„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 4. Februar 2017

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, Berlin 2016

(Suhrkamp Verlag, gebunden, 282 Seiten, 32,00 €)

1. Zusammenfassende Kritik
2. Methode
3. Wir-Differenz
4. Moralität und Macht
5. Kleine und große Gruppen
6. Ontogenetisches Grundgesetz

Auf den Ökonomismus der Evolutionstheorie bin ich schon in meiner zusammenfassenden Kritik zum aktuellen Buch von Michael Tomasello eingegangen. (Vgl. meinen Post vom 01.02.2016) Zu diesem Ökonomismus gehört die Hypothese vom offenen Markt, auf dem Individuen interagieren, die jederzeit über alle erforderlichen Informationen verfügen, um ihre Kauf- und Verkaufsentscheidungen treffen zu können, was auch als „rational choice“ bezeichnet wird. Michael Tomasello verknüpft diese Vorstellung mit seinem Kommunikationskonzept und modifiziert so auf subtile Weise den Begriff der Rekursivität, den er in diesem Buch nicht mehr verwendet.

Die Rekursivität beruht auf wechselseitigen Annahmen darüber, was die jeweiligen Gesprächspartner gerade über den Anderen denken. Diese Annahmen basieren auf Empathie und auf einem geteilten Wissen über den persönlichen und gemeinsamen Hintergrund. Tomasello transformiert diese Rekursivität in ein soziales bzw. kollektives Wissen, das wie eine Informationsbörse funktioniert, zu der alle gleichermaßen Zugang haben, so daß alle jederzeit am gemeinsamen Wissen über jeden partizipieren. Diese Informationsbörse bezeichnet Tomasello als „Tratsch“, zu der man eine komplexe konventionelle Sprache braucht (vgl. Tomasello 2016, S.96), anders als bei zweitpersonalen Beziehungen, wo oft Ein-Wort-Sätze genügen, um sich zu verständigen (vgl. Tomasello 2016, S.111).

An die Stelle der Rekursivität tritt also der gute Ruf bzw. die Reputation eines Menschen, die für ihn genauso wichtig ist wie die Dominanz eines Schimpansen in seiner Gruppe. Deshalb betreiben Menschen ein regelrechtes „Impressionsmanagement“ (Tomasello 2016, S.95) bzw. ein „Reputationsmanagement“ (Tomasello 2016, S.117), um Macht anzustreben bzw. bestehende Macht zu bewahren, das Äquivalent zum Dominanzgebaren ihrer Primatenverwandten.

Tomasello verweist auf das Thema der Macht und des Machtmißbrauchs nur am Rande. Tatsächlich spricht er nur von der „Verhandlungsmacht“ einzelner Individuen bei der Partnerwahl:
„Aber am wichtigsten im vorliegenden Kontext ist die Tatsache, daß ein völlig offener Markt nicht funktionieren würde, wenn die Informationen über die Partner nur aus unmittelbaren persönlichen Erfahrungen mit diesen gewonnen werden könnten, es also nicht so etwas gäbe wie eine Reputation auf der Grundlage von Tratsch; dann wäre es für einzelne Individuen äußerst schwierig, eine große Verhandlungsmacht über andere auszuüben, da jeder dessen Reputation anders einschätzen würde.“ (Tomasello 2016, S.96)
Der Tratsch hat also vor allem die positive Wirkung, daß einzelne Individuen auf dem offenen Markt der Partnerwahl Pluspunkte für ihre Beliebtheitswerte sammeln können. Wenn es von jedem anderen Individuum nur auf der Basis dessen bewertet würde, was jedes einzelne Individuum aufgrund persönlichen Wissens und persönlicher Erfahrung von ihm weiß, würde sich jede Investition in ein Reputationsmanagement erübrigen.

Auf das Thema des Machtmißbrauchs kommt Tomasello mit keinem Wort zu sprechen. Dabei liegt dieses Thema genau dort nahe, wo Tomasello die drittpersonale Moralität dadurch kennzeichnet, daß ‚unbeteiligte‘ Dritte in Streitigkeiten eingreifen oder sich sogar herausnehmen, einfach nur das Verhalten von einzelnen Gruppenmitgliedern zu kritisieren, weil sie bestimmte Aufgaben nicht so erledigen, wie ‚man‘ es der Gruppenmeinung zufolge tun sollte:
„Die Tatsache, daß bestimmte soziale Normen von der Gruppe geschaffen wurden, ist ein augenscheinlicher Beleg für das Individuum, daß sie gut für die Gruppe und deren Funktion sind, und dadurch wird es zu einer guten Sache, einer legitimen, an den Interessen der Gruppe ausgerichteten Sache, daß das Individuum sie jedem gegenüber durchsetzt.“ (Tomasello 2016, S.159)
Wichtig ist hierbei die Ergänzung, daß „jedes Mitglied“ einer Gruppe zur „Stimme“ bzw. zum „Stellvertreter der Gruppe und ihrer Werte“ werden kann. (Vgl. Tomasello 2016, S.159) Tomasello geht bei diesen ‚Kritikern‘ ganz naiv von einem Altruismus aus. Die selbsternannten Richter setzen sich ‚selbstlos‘ für das Gruppeninteresse ein:
„Die Vogelperspektive auf die gemeinschaftliche Tätigkeit ist daher in einem wichtigen Sinne unparteiisch.“ (Tomasello 2016, S.90; vgl. auch S.85)
Mit keinem Wort geht Tomasello auf eine gemischte Motivationslage ein, in der das wohltuende Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen (vgl. Tomasello 2016, S.167), mit einem Gefühl der Macht über andere Gruppenmitglieder einhergehen könnte. Möglicherweise schimmert ja gerade in diesem Denunziantentum das alte Dominanzverhalten der Menschenaffen durch? – Eine solche Differenzierung würde natürlich die Gradlinigkeit der Evolutions-‚Geschichte‘, die Tomasello erzählt, in Frage stellen.

Tatsächlich ist der offene Markt bzw. die Informationsbörse, von der Tomasello hier spricht, an den Individuen gar nicht mehr interessiert. Wir haben es hier nicht mehr mit einer geteilten Intentionalität zu tun, in der sich konkrete Individuen auf zweitpersonaler Ebene rekursiv verständigen. An ihre Stelle ist eine gemeinsame Intentionalität in Gestalt eines pseudomoralischen Strukturalismusses getreten, in dem die Individuen gar nicht mehr wissen, was hinter ihrem Rücken vor sich geht (bzw. ‚getratscht‘ wird). Wir haben es analog zur Marktwirtschaft mit einer ‚unsichtbaren Hand‘ (Adam Smith) zu tun, die die weitere Entwicklung, die Gruppenevolution, steuert. Tomasello weist ausdrücklich darauf hin, daß die „Zustimmung“ zur bzw. die „Legitimität“ der „Selbstregulation“ gerade dadurch gewährleistet wird, daß die kooperativen Gruppenprozesse „unter einer Art von ‚Schleier des Nichtwissens‘“ stattfinden. (Vgl. Tomasello 2916, S.230) Zwar geht es an dieser Stelle nur um eine Art Glücksspiel, bei dem die Verteilungsbedingungen vorhandener Ressourcen ‚unparteiisch‘ ausgelost werden, ohne daß jemand das Ergebnis der Auslosung beeinflussen könnte. Dennoch wird hier eine Ahnung davon spürbar, daß die Individuen, die nicht wissen, was passieren wird, keineswegs die rationalen Akteure sind, die sie auf dem „biologische(n) Markt“ der Partnerwahl (vgl. Tomasello 2016, S.17) vorgeblich sind.

Mit der Beschreibung des ‚Tratsches‘ bewegt sich Tomasello auf der Grenze zwischen kleinen und großen Gruppen. Deshalb müßte er vor allem auch den zeitgenössischen Menschen thematisieren. Aber Tomasello beschränkt sich auf den modernen Menschen bis zum Neolithikum, also bis vor etwa 10.000 Jahren. (Vgl. Tomasello 2016, S.137) Es sind vor allem Wildbeuter-Gesellschaften, die er thematisiert. Was in solchen kleinen Gruppen bzw. Gemeinschaften funktionierte, stellt sich aber auf der Ebene von zeitgenössischen Gesellschaften, also seit dem Neolithikum, ganz anders dar und muß auch von hierher rückblickend neu bewertet werden. Darauf werde ich in meinen beiden letzten Posts zu sprechen kommen.

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