigentlich nur enden, weil sie mit Werner Herzog (*1942) und Per Paolo Pasolini (1922-1975) zwei ‚Glasbläser‘ thematisiert, die die Brechungen ihres „Grenzobjekts“ noch einmal in sich selber brechen lassen. So wird der Betrug selbst zum Medium weniger einer Transformation als vielmehr der Reflexion.

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