„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 18. Januar 2017

Matthew B. Crawford, Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Eine Philosophie des Ich im Zeitalter der Zerstreuung, Berlin 2016

(ullsteinbuchverlage, Hardcover, 429 Seiten, 24.00 €)

1. Zusammenfassung
2. Bewußtsein als geistige Repräsentation
3. Bewußtsein als Wahrnehmung
4. Bewußtsein als Wachsamkeit
5. Vortrefflichkeit: Das situierte Selbst
6. Vortrefflichkeit: Das situierte Ding

Maththew B. Crawford zufolge bilden Repräsentationen „Vermittlungsinstanzen“ zwischen unserem inneren, angeblich autonomen Selbst und der uns wiederum angeblich mit Heteronomie bedrohenden Außenwelt. Sie setzen sich wie „Schichten“ am Boden unseres Bewußtseins ab und beeinflussen und lenken unsere Wahrnehmung. (Vgl. Crawford 2016, S.128) Es bedarf deshalb, so Crawford, einer geologischen Erkundung dieser verschiedenen „unterirdischen Schichten“, ihrer „geologischen Strukturen“, wenn man wieder zu den ursprünglichen Quellen „unserer persönlichen Erfahrung“ vordringen will. (Vgl. Crawford 2016, S.43)

Crawfords Vorstellungen vom Bewußtsein entsprechen denen von Helmuth Plessner. Plessner zufolge werden wir uns in dem Moment unserer selbst bewußt, indem unsere Intentionalität auf den Widerstand der Außenwelt stößt. Plessner beschreibt diese Begegnung mit der Außenwelt als eine Hiatuserfahrung. Auch Crawford legt großen Wert auf die „Kontingenzen“, „die unser Verhalten auf dem Weg zwischen Absicht und Verwirklichung bedingen“. (Vgl. Crawford 2016, S.126) Diese Kontingenzen, so Crawford, bedrohen nicht etwa unsere Autonomie, sondern ermöglichen sie allererst, indem sie unser Bewußtsein aus seinem Schlaf wecken.

Crawford verweist auf das Flow-Erlebnis, das viele Menschen suchen, wenn sie sich in ein Spiel vertiefen oder wenn sie sich auf eine Motorradfahrt begeben. Sich bewußt auf die möglichen Gefährdungen und Risiken einer Motorradfahrt zu konzentrieren, stört dieses Flow-Erlebnis:
„Wer sich ohne solche Sorgen im Zustand des ‚Flow‘ befindet, fühlt sich vielleicht wie Supermann, aber ein Motorradfahrer gleitet leicht in einen Lastwagen hinein, der in der Kurve über den Mittelstreifen geraten ist. Ist es nicht so, dass das Leben im Allgemeinen voller verborgener Kontingenzen steckt? Jede zielgerichtete Aktion birgt ein Risiko – das Risiko des Scheiterns.“ (Crawford 2016, S.103)
Im Flow-Erlebnis befindet sich das Bewußtsein im Schlaf. Es ist regelrecht betäubt. Die Realität bildet nur einen Störfaktor, der die Autonomie des auf zwei Rädern dahinfliegenden Supermanns bedroht. Aber der Wille des erwachsenen Menschen ist Crawford zufolge „in den Kontingenzen der Welt jenseits des eigenen Verstands situiert und wird von diesen Kontingenzen geformt“ (vgl. Crawford 2016, S.111):
„Erwachsen zu sein bedeutet, dass wir lernen, die Grenzen zu akzeptieren, die uns von einer Welt gesetzt werden, die nicht alle unsere Bedürfnisse befriedigen wird ...“ (Crawford 2016, S.246)
Als Motorradfahrer ist man im Straßenverkehr – schon zum eigenen Schutz als besonders gefährdeter Verkehrsteilnehmer – zu ständiger Wachsamkeit gezwungen. Mit Verweis auf „Die obere Hälfte des Motorrads“ (2015) von Bernd Spiegel schreibt Crawford:
„Mit dieser Spannung zurechtzukommen ist eine Kunst für sich. Spiegel erklärt, dass die Aufgabe des Bewusstseins in unaufdringlicher Wachsamkeit besteht. ‚Dieses wache ‚Aufpassen, ohne selber einzugreifen‘ ist ein ziemlich unstabiler Zustand‘ und kippt leicht in einen völligen Mangel an Wachsamkeit oder in übermäßiges Involviertsein.“ (Crawford 2016, S.104)
Die Formulierung „unaufdringliche Wachsamkeit“ könnte man auch als Definition für den Begriff der Achtsamkeit nehmen. Auf jeden Fall ist unser Bewußtsein grundlegend auf eine gleichermaßen gefährliche wie unser inneres Selbst belebende und bereichernde Außenwelt bezogen. An anderer Stelle bezeichnet Crawford die Kontingenzen, mit denen wir es im Umgang mit der Welt zu tun haben, als „Affordanzen“. (Vgl. Crawford 2016, S,80f.) Die Welt macht uns ‚Angebote‘ in Form der Dinge, mit denen wir tagtäglich zu tun haben. Nur indem wir auf diese alltäglichen Dinge ‚achten‘ – und uns ihrer kontingenten Widerständigkeit beugen –, gelangen wir zu wahrer Autonomie, die Crawford aber lieber als „Vortrefflichkeit“ im Umgang mit diesen Dingen bezeichnet. (Vgl. Crawford 2016, S.47) Crawfords Wort für Autonomie ist Vortrefflichkeit. Darauf werde ich noch in den nächsten beiden Posts zurückkommen.

Ein wichtiges Mittel, unsere bewußte Aufmerksamkeit zu steuern, ist Crawford zufolge die Sprache. Er wendet sich gegen die Vorstellung, die Sprache könne uns beim Vollzug automatisierter Fähigkeiten im Handwerk oder im Sport nur stören. Es ist oft so, daß jemand, der etwas gut kann, nicht gut sagen kann, wie er es macht. Er kann sein inkorporiertes Wissen schlecht anderen Menschen mitteilen. Im Meister-Schüler-Verhältnis lernt der Schüler oft mehr durch Zuschauen und durch Nachahmen als aufgrund der expliziten Erläuterungen des Meisters. (Vgl. Crawford 2016, S.205f.)

Crawford ist indessen der Ansicht, daß uns die Sprache dabei hilft, uns die Dinge bewußt zu machen und sie uns dann über diesen Umweg auch innerlich anzueignen. Gerade beim Motorradfahren sind viele Effekte des Motorrads, z.B. sein dynamisches Verhalten in einer Kurve, kontraintuitiv. Um sich im eigenen Verhalten darauf einzustellen, muß sich der Fahrer diese kontraintuitiven Effekte des Motorradfahrens sprachlich bewußt machen:
„Die Rolle der Aufmerksamkeit bei der Ausübung einer Fertigkeit besteht darin, jene Merkmale der Situation zu ermitteln, die pragmatisch signifikant sind und daher gemeinsam ‚die Situation‘ definieren. Wenn wir beginnen, uns eine Fertigkeit anzueignen, spielt das für die instruktiven Zwecke sprachlich festgehaltene explizite Wissen eine entscheidende Rolle bei dem Bemühen, die Aufmerksamkeit auf die geeigneten Gegenstände zu richten.“ (Crawford 2016, S.99)
Die Sprache kann Crawford zufolge zum „Priming“, also zur körperlichen  ‚Bahnung‘ der richtigen Verhaltensweisen beitragen. (Vgl. Crawford 2016, S.100) Außerdem hilft die bewußte Verbalisierung dabei, sich auf bestimmte, schon geübte Gefahrensituationen beim Motorradfahren einzustellen:
„Ich habe eine kleine Formel, die ich mir laut vorsage, wenn ich mich in solche Fahrsituationen begebe: ‚Sie wollen dich töten.‘() ... Andy Clark (Rennfahrer – DZ) erklärt, selbst beim Experten ermögliche ‚die verbale Wiederholung (von Merksätzen – DZ) eine Art von Umstrukturierung der Wahrnehmung mittels kontrollierter Einstellung der Aufmerksamkeit‘().“ (Crawford 2016, S.106)
So wichtig also die Sprache bei der Steuerung unserer Aufmerksamkeit ist, so sehr lehnt Crawford es ab, sich selbst etwas vorzumachen, nur um des positiven Gefühls willen, das sich dabei einstellt. Crawford verweist auf eine Art des positiven Denkens, wie es David Foster Wallace beschreibt. (Vgl. Crawford 2016, S.251ff.) Wallace schlägt vor, sich in alltäglichen Situationen, in denen man sich ärgert, das, was gerade passiert, schön zu reden. Wir unterstellen schnell Menschen, die uns ärgern, böse Absichten. Wir können aber auch, wie Wallace meint, das Gegenteil tun und uns Umstände zurechtlegen, unter denen die Menschen so handeln müssen, ohne daß sie sich aus purer Gedankenlosigkeit rücksichtslos verhalten oder gar gegen uns gerichtete Absichten verfolgen.

Crawford gesteht Wallace zu, daß dies in bestimmten Fällen ein weises Verhalten ist. Aber dieses Verhalten beruht auf Imagination. Es beinhaltet keine Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Realität. Vielmehr weichen wir dieser Auseinandersetzung aus und ziehen uns in unser inneres Selbst zurück:
„Er (Wallace – DZ) beschreibt Imagination, nicht Aufmerksamkeit. Er postuliert Szenarien, die seine Sympathie wecken.“ (Crawford 2016, S.255)
Wallace, so Crawford, bietet als Lösung für den Umgang mit den Kontingenzen dieser Welt eine „Therapie im Geist der virtuellen Realität“ an. (Vgl. Crawford 2016, S.256) Auch er verfolgt also das Konzept einer Autonomisierung des Selbst. Mit diesem Konzept geht aber – ähnlich wie bei der „Handy-Dandy-Maschine“ in der Serie Micky-Maus-Wunderhaus – keine Autonomie, sondern im Gegenteil die „Fragilität eines Selbst“ einher, „das Konflikte und Frustration nicht ertragen kann“. (Vgl. Crawford 2016, S.122)

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