„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 2. September 2016

Andreas Urs Sommer, Der Mensch, das Tier und die Geschichte. Zur anthropologischen Desillusionierung im 19. Jahrhundert (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.92-109)

Nach den bisherigen Beiträgen zum „Menschenbild der Antike“ (Müller/Maio 2015. S.13-30), zu den „biblischen Grundlagen des christlichen Menschenbildes“ (Müller/Maio 2015, S.31-63) und zur Spätaufklärung des 18. Jhdts. (Müller/Maio 2015, S.80-91) befaßt sich in dem Kapitel „Stationen im Denken über den Menschen“ (Müller/Maio 2015. S.13-109) als letzter der Freiburger Philosoph und Professor für Philosophiegeschichte Andreas Urs Sommer in seinem Beitrag „Der Mensch, das Tier und die Geschichte“ (2015) mit der „anthropologischen Desillusionierung“ des 19. Jhdts.

Die zentrale These von Sommers Beitrag besteht darin, daß der „charakteristische() Zug“ der Anthropologie des 19. Jhdts. in der „Re-Animalisierung des Menschen“ besteht, was letztlich die naturalistische Konsequenz der Entthronung des Menschen als „Krone der Schöpfung“ bildet. (Vgl. Sommer 2015, S.93) Sommers Beitrag, der diese „Denkbewegung“ (ebenda) nachzeichnet, erscheint insofern als die Antithese zu dem Betrag des Theologen und Philosophen Markus Enders.

Sommer zufolge erweist sich Friedrich Nietzsche (1844-1900) mit seinem „Antichrist“ (1888/1895), mit dem er die „Differenz zwischen Tier und Mensch einebnet und dessen besonderen Status im Weltgefüge tilgt“, keineswegs als revolutionär, sondern als „treuer Gefolgsmann der von ihm ausgebeuteten Quellen“ (vgl. Sommer 2015, S.98); also vor allem von Denkern seit Beginn des 19.Jhdts. wie u.a. Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854), der „Geist und Natur“ nicht als Gegensätze verstand, sondern sie zusammenzudenken versuchte, Ludwig Feuerbach (1804-1872), der die „Anthropologie sogar zur ‚Universalwissenschaft‘ (erhob)“ (vgl. Sommer 2015, S.95), und Arthur Schopenhauer (1788-1860), der den Menschen in eine „Stufenfolge abwärts durch alle Gestaltungen der Thiere, durch das Pflanzenreich, bis zum Unorganischen“ als „Objektivation des Willens“ einordnete (vgl. Sommer 2015, S.96). Auf naturwissenschaftlicher Ebene wurde diese Denkbewegung durch Charles Darwins (1809-1882) Abstammungslehre gestützt und gefördert. (Vgl. Sommer 2015, S.104)

Darwins Abstammungslehre – Darwin selbst hatte noch nicht von einer „Evolutionstheorie“ mit ihren teleologischen Implikationen gesprochen – „impliziert“, wie Sommer schreibt, „die Universalisierung historischen Denkens, nämlich die Welt, wie sie ist, als eine durch und durch gewordene Welt zu verstehen“. (Vgl. Sommer 2015, S.104) Im Zuge dieser Historisierung war es nicht mehr möglich – auch nicht im Sinne einer „spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie“ (Sommer 2015, S.93) – „den Menschen als ein von allen anderen Kreaturen grundsätzlich unterschiedenes Geistwesen“ zu verstehen (vgl. Sommer 2015, S.104). Diese Naturalisierung des Menschen bildet Sommer zufolge bis heute den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis, hinter den wir nicht mehr zurückfallen können:
„Wir können hinter die Tierwerdung des Menschen nicht zurück, wir können nicht zurück hinter die Naturalisierung und auch nicht zurück hinter die Historisierung unseres Menschseins.“ (Sommer 2015, S.107)
Sommer zählt drei mögliche „Strategien“ auf, wie „mit der allgemeinen anthropologischen Desillusionierung“ umgegangen werden kann (vgl. Sommer 2015, S.100ff.): Wir können die „Individualität menschlicher Wesen“ leugnen und wie z.B. David Friedrich Strauß (1808-1874) die „Bestimmung des Menschen“ auf eine Anpassung an die „Gattungsidee“ festlegen (vgl. Sommer 2015, S.100) oder wir können wie Alfred Russel Wallace (1823-1913) und Herbert Spencer (1820-1903) eine Fortschrittsidee vertreten, derzufolge sich immer nur „die Besten durchsetzen“, wodurch sich die Gattung insgesamt höherentwickelt (vgl. Sommer 2015, S.101), oder wir können die tierische Abstammung des Menschen im Anschluß an Nietzsche als moralische ‚Entlastung‘ und als Chance zur ungehemmten „Selbstmodellierung“ verstehen (vgl. Sommer 2015, S.102).

Letztere Option scheint Sommer selbst zu befürworten, obwohl er selbst auf die Ambivalenz einer solchen moralischen Entlastung – die er als „gleichermaßen heilsam wie gefährlich“ bezeichnet – hinweist. (Vgl. Sommer 2015 S.107) Sommer geht dann aber nicht weiter auf die moralischen Gefährdungen dieses Animalisierungsprozesses ein, sondern er will das „historisch Kontingente und Individuelle“ der menschlichen Daseinsverfassung, ja sogar das „Missraten-Sein“ des Menschen als „Chance“ verstanden wissen. (Vgl. Sommer 2015, S.107) Zu dieser gewagten These hätte man sich als Leser gerne noch die eine oder andere Erläuterung gewünscht. Leider endet Sommers Beitrag an dieser Stelle.

Insgesamt stellt Sommer mit seiner skizzenhaften Nachzeichnung des sich im 19. Jhdt. durchsetzenden Naturalismusses einseitig ein bestimmtes Moment der menschlichen Entwicklung in den Vordergrund: die Biologie. An verschiedenen Stellen seines Beitrags hätte es aber nahegelegen, noch weitere Entwicklungsebenen zu thematisieren. Das hätte es ermöglicht, das „Humanum“, von dem Sommer schreibt (vgl. Sommer 2015, S.103), nicht als etwas „Allgemeines“ zu definieren, im Sinne einer Gattungsidee, sondern im Gegenteil als Individualität, nämlich als individuelle Konkretisierung dreier verschiedener Entwicklungslinien: der Biologie, der Kulturgeschichte und der individuellen Biographie.

Noch Schelling hatte versucht, Natur und Geist zusammenzudenken. In der Folge des Naturalisierungsprozesses spielte der ‚Geist‘ aber keine Rolle mehr. Deshalb vertritt Schelling auch nicht, wie Sommer meint, eine „partielle Naturalisierung des Menschen“, als befände er sich sozusagen erst noch auf dem Weg zu einer „konsequente(n) Naturalisierung“. (Vgl. Sommer 2015, S.95) Der ‚Geist‘ bildet in Schellings anthropologischem Konzept nicht einfach irgendeine Zutat, die man auch weglassen kann. Er bildet vielmehr ein wesentliches Moment der menschlichen Daseinsverfassung, ohne das der Mensch kein Mensch wäre. Da es aber wesentlich zum Naturalismus gehört‚ den ‚Geist‘ konsequent wegzuerklären, und dieser Naturalismus sich ganz auf die Biologie beschränkt, haben wir es also bei Schelling nicht nur nicht mit einer partiellen Naturalisierung, sondern überhaupt nicht mit irgendeinem Naturalismus zu tun.

Auch Sommers Erläuterungen zu Nietzsches Bild vom Menschen sowohl „als passive(m) Objekt seiner Geschichte als auch als deren aktive(m) Subjekt“ (vgl. Sommer 2015, S.105) hätten einer weitergehende Differenzierung zwischen einer biologischen und einer historisch-kulturellen Entwicklungsebene bedurft, mit Bezug auf die der Mensch sich in seiner Lebensführung gleichermaßen als Objekt und als Subjekt erweisen könnte. Stattdessen wird die Komplexität dieser Entwicklungsebenen und die Komplexität ihres Zusammenwirkens auf einen simplen Naturalismus, hinter den man angeblich nicht mehr zurückkann, eingedampft.

Aufgrund dieses Reduktionismusses erscheint der Mensch sowohl bei Schopenhauer als auch bei Nietzsche als unvollkommenes Tier oder sogar als eine Mißgeburt, wie es Sommer am Schluß seines Beitrags als grundsätzliches „Missraten-Sein“ zum Ausdruck bringt. Da der ‚Geist‘ des Menschen bzw. seine individuelle Lebensführung, also der Mensch als Bewußtsein und Subjekt, nur vor dem Hintergrund von Tieren und Maschinen thematisiert wird, erscheint dieses Bewußtsein vor allem als Störung und als Nachteil im Überlebenskampf, wie Sommer anhand eines Nietzsche-Zitats ausführt:
„Aber auch als Maschine ist der Mensch weit entfernt davon, vollkommen zu sein: ‚das Bewusstwerden, der ‚Geist‘, gilt uns gerade als Symptom einer relativen Unvollkommenheit des Organismus, als ein Versuchen, Tasten, Fehlgreifen, als eine Mühsal, bei der unnöthig viel Nervenkraft verbraucht wird‘.()“ (Sommer 2015, S.99)
Daß es gerade dieses „Versuchen“ und „Fehlgreifen“ ist, das die menschliche Intentionalität auszeichnet, kann so gar nicht erst in den Blick kommen, und schon gar nicht, daß die Gebrochenheit des menschlichen Wollens allererst so etwas wie Bewußtsein ermöglicht. Das zeigt sich noch einmal besonders markant an der scheinbaren Nähe der Schopenhauerschen Willensmetaphysik zu Helmuth Plessners „Stufen des Organischen“ (1928), wie sie in folgendem Schopenhauer-Zitat zum Ausdruck kommt:
„... Die Idee des Menschen durfte, um in der gehörigen Bedeutung zu erscheinen, nicht allein und abgerissen sich darstellen, sondern mußte begleitet seyn von der Stufenfolge abwärts durch alle Gestaltungen der Thiere, durch das Pflanzenreich, bis zum Unorganischen: sie alle erst ergänzen sich zur vollständigen Objektivation des Willens ...“ (Sommer 2015, S.95f.)
Wie Plessner ordnet Schopenhauer den Menschen in eine Stufenfolge des Organischen ein. Wie bei Plessner besteht die Grundlage dieser Stufenordnung in der Physiologie der Bedürfnisbefriedigung, im Sinne von „Objektivationen des Willens“. Wir haben es also auch bei Schopenhauer mit einem Konzept zu tun, in dem die Intentionalität im Zentrum steht.

In seinem Lebenswerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1859), aus dem das Zitat stammt, reduziert Schopenhauer den Menschen – immer noch wie Plessner – nicht auf diese tierische Abstammungslinie. Er stellt dem Willen bzw. den biologischen Bedürfnissen die Vernunft gegenüber, im Sinne eines antagonistischen Dualismusses. Zwischen Wille und Vernunft gibt es keine weitere genetische Beziehung. Und das ist es, was Schopenhauer von Plessner unterscheidet.

Obwohl Schopenhauer wie Plessner die Intentionalität bzw. den Willen zum grundlegenden Bewegungsmoment der Lebenserhaltung und des Stoffwechsels macht, denkt er sich diese Intentionalität, anders als Plessner, als unendlich machtvoll. Der Wille ist die Welt, und die Welt ist der Wille. Zwar leiden wir unter der individuellen Begrenztheit unseres Wollens, aber wir stellen uns dieser Begrenztheit nicht, sondern fliehen vor ihr in das Reich der Vernunft, in dem der Wille und das Leiden am Willen, wenn auch nur für kurze Augenblicke, außer Kraft gesetzt sind. Auch Schopenhauer ist, wie Nietzsche, der Schopenhauers Konzept zum „Willen zur Macht“ ausgebaut hat, nicht in der Lage die Gebrochenheit des Willens als Wesensmerkmal des Menschen zu denken. Wo  Nietzsche die Amoralität des Tieres zum Vorbild für den Übermenschen nimmt, flüchtet sich Schopenhauer in einen erneuerten Dualismus aus Wille und Vernunft.

Sommers Resümee, daß man nicht hinter den Naturalismus der „Tierwerdung des Menschen“ zurückfallen könne, verdreht die historische Perspektive. Es ist vielmehr der Naturalismus selbst, der als Rückfall hinter schon gewonnene Einsichten des Humanismusses und der Aufklärung verstanden werden muß. Wer den Menschen zum Thema macht, darf ihn nicht auf die biologische Entwicklungslogik reduzieren. Es müssen vielmehr immer wieder alle drei Entwicklungslinien zusammengedacht werden. Deshalb umfaßt das Wissen vom Menschen alle Bereiche, und deshalb ist es auch, wie schon Feuerbach festgestellt hatte, universal. Es ist der Naturalismus, der, was den Menschen betrifft, auf Darwins Abstammungslehre bis heute keine angemessene Antwort gefunden hat.

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