„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 9. Mai 2017

Étienne Balibar, Die drei Endspiele des Kapitalismus, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.213-235

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Der Titel des Beitrags von Étienne Balibar, „Die drei Endspiele des Kapitalismus“ (2017), ist, was das Thema betrifft, gleichermaßen redundant wie unvollständig. Daß es sich bei den drei Endspielen um Endspiele des Kapitalismus handelt, ist klar und muß nicht eigens erwähnt werden. Tatsächlich geht es in Balibars Beitrag aber nicht einfach nur um drei ‚Endspiele‘, sondern auch um eine vierte Version der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaftsformationen, ähnlich wie bei den drei Musketieren, bei denen es vor allem um den vierten geht. Deshalb mein alternativer Vorschlag für den Titel: „Drei Endspiele und eine Apokalypse“.

Balibar macht in dankenswerter Weise die Problematik des geschichtsphilosophischen Denkens in der theoretischen und in der politischen Auseinandersetzung um die Realisierung des Sozialismus deutlich. Bei aller geschichtsphilosophischen Entschlossenheit, die Karl Marx selbst, geschult in Hegelscher Dialektik, an den Tag legt, kann Balibar zeigen, daß die Konzeption des ersten Bandes des „Kapitals“ – der einzige unten den drei Bänden, den Marx selbst verfaßt und veröffentlicht hat – mehrere Alternativen hinsichtlich einer Überwindung des Kapitalismus, also verschiedene Versionen des ‚Endspiels‘, offen läßt. Das liegt Balibar zufolge weder an den schriftstellerischen Grenzen von Karl Marx, dem Balibar hier im Gegenteil volle schriftstellerische Kompetenz zuspricht (vgl. Balibar 2017, S.221), noch an den kontingenten Bedingungen seiner Zeit, wie etwa der Zensur (vgl. Balibar 2017, S.219). Vielmehr ließ Marx, wie Balibar betont, „bestimmte Alternativen, auf welche sein eigenes Denken hinauslief“, mit voller Absicht „offen als solche hervortreten“. (Vgl. Balibar 2017, S.220)

Der letzte Abschnitt des vorletzten Kapitels über das Ende des Kapitalismus – Balibar weist ausdrücklich auf den seltsamen Umstand hin, daß sich diese ‚Schlußworte‘ nicht am Ende des ersten Bandes befinden, wo sie eigentlich hingehören (vgl. Balibar 2017, S.218) –, enthält nach Balibars Auffassung drei verschiedene Schichten, die auf drei verschiedene Formen des ‚Endspiels‘, also der Überwindung des Kapitalismus hindeuten. Die erste Schicht dieses Textes bezieht sich auf die französischen Sozialisten, was sich auch schon an der auffälligen Häufung von französischen Wörtern wie „Expropriation der Expropriateure“ zeigt. Hier haben wir es Balibar zufolge gleichermaßen mit einer „Kontinuität“ zur wie mit einem „Fortschritt“ hinsichtlich der französischen Revolution zu tun. Die Kontinuität besteht in der Gewaltförmigkeit der Überwindung des Kapitalismus; der  Fortschritt besteht darin, daß diese revolutionäre Gewaltförmigkeit zu einer höheren Entwicklungsstufe als die der französischen Revolution gehört, die, also die Entwicklungsstufe, die „Vergesellschaftung“ der im Kapitalismus „konzentrierten und zentralisierten Produktionsmittel“ (vgl. Balibar 2017, S.221f.) in einen Kommunismus transformiert.

Diese Version der Überwindung ist – wie auch das zweite ,Endspiel‘ – aus zwei Gründen geschichtsphilosophisch: zum einen wegen der dialektischen Struktur von Gewalt – beginnend mit der ursprünglichen Akkumulation (vgl. Balibar 2017, S.223) – und revolutionärer Gegengewalt, zum anderen wegen der Gleichartigkeit des vom Kapitalismus ausgehenden und in den Kommunismus übergehenden Vergesellschaftungsprozesses.

Auch die zweite Version einer Überwindung des Kapitalismus, die Balibar anspricht, ist extrem gewaltförmig und mit ihrem „Messianismus“ – also dem quasireligiösen Versprechen einer Erlösung – geschichtsphilosophisch. Balibar verweist auf die Gleichartigkeit von Marxens „Expropriation der Expropriateure“ mit einem Vers aus Jesaja: „Eure Unterdrücker werden ihrerseits (von Euch) unterdrückt werden“. (Balibar 2017, S.222)

Auch hier wird die messianische Gewalt wieder durch die Gewalt der Unterdrücker gerechtfertigt. Auch Marxens Darstellung der ursprünglichen Akkumulation folgt Balibar zufolge dem messianischen Muster:
„In dieser Erzählung findet sich noch eine andere Formulierung des messianischen Typus, die nämlich, dass die ‚Gewalt ... der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht‘ (23:779).“ (Balibar 2017, S.223)
Jede Behauptung, daß es schon Gründe gab für eine neue Gesellschaftsordnung, bevor es diese Gesellschaftsordnung gibt (‚Schwangerschaft‘), ist geschichtsphilosophisch und konstruiert diese Gründe. Dieses vergangenheitsbezogene Vorgehen unterscheidet sich nicht von der auf die Zukunft gerichteten Vorstellung, daß die Entwicklungstendenz einer Gesellschaft strukturell festgelegt ist! Viel plausibler als solche Geschichtsphilosophie ist es aber, daß gerade die Gewaltförmigkeit des Übergangs von der einen Gesellschaftsordnung zur anderen den hauptsächlichen Grund für einen solchen Übergang bildet.

Die dritte Version einer Überwindung des Kapitalismus ist ebenfalls geschichtsphilosophisch begründet, aber nicht gewaltförmig, sondern evolutionär bzw. reformistisch:
„In dieser erscheinen die Formen der Expropriation im Kapitalismus geradezu als Vorwegnahme oder sogar als mögliche Instrumente einer kollektiven Aneignung oder auch der Formen jener Assoziation, welche den Kommunismus auszeichnen wird.“ (Balibar 2017, S.223)
In dieser evolutionären Variante entspricht die „Vergesellschaftung durch das Geld“ der „Vergesellschaftung durch die Arbeit“ (vgl. Balibar 2017, S.226), weshalb es zu keinem Gewaltübergang zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu kommen braucht, sondern die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse die fortgeschrittenen Produktionsmittel der alten einfach friedlich übernehmen. Dabei bilden vor allem die sich im Kapitalismus herausbildenden Monopole und die Finanzwirtschaft Vorformen der neuen kommunistischen Vergesellschaftung. (Vgl. ebenda)

Ehrlich gesagt habe ich das nicht verstanden. Es ist mir unerfindlich, wie ausgerechnet der Finanzkapitalismus eine Vorform von „Genossenschaft (oder der ‚neuen Commons‘)“ bilden kann. (Vgl. Balibar 2017, S.226) Wichtig ist mir an dieser Stelle aber etwas anderes: Gerade in der evolutionären Variante wird die Technologiegläubigkeit Marxens besonders deutlich. Technologie ist immer etwas Gutes, egal vor welchem Hintergrund sie entwickelt und eingesetzt wird. Ohne Technologie kann sich Marx die Zukunft der Menschheit nicht vorstellen. Die Technik ist niemals ein Problem, nur die jeweilige Gesellschaft, in der sie zum Einsatz kommt. Marxens Denken ist durch und durch technologiekonform: Er setzt Technologie mit Rationalität gleich! Und deshalb auch immer diese unvermeidliche Geschichtsphilosophie, denn auch sie basiert auf diesem Glauben an Technologie.

Dann gibt es aber noch diese vierte Version, die in eine ganz andere Richtung deutet. Balibar verweist auf ein Kapitel, das ursprünglich zum ersten Band des „Kapitals“ gehörte, das Marx dann aber doch nicht veröffentlicht hatte, obwohl es „ursprünglich dessen letzten Abschnitt hatte bilden sollen“:
„Aus der Behandlung der Widersprüche und Konflikte der Formveränderungen des Kapitalismus und den Möglichkeiten des Klassenkampfes in diesem Kapit(e)l geht hervor, dass die Entwicklungstendenz des Kapitalismus als solche nihilistisch ist.“ (Balibar 2017, S.230)
Das muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: der Kapitalismus ist nicht produktiv, so daß die nachfolgenden Gesellschaftsformen auf ihm positiv aufbauen können, sondern nihilistisch. Es gibt also weder einen gewaltförmigen noch einen friedlichen Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus, in dem letzterer sich der Technologie des ersteren einfach so – nur unter anderen Vorzeichen – bedienen könnte!

Balibar zeichnet anhand dieses unveröffentlichten Kapitels die Auseinandersetzung um die Länge des Arbeitstags nach, die Karl Marx als „Bürgerkrieg“ beschrieben hatte. Die Arbeiter wollen weniger arbeiten, der Kapitalist will, daß sie mehr arbeiten, möglichst 24 Stunden am Tag. Die Tendenz dieses Bürgerkriegs geht Balibar zufolge in Richtung auf einen „absolute(n) Kapitalismus“, wie wir ihn heute auch als „Neoliberalismus“ kennen. (Vgl. Balibar 2017, S.213) Sie führt zu einer „totalen Subsumtion“ des Arbeiters unter die kapitalistischen Produktionsbedingungen, die „auch noch die Reproduktion des Lebens und des Alltags den Gesetzen der Warenform und des Profits unterwirft und sie zu einer ergänzenden ‚Industriebranche‘ ausgestaltet“. (Vgl. Balibar 2017, S.231)

In dieser apokalyptischen Version eines absoluten Kapitalismus merken die Arbeiter gar nicht mehr, daß sie völlig versklavt worden sind, weil „jede Regung schon vorab vom Kapitalismus instrumentalisiert oder unter Kontrolle gehalten wird“. (Vgl. Balibar 2017, S.231) Die Vorstellung in dem Beitrag von Robert Misik, die einfache Fortschreibung der kapitalistischen Produktionsmittel (Technologie) unter anderen gesellschaftlichen Vorzeichen ginge mit einer Entwicklung unserer individuellen Talente und Kreativität einher (vgl. Greffrath (Hg.) 2017, S.171-183 und meinen Post vom 07.05.2017), ist deshalb nur Ausdruck einer solchen Sklavenmentalität. Tatsächlich muß jede Kritik des Kapitalismus auch eine Kritik der Technologie beinhalten, wenn sie vollständig sein soll. Und eine solche Kritik deutet sich in dem von Balibar diskutierten Kapitel an.

Schade daß es unveröffentlicht geblieben ist.

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Montag, 8. Mai 2017

David Harvey, Die Schwarze Materie des Kapitals. Krisen Schulden, Widerstand und die Dialektik von Wert und Anti-Wert (2017)

(In: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.187-208
Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

David Harvey weist in seinem Beitrag „Die Schwarze Materie des Kapitals“ (2017) darauf hin, daß in dem dialektischen Aufbau von Marxens „Kapital“ immer der Anti-Wert übersehen worden ist. Dabei, so Harvey, „wäre es schon sehr ungewöhnlich, wenn Marx einen Schlüsselbegriff wie Wert entwickeln würde, ohne die Möglichkeit seiner Negation einzubeziehen“. (Vgl. Harvey 2017, S.192)

Vor allem zwei Momente bestimmen Harvey zufolge die kapitalistische Wertform: Wert ist nur „Wert in Bewegung“ (vgl. Harvey 2017. S.193), und Produkte haben nur dann einen Wert bzw. werden nur dann zu einer Ware, wenn sie jemand braucht:
„Der erste Abschnitt des ersten Kapitels im ersten Band des Kapital endet mit den Worten: ‚Endlich kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchsgegenstand zu sein. Ist es nutzlos, so ist auch die in ihm enthaltende Arbeit nutzlos, zählt nicht als Arbeit und bildet daher keinen Wert.‘ (MEW 23:55)“ (Harvey 2017, S.192)
Von der ersten der genannten beiden Grundbedingungen der kapitalistischen Wertform leitet Harvey den Anti-Wert ab. Anti-Wert ist Bewegungsstillstand: Sobald es in der Wertproduktion von der Investition über die Produktion bis hin zum Verkauf an irgendeiner Stelle zum Stillstand kommt, verlieren Kapital, Produktionsmittel und Waren schlagartig ihren Wert. (Vgl. Harvey 2017, S.2017)

Dennoch bildet der Anti-Wert Harvey zufolge den inneren Motor der kapitalistischen Wertproduktion:
„Die Notwendigkeit, den Anti-Wert zu tilgen“ – z.B. durch Automatisierung der Produktion und durch künstliche Erzeugung von Bedürfnissen in der Werbung – „ist eine treibende Kraft der Wertproduktion.“ (Harvey 2017, S.196)
Die Kapitalisten geben sich also alle Mühe, Stillstand zu vermeiden, wo es nur geht, was insgesamt den technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt vorantreibt.

Harvey benennt insgesamt zwei Bereiche, in denen es zu „aktive(m) Anti-Wert“ kommt (vgl. Harvey 2017, S.194f.), und einen dritten Bereich, den man vielleicht als bewegungsimmanenten Anti-Wert bezeichnen könnte: die „Stätten der Produktion“, die „Sphäre der Realisierung“ (vgl. Harvey 2017, S.194f.) und den Kredit (vgl. Harvey 2017, S.196ff.). In den Stätten der Produktion ist es der Arbeiter, der Anti-Wert erzeugt, wenn er seine Arbeit sabotiert oder wenn er streikt:
„Die Arbeiterklasse als solche (was wir auch immer darunter verstehen) ist die Verkörperung des Anti-Werts. Die Verweigerung der Arbeit (z.B. als Absentismus, Dienst nach Vorschrift, Sabotage, Anm.d.Hg.) ist der personifizierte Anti-Wert. Dieser Klassenkampf findet an den verborgenen Stätten der Produktion statt.“ (Harvey 2017, S.195f.)
Die „Sphäre der Realisierung“ ist der Markt, wo der Verbraucher entscheidet, welche Waren er kauft und welche nicht:
„Hier verfügen die Käuferinnen von Waren, egal welcher Klasse sie angehören, über ein gewisses Maß an individueller oder kollektiver Wahlfreiheit.“ (Harvey 2017, S.195)
Indem Verbraucher den Kauf bestimmter Waren verweigern, entwerten sie diese Waren. Verbraucher bedrohen also die Realisierung des Werts. Es ist demnach nicht nur der ‚starke Arm‘ des Arbeiters, den der Kapitalist zu fürchten hat, sondern auch der eigene Wille des Verbrauchers.

An dieser Stelle, nämlich beim Verbraucher, entstehen Möglichkeiten des Widerstands, „Strategien der De-Kommodifizierung“ (Harvey 2017, S.195), die „Nischen“ (Harvey 2017, S.195) eröffnen, „heterotopische Räume in den Zwischenwelten des kapitalistischen Systems“ (Harvey 2017, S.204), und die manchmal zu „regelrechte(n) soziale(n) Bewegungen des Widerstands“ führen (vgl. Harvey 2017, S.195).

Die Macht des Verbrauchers ist Harvey zufolge im traditionellen Marxismus eher vernachlässigt worden:
„Generell sind alle Bewegungen, die sich gegen die Verführung der Verbraucher und Ersatzbefriedigungen richten, eine politische Bedrohung der Realisierung des Werts – ob sie sich nun ausdrücklich als antikapitalistische Kämpfe verstehen oder nicht. Marx beschäftigte sich damit nicht weiter und erwähnt sie höchstens beiläufig.“ (Harvey 2017 S.195)
Harvey wendet sich aber ausdrücklich gegen den Versuch, die kapitalistische Produktionsweise durch alternative Wertkonzepte reformieren zu wollen. So verweist er auf Versuche, „‚Wissen‘ und Wissenschaft in die Wertberechnung einzubeziehen“ (vgl. Harvey 2017, S.204) und auch „die ‚Gratisnaturkräfte‘ mithilfe von recht willkürlichen Bewertungsverfahren, wie sie zum Beispiel von Umweltökonomen vorgeschlagen wurden, in den Strom der Wertproduktion zu integrieren“ (vgl. Harvey 2017, S.205). Der Wunsch, das, was man wertschätzt, auch monetär zu quantifizieren, sei zwar verständlich, aber „politisch“, so Harvey, geht diese Strategie „in die völlig falsche Richtung“:
„Gerade aus den Räumen des Nicht-Werts und der nichtentfremdeten Arbeit und nicht durch deren Integration kann eine grundlegende und die Massen ergreifende Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, seiner spezifischen Form des Werts und der entfremdeten Verhältnisse vorgetragen werden.“ (Harvey 2017, S.204)
Niemand, so zitiert Harvey Marx, ist gerne „Produzent von Wert und Mehrwert in der kapitalistischen Produktionsweise“. (Vgl. Harvey 2017, S.204) Warum also, fragt der Autor, „sollten sich fortschrittliche Menschen dafür einsetzen, solch einem Regime unterworfen zu werden?“ (Vgl. Harvey 2017, S.206) Genau das geschieht aber, wenn wir den Wertbegriff auf die Gratisnaturkräfte übertragen.

Am Begriff des „Nicht-Werts“ wird deutlich, in welchem Dilemma wir uns in einer Gesellschaftsform befinden, in der der Wertbegriff durch und durch waren- und geldförmig geprägt ist und sogar der Anti-Wert noch im Dienst der Wertproduktion steht. Harvey zufolge geht es darum, den Widerstand gegen diese Wertorentierung von allen jenen Bereichen aus zu organisieren, in denen „Arbeit für andere und nicht für den Markt“ geleistet wird. (Vgl. Harvey 2017, S.205) Zu diesen Bereichen zählt Harvey die Kulturproduktion mit all ihren Ambivalenzen und ihrem „Potenzial an freier Tätigkeit, ihre Suche nach Formen eines nichtentfremdeten Lebens“, die Hausarbeit, trotz ihrer „inneren Widersprüche und Entfremdungsformen“, sowie „Wissenschaft“ und „Natur“. (Vgl. Harvey 2017, S.204ff.)

Harveys Aufruf zu solchen Widerstands- und Lebensformen wie etwa der „solidarischen Ökonomie“ ist aufgrund seiner Grundsatz-Kritik glaubwürdiger als die entsprechenden Ausführungen im Vorgängerbeitrag von Robert Misik, der den kapitalistischen Fortschrittsgedanken einfach auf die postkapitalistische Ära überträgt. (Vgl. Greffrath (Hg.), S.171-183; vgl. auch meinen Post vom 07.05.2017)

Die dritte Form des Anti-Werts ist laut Harvey der Kredit. (Vgl. Harvey 2017, S.196) Das verwundert zunächst, da der Kredit offensichtlich zunächst einmal nicht zum Stillstand der Wertbewegung bzw. der Wertproduktion führt, sondern sie im Gegenteil anfeuert:
„Der Kredit belebt das zum Schatz erstarrte und daher ‚tote‘ Geldkapital und bringt es erneut in Bewegung.“ (Harvey 2017, S.198)
Wenn ich Harvey richtig verstanden habe, ist es die Tendenz des Kredits zu immer größeren Schuldenanhäufungen, die den Kredit zum Anti-Wert macht. So bezeichnet er „die City of London, die Wall Street, Frankfurt, Shanghai usw“ als „Schuldenabfüllanlagen“. (Vgl. Harvey 2017, S.199) Vielleicht darf man den Autor so verstehen, daß die Kreditwirtschaft die Produktion von den Bedürfnissen des Verbrauchers und damit vom Geberauchswert abkoppelt. Da aber allein der Gebrauchswert den Wert von Produkten bestimmt, führt die Kreditwirtschaft zur Vernichtung von Wert.

Das ist wohl auch gemeint, wenn Harvey festhält, daß die „Schuldknechtschaft“ bis weit in eine ferne Zukunft hinein festlegt, was produziert wird und was nicht:
„Statt einer Akkumulation von Wert und Reichtum erzeugt das Kapital eine Akkumulation von Schulden, die abgegolten werden müssen. Die Zukunft der Wertproduktion ist blockiert.“ (Harvey 2017, S.198)
Damit sind auch „alle zukünftigen Alternativen“ kommender Generationen verbaut. (Vgl. Harvey 2017, S.207) Harvey plädiert deshalb für eine „gezielte Abwicklung oder regelrechte Zerstörung des Schuldenturms, der uns die Zukunft diktiert“. (Vgl. ebenda)

Das allerdings klingt in meinen Ohren irgendwie wieder nach Schumpeter und seiner schöpferischen Zerstörung, nach der das Kapital fröhlich wieder von vorn beginnen kann. Es sei denn, wir finden eine Form des Nicht-Werts jenseits von Bewegung und Stillstand.

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Sonntag, 7. Mai 2017

Robert Misik, Miteinander gegeneinander arbeiten, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.171-183

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Die Arbeitsteilung ist immer schon auch eine Form der Kooperation, nicht erst seitdem die Menschen in Fabriken gesperrt wurden, um dort am Fließband in kleinsten Schritten mit einfachsten Handgriffen im Minutentakt Produkte herzustellen, für die zuvor ein einzelner Handwerker Tage und Wochen gebraucht hatte. Robert Misik hebt in seinem Beitrag „Miteinander gegeneinander arbeiten“ (2017) den Doppelcharakter dieser Kooperation im Kapitalismus hervor:
„Es ist ein Miteinander, das zugleich ein Gegeneinander ist. So gebiert gerade der Kapitalismus auf vielen Ebenen die Kooperation, hemmt sie aber zugleich. Sie ist ambivalent ... sie hat einen Doppelcharakter.“ (Misik 2017, S.171f.)
Dieser Doppelcharakter besteht zum einen in der „Geist- und Willenlosigkeit“ der „Arbeiterheere“, die in einem „Zwangsregime der Fabrik zusammengespannt“ werden (vgl. Misik 2017, S.172), und zum anderen in der „Solidarität“, die die Arbeiter in diesen Fabriken dennoch füreinander an den Tag legten:
„So wurde es üblich, dass kräftigere Arbeiter schwächere unterstützten. Arbeiter konnten sich in einem Eck ausschlafen – etwa jene, die gerade ein Haus für die Familie bauten und entsprechend erschöpft zur Arbeit kamen –, dafür arbeiteten die Kollegen eben einen Zahn schneller. ... aus dieser instinktiven Solidarität unter den Arbeitern wuchs etwas, das später Klassenbewusstsein heißen sollte.“ (Misik 2017, S.175)
Diese Solidarität der Arbeiter untereinander ist im Kontext des Fabriksystems etwas besonderes. Sie zeugt von einem „Eigensinn“ (Misik 2017, S.176), der in der die Fabrik kennzeichnenden „Planung, Kontrolle, Überwachung“ (Misik 2017, S.173) nicht vorgesehen gewesen war:
„Die scheinbare Despotie des Fabriksystems wurde so durch Eigensinn immer unterlaufen, und die gewohnheitsmäßigen Praxen (der Solidarität – DZ) waren die Ergebnisse von etwas, was man heute ‚Aushandlungsprozesse‘ nennt – im einzelnen Betrieb, oder, von Gewerkschaften und Sozialpolitikern durchgesetzt, auf gesellschaftlicher Ebene.“ (Misik 2017, S.176)
Wodurch wurde dieser Eigensinn der Fabrikarbeiterschaft möglich? Welches Menschenbild müssen wir diesem Eigensinn zugrundelegen? – Hier ergibt sich die Notwendigkeit einer anthropologischen Klärung. Misik macht sie sich einfach. Der vom Fabrikbesitzer nicht beabsichtigte Doppelcharakter der Kooperation widerfährt ihm und den Arbeitern einfach, ohne daß sie es wollen:
„Aber wie so oft in der Welt entsteht auch in der Fabrik etwas, was kein Fabrikant so je geplant hat, genauso wie im Kapitalismus überhaupt Prozesse wirksam werden, die aus dem Zusammenspiel verschiedener Aktivitäten entstehen ... Das, was rauskommt, gestaltet sich hinter dem Rücken der Einzelnen.“ (Misik 2017, S.174; Hervorhebung: DZ)
An dieser Feststellung ist durchaus etwas dran. Misik beschreibt hier die Lebenswelt, in die wir hineingeboren und hineingewachsen sind und die hinter unserem Rücken fungiert. Aber im Endeffekt führt Misik die Eigensinnigkeit der Fabrikarbeiterschaft nicht auf die Arbeiter zurück, sondern auf die Lebenswelt: es ist vor allem die Lebenswelt, die sich „hinter dem Rücken der Einzelnen“ ‚gestaltet‘ und die sich ‚eigensinnig‘ der Planung und Kontrolle des Fabriksystems entzieht.

Da stellt sich dann aber wieder ein Problem: welche Lebenswelt? – Ist nicht für die Arbeiter längst das Fabriksystem zur Lebenswelt geworden? Woher nehmen die Arbeiter also die Solidarität, auf die dieses Fabriksystem eben nicht angelegt ist?

Das Problem stellt sich noch schärfer, wenn wir nochmal auf das zugrundeliegende Menschenbild zurückkommen; der Autor stellt in Übereinstimmung mit Marxens Definition des Menschen als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse fest:
„... das Wesen des Menschen ist nichts Essentielles, Vorgängiges, etwas was immer schon da ist jenseits seiner konkreten gesellschaftlichen Gemachtheit.“ (Misik 2017, S.181f.)
Auch wenn dem Autor dahingehend zugestimmt werden kann, daß es so etwas wie ein menschliches Wesen nicht gibt, bedeutet das noch lange nicht, daß sich alles Menschliche auf sein gesellschaftliches Gemachtsein reduziert. Denn daraus ergäbe sich keine Eigensinnigkeit, wie sie Misik der Fabrikarbeiterschaft zubilligt. Im Rahmen eines solchen Menschenbildes kann es keinen Doppelcharakter der Kooperation geben, der die Despotie des Fabriksystems unterläuft.

Ein vollständiges Menschenbild muß immer drei Entwicklungsprozesse zusammendenken: die biologischen, die gesellschaftlichen und die individuellen. Und es sind immer die Individuen, die die beiden anderen Entwicklungsprozesse auf je neue Weise konkretisieren. Es gibt eine Stelle, wo Marx selbst den Menschen in diesen umfassenden Zusammenhang der Erdgeschichte stellt:
„Damit der ‚Mensch‘ zum Gegenstand des sinnlichen Bewusstseins und das Bedürfnis des ‚Menschen als Menschen‘ zum Bedürfnis werde, dazu ist die ganze Geschichte die Vorbereitungs/Entwicklungsgeschichte. Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. ...“ (Ökonomisch-philosophische Manuskripte (MEW 40:543); in Greffrath (Hg.) 2017, S.131)
Dieses bemerkenswerte Zitat muß dann aber noch dahingehend ergänzt werden, daß diese ‚Naturgeschichte‘ einen Anachronismus zwischen den verschiedenen Entwicklungsprozessen beinhaltet, aus denen sie zusammengesetzt ist. Und genau dieser Anachronismus führt zu der von Misik beschriebenen Eigensinnigkeit der Fabrikarbeiterschaft.

Wie sehr Misik die tatsächliche ‚Eigensinnigkeit‘ verfehlt, zeigt sich daran, wie er Fortschritt und Automatisierung zusammendenkt: Automatisation ist für ihn nichts anderes als das ‚Hinüberwandern‘ der Kooperation – und damit auch der Solidarität? – in die Maschine. (Vgl. Misik 2017, S.179) – Dem können nur diejenigen zustimmen, die mit Misik der Meinung sind, daß die Solidarität der Arbeiterschaft etwas gewesen ist, das „hinter ihrem Rücken“ zustandegekommen war. Dann kann sie natürlich auch genauso gut Teil eines „automatischen System(s)“ sein. (Vgl. ebenda)

Misik übernimmt in diesem Zusammenhang auch den Fortschrittsgedanken, wie ihn auch schon Marx vertreten hatte, daß nämlich der Kapitalismus zu seiner Zeit „eine fortschrittliche Gesellschaftsordnung“ gewesen sei, „jedenfalls in Relation zu allen bisherigen Gesellschaften“. (Vgl. Misik 2017, S.176) Er hat nämlich effektiver als die anderen Gesellschaftsordnungen die natürlichen Ressourcen der menschlichen Gesellschaft und des Planeten ausgeplündert:
„Er entwickelt die Produktivkräfte, modernisiert die Gesellschaft, hebt den Wohlstand(), verfeinert die Sitten, verbreitet Bildung und Zivilisation, wenngleich er durch brutale Ausbeutung ganze Völker oder Bevölkerungsgruppen ins Elend stößt. Berühmt sind die Passagen des Kommunistischen Manifestes etwa, wonach die Bourgeoisie ‚durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation‘ (Kommunistisches Manifest, MEW 4:466) reiße. Durch die Entwicklung der Produktivität schaffe der Kapitalismus die Voraussetzungen dafür, das ökonomische Problem, nämlich den Mangel, endgültig zu überwinden und durch eine Gesellschaft des Überflusses zu ersetzen, kurzum, durch einen weltlichen Garten Eden, wenn man das etwas romantisch ausdrücken mag.“ (Misik 2017, S.176f.)
Man ersetze einfach ‚Ausplünderung‘, ‚Raub‘ und ‚Vernichtung‘ durch ‚Modernisierung‘, ‚Verfeinerung‘ und ‚Entwicklung‘, und schon ist alles Elend, das über die ‚barbarischen‘ Völker verhängt wird, gerechtfertigt.

Letztlich bleibt hier völlig unreflektiert, was Begriffe wie „Wohlstand“ und „Überfluss“ eigentlich mit der Natur des Menschen zu tun haben. Inwiefern haben diese Begriffe etwas mit seinen Bedürfnissen zu tun? Wo ist die Grenze zum Müll, zur Degeneration? Was, bitte, ist überhaupt Bildung? – Hätte sich Misik ernsthaft insbesondere dieser letzten Frage gestellt, wäre ihm kaum die Peinlichkeit unterlaufen, davon zu schwärmen, wie die Menschen, u.a. dank der kapitalistischen Wirtschaftsform, „neue gesellschaftliche Leitbilder“ entwickelt haben, zu denen auch die „Wertvorstellung“ gehört, „dass man aus seine(m) Leben etwas machen soll, dass es darum geht, seine Talente zu entwickeln, sich selbst zu verwirklichen“ und „kreativ zu sein“. (Vgl. Misik 2017, S.181) – Willkommen im Prekariat!

Leider ist es tatsächlich so, daß Marx selbst von der bildenden Kraft der Industriearbeit überzeugt gewesen war, weshalb er glaubte, daß Kinderarbeit ihre positiven Seiten hat, da sie Gelegenheit bietet, unmittelbar in Kontakt mit den neuesten technologischen Erzeugnissen der Ingenieurskunst, den Maschinen, zu treten. (Vgl. meinen Post vom 04.09.2013) Letztlich führt Marxens Begriff der Politechnischen Bildung direkt zum heutigen ‚Humankapital‘: jedes Individuum ‚entwickelt‘ sein eigenes Potential, um wie ein Unternehmer den größtmöglichen ‚Profit‘ daraus zu ziehen. (Vgl. meine Posts vom 16.08. bis zum 18.08.2013 und vom 19.08. bis zum 23.08.2013)

Alles, was Misik zum „dritten Sektor“ zu schreiben weiß, zur „solidarischen Ökonomie“, zu „kleine(n) Steinchen, die man ins Wasser wirft“ und die „konzentrische Kreise ziehen können“, als Ausblick auf eine postkapitalistische Zukunft, krankt an dieser Naivität, mit der er den kapitalistischen Fortschrittsgedanken einfach übernimmt und auf unsere Zukunft überträgt.

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Samstag, 6. Mai 2017

Paul Mason, Befreit die Maschinen – denn sie befreien uns, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.155-167

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Auf der Grundlage der Marxschen These „vom tendenziellen Fall der Profitrate“ (vgl. Masion 2017, S.156) entwickelt Paul Mason in seinem Beitrag „Befreit die Maschinen – denn sie befreien uns“ (2017) eine an die Star-Trek-Serie erinnernde Maschinenutopie:
„Das Wachstum eines kooperativen Sektors inmitten der kapitalistischen Wirtschaft – und eine Informationstechnik, die den Wertanteil von Kapital und Arbeit in vielen Produkten exponentiell sinken lässt: beide verweisen auf einen Weg, der aus einem Marktsystem, das auf künstlichem Mangel beruht, in eine Gesellschaft des Überflusses führen kann – Überfluss an Information, freier Zeit und an physischen Gütern, die von Computern und Robotern hergestellt werden. Technologisch sind wir auf dem Weg zu kostenlosen Gütern, nichtmessbarer Arbeit, exponentiellen Produktivitätszuwächsen und der umfassenden Automatisierung physikalischer Prozesse.“ (Masion 2017, S.165)
Es sind zwei problematische Momente, die sich gegen die von Mason beschriebene Utopie einwenden lassen: Das von ihm gepriesene Produktivitätswachstum führt zunächstmal nicht zu einer nachhaltigen, die Ressourcen schonenden Wirtschaftsform, sondern im Gegenteil zu vermehrtem Raubbau an den Ressourcen; und die viel gelobten Netzwerke – Mason spricht vom „Krieg zwischen Netzwerk und Hierarchie“, wobei er ‚Netzwerk‘ mit ‚Allmende‘ parallelisiert (vgl. Mason 2017, S.166) – bilden oft genug nur ‚Blasen‘ bzw. ‚Echoräume‘, in denen sich diejenigen versammeln, die ihre Meinung nur vor der Kritik der anderen schützen wollen.

Es ist eine Mär, daß die Informationstechnologie als solche ökologisch sei und ein ökologisches Potential entfalte, wie Mason zu meinen scheint, wenn er von ihrem „Gebrauchswert“ schwärmt, als Grundlage einer Produktionsweise „mit winzigsten Mengen von Energie und Material und ohne dass zusätzliche Arbeit anfällt“. (Vgl. Mason 2017, S.160) Wenn mein diesbezügliches Wissen nicht schon wieder veraltet sein sollte, produziert jeder Mausklick im Internet einen Energieverbrauch, wie er beim Kochen einer Tasse Tee anfällt. Am Internet hängt eine gigantische Infrastruktur, die wiederum riesige Mengen an Energie und Material verbraucht. Und bei den von der Informationstechnologie ermöglichten „exponentiellen Produktivitätszuwächsen“, von denen Mason spricht, müßte allererst geklärt werden, wie man verhindern kann, daß diese angeblich ressourcenschonenden Produktionszuwächse nicht sofort wieder über gesteigerten Konsum in vermehrten Raubbau an Ressourcen mündet.

Solche technologiekritischen Fragen interessieren Mason in seinem Beitrag nicht, obwohl Ansätze zur Kritik an einer dem Kapital hörigen Wissenschaftsorganisation und Technologieinnovation durchaus vorhanden sind. (Vgl. Masion 2017, S.162f.) Stattdessen schwärmt Mason vom „Zeitalter der befreiten Maschinen“ und von „perfekten Maschinen“. (Vgl. Mason 2017, S.166f.) Der Mensch kommt als Gegenstand der Befreiung nur noch im Titel seines Beitrags vor, als Objekt eines Maschinensubjekts, das ihn befreit. Eine Anthropologie hinsichtlich der Bedürfnisorganisation dieses Menschen – und die damit verbundene Frage, was dieser mit seiner Freiheit anzufangen weiß – fehlt völlig.

Damit fällt Mason weit hinter den Erkenntnisstand eines Günther Anders und seines Buchs „Die Antiquiertheit des Menschen“ (Bd.I, 1956) zurück.

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Freitag, 5. Mai 2017

Mathias Greffrath & Michael Quante, Dialektik und Entfremdung. Zur Aktualität der Philosophie von Karl Marx: ein Gespräch (2017)

(In: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.133-150
Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Folgt man dem Titel des Gesprächs zwischen Mathias Greffrath und Michael Quante, „Dialektik und Entfremdung“ (2017), geht es in diesem Gespräch um Entfremdung; also im Karl Marxschen Sinne um eine Form der Arbeit, die nur noch der Selbsterhaltung des arbeitenden Menschen dient, aber nicht mehr seiner Selbstverwirklichung. Hier eröffnet sich auf der anthropologischen Grundlage des von Helmuth Plessner beschriebenen Hiatusses zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung eine dem historisch-gesellschaftlichen Prozeß geschuldete „Spannung“, nämlich, wie Quante es formuliert, ein „gesellschaftlicher Zielkonflikt unserer Lebensform“. (Vgl. Greffrath/Quante 2017, S.146)

Quante erkennt die anthropologische Dimension dieser Spannung und ergänzt richtigerweise, daß sie auch dann bestehen bleiben wird, wenn der gesellschaftliche Zielkonflikt, nämlich zwischen den Interessen des Kapitals und den Interessen der Lohnarbeiterschaft, überwunden sein wird und durch andere – möglicherweise wieder subsistenzorientierte? – Wirtschaftsformen ersetzt worden ist, „in denen die Mühsal der Arbeit minimiert wird, in denen man sich aber zugleich in Arbeit selbst verwirklichen kann“. (Vgl. Greffrath/Quante 2017, S.146) Wenn also die Spannung zwischen Mühsal und Selbstverwirklichung in der Arbeit nicht vollständig auflösbar ist, befinden wir uns hier immer noch auf dem Boden des schon erwähnten, von Plessner beschriebenen anthropologisch konstitutiven Bruchs zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung.

Über weite Passagen des Gesprächs geht es aber nicht nur um Entfremdung. sondern um den der Entfremdung zugrundeliegenden dialektischen Prozeß, also um die historisch-gesellschaftliche Entwicklung, die zum Kapitalismus geführt hat und die, so Marx, auch wieder über den absehbaren Kollaps des Kapitalismus hinaus führen wird. Bei der Beschreibung dieser historisch-gesellschaftlichen Entwicklung hat sich Marx an Hegels Dialektikbegriff orientiert. Und hier tut sich nun ein Problem sowohl in der Darstellungsweise dieses Prozesses wie auch in seiner geschichtlichen Bewertung auf. Hier haben wir es mit einer weiteren, diesmal methodischen Spannung zwischen Strukturalismus und Phänomenologie zu tun, die wiederum mit der Differenz zwischen „Wesen und Erscheinung“ (Greffrath/Quante 2017, S.138) zusammenhängt. Greffrath und Quante weisen mehrmals auf die methodische Parallele zwischen Karl Marx und Niklas Luhmann hin. (Vgl. Greffrath/Quante 2017, S.136f. und S.141) Quante hält fest, daß bei aller Ähnlichkeit im Verfahren es doch einen Unterschied zwischen den beiden Theoretikern gebe:
„Es ist vor allem ein großer Unterschied zur Systemtheorie Luhmann’scher Art, weil die sich jeder Wertung enthält. Die Marx’sche Systemtheorie ist eine, in der das rein Systemische als Ausdruck des scheiternden Lebens verstanden wird, weil die Sinnhaftigkeit durch den Automaten ersetzt ist.“ (Greffrath/Quante 2017, S.141)
Das ist gleichzeitig richtig und falsch. Denn Marx selbst hatte großen Wert darauf gelegt, daß bei ihm Darstellung und Kritik zusammenfallen: Seine sachliche Darstellung des Kapitalismus sollte zugleich als Kritik des Kapitalismus verstanden werden können. (Vgl. hierzu meinen Post vom 21.04.2017) Es klingt so, als hätte Marx zwar den Kapitalismus kritisieren wollen, aber diese Kritik sollte irgendwie doch keine bloße Kritik sein, sondern vor allem eine sachliche Darstellung des Kapitalismus. Das ist eine seltsame Behauptung, etwa wie: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“.

Quante konstatiert, daß Marx davon ausging, daß seine Leser, die den Kapitalismus des frühen 19. Jhdts. noch an eigener Haut erlebt hatten, von vornherein seinen Standpunkt, nämlich die Empörung über die menschenunwürdigen Zustände, teilen würden:
„Marx vertraut darauf, dass jeder, der in einer solchen Gesellschaft lebt, die Beschreibung versteht. Dass er das Scheitern des gelingenden Lebens sozusagen erzählt bekommt.“ (Greffrath/Quante 2017, S.143)
Marx ging also davon aus, daß seine rein sachliche ‚Beschreibung‘ vom Leser als ‚Erzählung‘ verstanden würde, in der dieser sich mit den notleidenden Arbeitern identifiziert. Dann wäre tatsächlich seine Darstellung zugleich eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse. Hinzu kommen zahlreiche expressive Stilmittel, wie Metaphern, Bilder und Ironie (vgl. Greffrath/Quante 2017, S.141), die die Darstellung ‚auflockern‘ und ‚beleben‘, sie also letztlich doch nicht als bloß sachliche Darstellung im Raum stehen lassen.

Warum legt Marx dann aber so viel Wert auf den sachlichen Charakter seiner ‚Darstellung‘? – Er orientiert sich an Hegels „Phänomenologie“, der die historisch-gesellschaftliche Entwicklung des Geistes als Bildungsprozeß beschreibt. Und damit sind wir bei der Differenz zwischen „Wesen und Erscheinung“. Was Hegel eine ‚Phänomenologie‘ nennt, ist nämlich tatsächlich ein Strukturalismus. In dem von Hegel beschriebenen Bildungsprozeß von der Sinnlichkeit über die Entfremdung bis hin zum letztlichen Zu-sich-Kommen des absoluten Geistes sind die verschiedenen Erscheinungsformen des Geistes nie das, was sie zu sein scheinen. Und auch die verschiedenen Individuen, die in diesem historischen Prozeß auftreten, existieren niemals konkret für sich und als sie selbst, an und für sich, sondern verkörpern die verschiedenen Phasen des, auf welchen Umwegen auch immer, zu sich selbst findenden Geistes.

Hegel nimmt also die Phänomene nicht als Phänomene, sondern als bloßen Schein, der das wahre, ihnen zugrundeliegende Sein verbirgt. Und dieses Sein hat eine dialektische Struktur. Es bildet zwar einen Prozeß, aber der Verlauf dieses Prozesses ist von vornherein strukturell festgelegt. Die Struktur des Prozesses ist also unveränderlich. Und das nennt man dann Geschichtsphilosophie.

Genauso stellt sich Marx auch den historisch-materialistischen Entwicklungsprozeß vor, in dem der Kapitalismus nur eine notwendige Übergangphase bildet:
„Für Hegel ist die Logik zeitlos, weshalb er sie im Vorwort zur Wissenschaft der Logik als die Gedanken Gottes vor der Schöpfung bezeichnet. Damit will er sagen: Es geht hier um rein logische Verhältnisse. Im Kapital kombiniert Marx die beiden Ebenen; das macht sein Buch stellenweise schwierig. Aber das, was über Einzelwissenschaft hinausgeht, ist genau dieses Theorieideal, das Marx von Hegel übernommen und zeitlebens beibehalten hat: Eine philosophische Theorie muss ihren Gegenstand immer als eine Totalität darstellen.“ (Greffrath/Quante 2017, S.136)
Die Marxsche Kombination zeitloser Logik und historischer Prozesse bildet also wie Hegels Dialektik einen Strukturalismus. Quante spricht hier von einer der Marxschen Darstellungsweise inhärenten Spannung, die der zwischen Darstellung und Kritik entspricht:
„Deshalb hat man immer die Spannung bei Marx: zwischen dem auf Veränderung hin motivierenden Gestus der Theorie und diesem anderen Strang, den Marx manchmal als dieses ‚Wir-werden-schon-gewinnen‘-Spiel in politischen Debatten benutzte.“ (Greffrath/Quante 2017, S.142)
Das, was Quante hier das „‚Wir-werden-schon-gewinnen‘-Spiel“ nennt ist der Marxschen, von Hegel abgeguckten Geschichtsphilosophie geschuldet: die dem ganzen historisch-materialistischen Prozeß zugrundeliegende Struktur sorgt dafür, daß es für den Menschen im Allgemeinen auf jeden Fall gut ausgehen wird. Wenn auch über viele, viele konkrete Leichen hinweg.

Deshalb also kann Marxens Darstellung des Kapitalismus gleichzeitig Darstellung und Kritik sein. Seine Darstellung ist wie bei Hegel eben nicht einfach eine Darstellung der Phänomene, sondern eine Darstellung der diesen Phänomenen zugrundeliegende Struktur. Und indem diese verborgene Struktur sichtbar gemacht wird, haben wir es bei ihrer Darstellung zugleich auch mit einer Kritik zu tun.

Quante verkennt diese Spannung zwischen Strukturalismus und Phänomenologie. Tatsächlich glaubt er, daß diejenigen, die die Phänomene als solche ernstzunehmen versuchen, Positivisten seien:
„Keine Gesellschaftstheorie, die sich positivistisch versteht, wird diese Dialektik von Wesen und Erscheinung in Anschlag bringen – eine Erscheinung zumal, die das Wesen vielleicht gar nicht adäquat abbildet, sondern eine Verzerrung erzeugt.“ (Greffrath/Quante 2017, S.138)
Ganz im Gegenteil ist aber niemand begieriger nach Strukturen als der Positivist. Er ist, im Sinne des Naturalismusses, immer auf der Suche nach den Naturphänomenen zugrundeliegenden unsichtbaren Kräften und Elementarteilchen. Die einzigen, die mit der Differenz zwischen Wesen und Erscheinung nichts anzufangen wissen, sind die Phänomenologen in der Nachfolge von Edmund Husserl.

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Donnerstag, 4. Mai 2017

Wolfgang Streeck, Niemand wird freiwillig Arbeiter, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.111-128

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Wolfgang Streecks Beitrag, „Niemand wird freiwillig Arbeiter“ (2017), richtet sich explizit gegen das weit verbreitete Narrativ, beim Kapitalismus handele sich um eine freiwillige vertragliche Vereinbarung zwischen ‚Arbeitgeber‘ (Arbeitskraftnehmer) und ‚Arbeitnehmer‘ (Arbeitskraftgeber), also um eine Vereinbarung unter „(f)reie(n) Individuen mit freiem Willen und klarem Verstand“. (Vgl. Streeck 2017, S.113) Streeck stellt klar, daß eine solche Darstellung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse völlig an der Anthropologie des Menschen vorbeigeht, da dieser zu „einem subsistenzwirtschaftlichen Traditionalismus“ neige (vgl. Streeck 2017, S.126), wie etwa in der „mittelalterlichen Subsistenzwirtschaft“ (vgl. Streeck 2017, S.119):
„Niemand wird freiwillig Arbeiter, damit jemand anders Kapitalist werden kann – einen ‚Selbstexpropriatonstrieb der arbeitenden Menschen zu Ehren des Kapitals‘, wie Marx es ausdrückt, gibt es nur bei liberalen Ökonomen ...“ (Streeck 2017, S.123f.)
Um also den Menschen zum Lohnarbeiter zu machen, mußte der „mittelalterlichen Subsistenzwirtschaft“ mit umfassenden staatlichen Gewaltmaßnahmen in einem Prozeß, den Marx als „ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnet, der Garaus gemacht werden. Zu diesem Zweck wurden die ‚Armen‘, die gemäß des christlichen Gebots der Nächstenliebe auf die Hilfe der Gemeinden und Kirchen im „mittelalterlichen Wohlfahrtsstaat“ rechnen durften, zu rechtlosen Vagabunden umdeklariert, die zur Zwangsarbeit verpflichtet werden durften:
„Zu den zahlreichen von Marx zitierten Beispielen gehört ein englisches Gesetz aus dem Jahr 1547, demzufolge jemand, der sich weigert, für Lohn zu arbeiten, ‚als Sklave der Person zugeteilt werden‘ soll, ‚die ihn als Müßiggänger denunziert hat ...‘“ (Streeck 2017, S.118)
Das Heer dieser ‚Vagabunden‘ wurde durch die Privatisierung des bzw. den Raub am Gemeineigentum(s) vergrößert. (Vgl. Streeck 2017, S.116f.) Aus dieser ‚ursprünglichen‘ Akkumulation ging eine permanente ‚Akkumulation‘, sprich Expansion des Kapitalismus auf globaler wie gesellschaftlicher Ebene hervor:
„Schon bei Rosa Luxemburg, der großen marxistischen Gesellschaftstheoretikerin an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, findet sich der Gedanke, dass die ursprüngliche Akkumulation mehr war als ein einmaliger Gründungsakt, als ein fernes Ereignis in einer für immer abgeschlossenen Vergangenheit. Kapitalistischer Fortschritt, was später Wirtschaftswachstum genannt werden sollte, war für Luxemburg gleichbedeutend mit immer weiter politisch vorangetriebener Öffnung noch nicht kapitalistischer Länder, Lebensweisen und Lebensverhältnisse für Markt und Wettbewerb, mit fortschreitender Kolonisierung und Assimilierung von vorkapitalistischen Außen- wie Innenwelten ...“ (Streeck 2017, S.124)
Jürgen Habermas entwickelte aus diesem Gedanken einer „permanenten ursprünglichen Akkumulation“ (Streeck 2017, S.125) seine Theorie der Kolonialisierung der Lebenswelt. (Vgl. meine Posts vom 13.01. bis 20.01.2013)

Wie sehr die ursprüngliche Neigung des Menschen ausschließlich auf die Selbsterhaltung geht, was – nebenbei gesagt – die Unmenschlichkeit der unbezahlten Mehrarbeit als Basis des Mehrwerts verdeutlicht, zeigt ein Beispiel, das Marx aufführt: als ein Kapitalist Material und Arbeiter (3000 Personen) nach Neuholland (Australien) verfrachtete, um dort kapitalistische Produktionsstätten einzurichten, machten sich seine Arbeiter angesichts der Überfülle an zur Verfügung stehendem Land als Bauern selbständig, und dem Kapitalisten blieb nicht einmal ein Diener, der ihm sein Bett machte. (Vgl. Streeck 2017, S.123)

Der Kapitalist hatte nicht berücksichtigt, daß er die englischen ‚Produktionsverhältnisse‘, also die englischen Gesetze und das knappe Land, zuhause gelassen hatte. In Australien gab es nichts, was seine Arbeiter zwingen konnte, zwölf Stunden für ihn zu arbeiten:
„Niemand stellt sich aus eigenem Antrieb, tagein, tagaus zwölf, acht oder wie viele Stunden auch immer zur Verfügung, damit jemand anders sein privateigenes Kapital vermehren kann.“ (Streeck 2017, S.118)
Es ist also ausschließlich die brutale Gewalt und später die Schulerziehung, die die Menschen dazu bringen, sich ‚freiwillig‘ in Lohnarbeit zu begeben. Streecks Darstellung ist überzeugend und klar, und sie räumt auch gleich mit einem weiteren Mythos bzw. Narrativ auf: daß nämlich der Kapitalismus damals die den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechende fortschrittlichste Produktionsweise gewesen sei (was sie heute definitiv nicht mehr ist!). Die gesellschaftlichen Verhältnisse mußten durch die diversen Maßnahmen der ursprünglichen Akkumulation allererst dazu gebracht werden, um eine kapitalistische Produktionsweise zu ermöglichen. Die mittelalterlichen Produktionsverhältnisse mußten zerstört werden, die Menschen mußten enteignet und entrechtet werden, und sie mußten in Form „bewusstseinspflegerischer Gewaltanwendung“ (Streeck 2017, S.126) umerzogen werden. Erst nach diesen Gewaltakten konnte der Kapitalismus möglich werden.

Ein gern benutztes Narrativ der Wirtschaftsliberalen besteht in der größeren Effektivität der kapitalistischen Produktionsweise:
„Grundsätzlicher wird die Kritik, wenn die private Aneignung der dörflichen Allmenden effizienztheoretisch statt als Raub als gemeinnützige Rationalisierungsmaßnahme erklärt wird. Letztendlich geht es dabei um die Rehabilitierung der liberalen Freiwilligkeitstheorie des Kapitalismus: Wenn Gemeineigentum weniger produktiv ist als Privateigentum,() ist der Weg vom einen zum anderen gleichbedeutend mit allgemein wünschenswertem gesellschaftlichem Fortschritt.“ (Streeck 2017, S.121)
Dieses Fortschrittsargument stimmt aus zwei Gründen nicht: zum einen geht es im Kapitalismus eben nicht um Fortschritt, sondern in erster Linie um Profit. Schon „seit langem“, so Streeck, wachsen nur noch „die Gewinne“, „während ‚die Wirtschaft‘ trotz zunehmender Zerstörung von Gesellschaft und Natur stagniert“. (Vgl. Streeck 2017, S.126)

Zum anderen kann der einzelne Mensch mit ständig wachsendem Wohlstand überhaupt nichts anfangen. Er braucht einfach nicht mehr, als er braucht, und er neigt insofern dazu, mit dem zufrieden zu sein, was er hat. Stattdessen wird von den Menschen aber im Dienste des wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts beständige „gehorsame Anpassung“ an Innovationen verlangt, „wo es, wenn es nach ihnen ginge, gut so weitergehen könnte wie bisher“. (Vgl. Streeck 2017, S.126)

Damit wird auch noch das letzte Narrativ in Frage gestellt: daß technische Innovation an sich etwas Gutes sei. – Das ist ganz nach dem Geschmack des Rezensenten. Danke!

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Mittwoch, 3. Mai 2017

Sahra Wagenknecht, Eine geniale Prognose, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.93-107

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Besonders neugierig war ich auf den Beitrag von Sahra Wagenknecht gewesen, „Eine geniale Prognose“ (2017), den ich schon als Vortrag im Deutschlandfunk gehört hatte. Schon dort war mir die Klarheit und die Dichte der Darstellung positiv aufgefallen. Auch der geschriebene Text kann vor dem kritischen Blick des Rezensenten bestehen.

Zunächst macht sich Wagenknecht an eine grundsätzliche Begriffsklärung: Sie differenziert zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft und zwischen Unternehmer und Kapitalist. Auch im Kapitalismus, so die Autorin, ist nicht alles kapitalistisch:
„Natürlich weiß auch Marx, dass er mit seiner Analyse nicht die gesamte Wirtschaft seiner Zeit beschreibt, sondern nur einen Teil von ihr. ... Damals wie heute gab und gibt es zahllose selbstständige Einzelkämpfer, wohlhabende und arme, die ihr Einkommen ausschließlich eigener Anstrengung verdanken. Es gibt hunderttausende Kleinunternehmen, die kaum Angestellte haben und im Wesentlichen von der Arbeit der Eigentümer und ihrer Familien leben. Und es gibt die vielen mittelgroßen Unternehmen, die vom Inhaber aufgebaut und geführt werden, und in denen es selten nur um nackte Finanzkennziffern geht.“ (Wagenknecht 2017, S.98)
Es ist, wie ich finde, ein ermutigender Gedanke, daß es innerhalb des Kapitalismus Bewegungsspielräume gibt, die sich allererst dem individuellen Engagement von nicht lohnabhängigen Menschen verdanken. Damit will ich mich nicht etwa einer naiven Sozialromantik hingeben, denn die Lebensumstände dieser Menschen sind oft genug prekär. Aber allein der Gedanke an den Anachronismus nicht-kapitalistischer Existenzformen ist doch erfreulich.

Damit hängt auch unmittelbar der Unterschied zwischen ‚Unternehmer‘ und ‚Kapitalist‘ zusammen. Kapitalisten sind Wagenknecht zufolge keine Unternehmer, weil sie sich nicht für die Produkte interessieren, die sie produzieren. (Vgl. Wagenknecht 2017, S.98) Der Kapitalist interessiert sich nur für den Profit, der mit der Produktion verbunden ist:
„Charakteristisch für die Wirtschaftsordnung, die Marx im Kapital beschreibt, ist vielmehr, dass in ihr nicht allein mit Kapital produziert wird, sondern um des Kapitals willen.“ (Wagenknecht 2017, S.97)
Für den Unternehmer gilt die Formel W-G-W: mit Hilfe von Geld werden Waren produziert. Für den Kapitalisten gilt die Formel G-W-G': mit Hilfe von Waren wird mehr Geld produziert. Insofern ist der oft zitierte, von Marx angesprochene Fabrikbesitzer, der einen Arbeiter einstellt und lächelnd hinter ihm die Fabriktür schließt, kein Unternehmer, sondern ein Kapitalist.

Deshalb interessiert sich der Kapitalist auch nicht für die Bedürfnisse von Kunden bzw. Verbrauchern. Er befriedigt keine Nachfrage, was ja das Kennzeichen einer Marktwirtschaft ist. Und deshalb wiederum, so Wagenknecht, ist die Marktwirtschaft auch kein Synonym für Kapitalismus. (Vgl. Wagenknecht 2017, S.97) Der Kapitalismus geht im Gegenteil tendenziell immer auf Kosten der Marktwirtschaft.

Das eigentliche Prinzip des Kapitalismus besteht darin, anderen Geld zu geben, damit sie für ihn Profite erwirtschaften. Das gilt gleichermaßen für den lohnabhängigen Arbeiter (vgl. Wagenknecht 2017, S.97) wie auch für den Unternehmer, der Kredit braucht, um seine Unternehmensidee umsetzen zu können:
„Der Unternehmer, der mit eigenem Engagement und Power ein Unternehmen aufbaut oder als Ingenieur Innovationen einführt, ist in diesem Verständnis kein Kapitalist, wohl aber der Anleger, den ein Unternehmen nur als Renditeobjekt interessiert, oder der Aktionär, den nichts mehr mit der Welt der Produktion verbindet. Auf diese Unterscheidung zwischen eine Unternehmer und einem Kapitalisten hat später auch der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hingewiesen.“ (Wagenknecht 2017, S.98)
Solange Kapitalisten mit ihrem Geld dafür sorgen, daß Arbeiter Arbeit haben und Unternehmer Unternehmen gründen können, ist der Kapitalismus produktiv und sorgt für die technologische Entwicklung der industriellen Produktion. Leider gibt es aber eine kapitalistische Tendenz zur Monopolbildung, die wiederum auf Kosten der Marktwirtschaft und der Konkurrenz geht. (Vgl. Wagenknecht 2017, S.99) Wie Wagenknecht diese Entwicklungstendenz beschreibt, erinnert mich das sehr an das Prinzip der ursprünglichen Akkumulation, die Marx zufolge am Anfang der Kapitalbildung gestanden hatte, also an die räuberische Aneignung des Gemeinbesitzes bzw. der Allmende durch die ersten Kapitalisten. Marx zufolge ging nämlich die kapitalistische Produktionsweise, also die Produktion um des Kapitals willen, aus der gesellschaftlichen Konzentration der bis dahin individuell „zersplitterten Produktionsmittel“ hervor. (Vgl. Wagenknecht 2017, S.96)

Diese Tendenz zur Konzentration setzte sich dann im Kapitalismus fort. Wagenknecht zeichnet die verschiedenen Stationen der Monopolbildung im 19. Jhdt. am Beispiel der Eisenbahngesellschaften, im 20. Jhdt. am Beispiel der Automobilfirmen und im 21. Jhdt am Beispiel der Digitalisierung nach. Immer weniger und immer größere Unternehmen, die als „Kapitalsammelstellen“ fungieren (vgl. Wagenknecht 2017, S.99), verdrängen kleinere und mittelständische Unternehmen vom Markt oder kaufen sie auf oder machen sie als Zulieferer von sich abhängig. Marx faßt das in dem makabren Bild vom Kapitalisten, der viele andere Kapitalisten totschlägt. (Vgl. ebenda) Eben diese Brutalität erinnert mich an die ursprüngliche Akkumulation, die ja ebenfalls ein räuberischer Akt ist.

Das Größenwachstum der Unternehmen, die auch längst keine „Inhaber“ mehr haben (vgl. Wagenknecht 2017, S.99) – also Unternehmen ohne Unternehmer sind –,  sondern von Aktiengesellschaften getragen werden, erinnert irgendwie an eine Perversion des Wirtschaftswachstums: statt daß die Wirtschaft insgesamt wächst, wächst vor allem die Größe von immer weniger Unternehmen, bis irgendwann die Gesamtwirtschaftsleistung der Gesamtleistung einiger weniger Unternehmensgiganten entspricht. Und das ist inzwischen keine Prognose mehr, sondern beschreibt den derzeitigen Entwicklungsstand. (Vgl. Wagenknecht 2017, S.101)

Marx hatte vorausgesagt, daß der Kapitalismus auf diesem Entwicklungsstand nicht mehr technologisch produktiv sein kann, da der Konkurrenzdruck verschwindet, „der die Anbieter zu Innovation und Produktivität zwingt“:
„Der Kapitalismus, so Marx’ Prognose, wird ideenlos und träge.“ (Wagenknecht 2017, S.102)
Wagenknecht verweist auf den VW-Konzern: anstatt die Abgasreinigung gemäß den geltenden Normen zu optimieren, „investieren VW und Co. lieber in ausgeklügelte Software, um die Tester in die Irre zu führen“. (Vgl. Wagenknecht 2017, S.103f.) Die Ingenieure in den Forschungsabteilungen der Konzerne werden ausdrücklich dazu angehalten, nicht optimale Produkte zu entwickeln, sondern bei der Produktentwickelung vor allem auf die Rendite zu achten. Gute Arbeit zu leisten, gilt als „Over-Engineering“. Worauf es stattdessen ankommt, ist „Value-Engineering“. (Vgl. Wagenknecht 2017, S.104)

Letztlich zeigt sich daran, daß der Kapitalismus nicht mehr geeignet ist, die jetzt anstehenden großen Menschheitsprobleme von der Überbevölkerung bis zum Klimawandel zu lösen, so daß er jetzt selbst zu einem Anachronismus geworden ist. Die „Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Verfügung und einer politischen Regulierung der Lebensgrundlagen“ liegt, so Wagenknecht, „auf der Hand“. (Vgl. Wagenknecht 2017, S.106) Immerhin – und deshalb war ich, wie eingangs erwähnt, so neugierig auf diesen Text gewesen – ist Wagenknecht nicht nur Autorin, sondern auch Politikerin.

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Dienstag, 2. Mai 2017

Hans-Werner Sinn, Was uns Marx heute noch zu sagen hat, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.73-90

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Hans-Werner Sinn gilt nach einem FAZ-Ranking als „Deutschlands einflussreichster Ökonom 2015“. (Vgl. Greffrath (Hg.) 2017, S.239) Sein Beitrag „Was uns Marx heute noch zu sagen hat“ (2017) fällt aus der Reihe der übrigen Beiträge heraus. Nach meinem Eindruck scheint er eher ein klassischer Wirtschaftswissenschaftler zu sein, der den Kapitalismus für eine ‚segensreiche‘ Einrichtung hält. So spricht er z.B. von den „segensreichen Wirkungen“ der „Märkte“ (vgl. Sinn 2017, S.74), und an anderer Stelle sorgt er sich darum, daß die „ultralockere Geldpolitik“ der EZB zur „Verkrustung des Kapitalismus“ führen könne, weil sie die betroffenen europäischen Länder vor „schöpferischen Zerstörungen“ im Sinne Joseph Schumpeters (1883-1950), die „die Preise der Immobilien, Kapitalgüter und Aktien wieder auf das Normalmaß“ zurückführen, bewahre (vgl. Sinn 2017, S.87).

Bezeichnend ist, daß Sinn an dieser Stelle von „Zombie-Kunden“ und „Zombie-Banken“ spricht, die künstlich „am Leben gehalten“ werden und „die Plätze besetzt (halten), die nun eigentlich junge Unternehmer mit neuen Produkten einnehmen müssten“. (Vgl. Sinn 2017, S.88) – Für meine Ohren klingt das nach einem eiskalten Zynismus, der gleichgültig über zerstörte Existenzen hinweggeht. Sinn selbst bezeichnet sich als „ordoliberal“, was mit Bezug auf den scholastischen Ordo-Gedanken auf eine Art metaphysische Überhöhung des Wirtschaftsliberalismusses hinauslaufen dürfte. Bei so einer Einstellung hat man wahrscheinlich grundsätzlich weniger Skrupel.

Von Marxens „Arbeitswerttheorie“, also von seiner Erklärung des Mehrwerts, hält Sinn nicht viel. Er hält sie für eine seiner „größten wissenschaftlichen Fehlleistungen“. (Vgl. Sinn 2017, S.76) Der Wert einer Ware ergibt sich seiner Ansicht nach vor allem aus ihrer Knappheit und aus der „gegenseitigen Konkurrenz der Nachfrage“. (Vgl. ebenda) Das leuchtet mir durchaus ein. Ich hatte sowieso immer schon meine Schwierigkeiten mit Marxens Trennung zwischen notwendiger, der Reproduktion des Arbeiters dienender Arbeit und überschüssiger, dem Mehrwert dienender Arbeit. Die eigentliche Leistung von Marx sieht Hans-Werner Sinn in der Makroökonomie:„Er war einer der ersten Makroökonomen der Geschichte und hat diese Teildisziplin wesentlich begründet.“ (Sinn 2017, S.78)

Hier hätte ich mir allerdings von Seiten des Autors einige Erläuterungen zur Globalisierung und der damit verbundenen Zerstörung der planetarischen Lebensgrundlagen gewünscht, die man keineswegs unter Schumpeters „schöpferische Zerstörung“ subsumieren kann. Darauf geht Sinn aber nur am Rande ein. Eine grundsätzliche Wachstumskritik fehlt. Zwar erkennt er an, daß die „tatsächlichen Schranken der Produktion ... in der Endlichkeit der natürlichen Bodenschätze und der Aufnahmefähigkeit des Bodens und der Atmosphäre für die Abfälle der Industrieproduktion“ liegen (vgl. Sinn 2017, S.81); aber weitere Ausführungen zu dieser Problematik fehlen.

Stattdessen spricht Sinn der Politik das Recht ab, über die Ökonomie bestimmen zu wollen:
„Es gibt kein Primat der Politik über die Gesetze der Ökonomie. Vielmehr bestimmen die ökonomischen Gesetze den Rahmen, innerhalb dessen sich die Politik bewegen kann. Systeme, die sich nicht an den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens und der objektiven Knappheit der Ressourcen orientieren, sondern aufgrund bloßer Wunschvorstellungen von Ideologen, Theologen oder Ethikern eingerichtet werden, gehen unter ...“ (Sinn 2017, S.73f.)
Hier zieht Sinn ganz entschieden eine Linie zu Marx: die Ökonomie bildet das Sein, und die Politik bildet das Bewußtsein. Und es ist das Sein, das das Bewußtsein bestimmt, und nicht das Bewußtsein das Sein. An dieser Stelle versäumt Sinn eine Diskussion des Verhältnisses von Geistes- und Naturwissenschaften. Er erzeugt den Eindruck, bei der Ökonomie handele es sich um eine Art Naturwissenschaft, zu der er auch die „Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens“ zählen. Dabei läßt er offen, ob er auch den Kapitalismus für so ein Naturgesetz hält: ob es also keine Alternative zu einer kapitalistischen Ökonomie geben kann.

Wenn Karl Marx vom ‚Sein‘ spricht, sind damit die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse gemeint, also tatsächlich die Ökonomie. Dabei haben wir es aber eben nicht einfach mit Naturprozessen zu tun, sondern eben mit einem gesellschaftlichen Verhältnis und deshalb eben auch mit gesellschaftlichem Bewußtsein. Da muß einfach die Politik das Primat haben: was sonst? Von einem Primat der Politik ist überall dort zu sprechen, wo wir es mit gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben. Und auch die Ökonomie hat es mit einem subjektiv-gesellschaftlichen Bewußtsein zu tun, z.B. in Form von „Präferenzen“, von denen Sinn mit Verweis auf den Wert eines Gemäldes von Rembrandt sagt, daß sie in die Preisbildung eingehen und den Wert einer Ware mitbestimmen. (Vgl. Sinn 2017, S.77)

Es ist also nicht so einfach mit den „Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens und der objektiven Knappheit der Ressourcen“. Ein „Primat der ökonomischen Verhältnisse“ (Sinn 2017, S.74) läßt sich so nicht begründen.

Interessant wird es aber nochmal am Ende von Sinns Beitrag, wo der Autor auf die Nullzins-Politik der EZB eingeht. Er weist darauf hin, daß es vor allem das Bargeld ist, das die EZB davon abhält, zu Negativ-Zinsen überzugehen. Solange die Banken das Geld lieber horten, als es auszugeben, kann es keine Negativ-Zinsen geben:
„Es gibt einzelne Banken, die hinter vorgehaltener Hand bekunden, dass sie 500-Euro-Geldscheine im Umfang von weit über zehn Milliarden Euro in riesigen Lagerstätten aufbewahren.“ (Sinn 2017, S.84)
Jetzt sollen die 500-Euro-Scheine abgeschafft werden, mit der Begründung, die Kleinkriminalität zu bekämpfen. Tatsächlich soll aber das Horten des Geldes durch 200-Euro-Scheine schwerer und teurer gemacht werden. Sinn nennt das ironisch „unechte Kommunikation“:
„Dass die Kommunikationsabteilung der EZB demgegenüber mitteilt, es gehe um die Bekämpfung der Kleinkriminalität, steht dieser Interpretation nicht entgegen, denn häufig benutzt die EZB eine unechte Kommunikation, um sich eine Erläuterung ihrer komplizierten Denkmuster in der Welt der oberflächlichen und kurzatmigen Internet- und Fernsehmedien zu ersparen.“ (Sinn 2017, S.83f.)
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Montag, 1. Mai 2017

Elmar Altvater, Der Doppelcharakter der Arbeit im kapitalistischen Ant(h)ropozän, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.53-69

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Der Politikwissenschaftler Elmar Altvater fokussiert seinen Beitrag „Der Doppelcharakter der Arbeit im kapitalistischen Ant(h)ropozän“ (2017), wie es schon im Titel zum Ausdruck kommt, auf den Doppelcharakter der Arbeit. Dieser Doppelcharakter besteht Altvater zufolge darin, Waren zu produzieren, die gleichzeitig einen Gebrauchswert und einen Tauschwert besitzen. (Vgl. Altvater 2017, S.53) Das wäre an sich noch nicht weiter erwähnenswert, denn natürlich hat jeder Gebrauchswert, also jeder Aspekt von Waren, der spezifische Bedürfnisse von Verbrauchern befriedigt, immer auch Tauschwert. Materielle Dinge wie Werkzeuge und Lebensmittel können also getauscht werden, wenn Verbraucher untereinander in Kontakt treten und wechselseitig etwas besitzen, was der andere gerade braucht.

In besonderer Weise kapitalistisch wird die Situation, wenn sich der Tauschwert in ‚Kapital‘ verwandelt. (Vgl. Altvater 2017, S.58) Mit anderen Worten: wenn durch diesen Handel ‚mehr Wert‘ entsteht; also Mehrwert. Und der spezifische ‚Handel‘, der solcherlei vermag, besteht im Verkauf der Arbeitskraft gegen Lohn. Altvater verweist nur kurz auf diesen Zusammenhang hin, ohne auf den besonderen Betrugscharakter von bezahlter Arbeit und unbezahlter Mehrarbeit einzugehen. Stattdessen hebt er den Zwangscharakter der Mehrwertbildung hervor, der auch dem Arbeiter keinen individuellen Bewegungsraum zugesteht:
„Gefangen in den Produktionsverhältnissen, kann er gar nicht anders als dem Doppelcharakter der Arbeit Rechnung zu tragen und mit der Natur und Gesellschaft auch sich selbst und die Art und Weise der Bedürfnisbefriedigung, d.h. seine Kultur in der Spannung zwischen diesen beiden Bestimmungen der Arbeit zu gestalten – im Kapitalverhältnis Mehrwert zu schaffen und gleichzeitig die Naturbedingungen des Lebens auf Erden zu untergraben.“ (Altvater 2017, S.59)
Genau in dieser Untergrabung der Lebensverhältnisse im planetaren Maßstab besteht die letztendliche Perspektive kapitalistischer Gesellschaftsformationen, und dafür steht auch das kürzlich von der Internationalen Geologischen Vereinigung ausgerufene „Anthropozän“ (vgl. Altvater 2017, S.58), von dem Altvater meint, daß es eigentlich als „Kapitalozän“ bezeichnet werden müßte (vgl. Altvater 2017, S.60):
„Das Anthropozän ist eine Ausgeburt des Kapitalismus.()“ (Altvater 2017, S.59)
Mit Anthropozän ist nämlich nichts anderes gemeint, als daß das ständige Wachstum, also der Vermehrungszwang der Mehrwertbildung, Spuren planetarischer Zerstörung hinterlassen hat, die diesen Planeten über geologische Zeiträume hinweg, also auch über die Frist des Menschen hinweg, prägen werden:
„Das Wachstum hat uns zusammen mit der Globalisierung den Eintritt ins Anthropozän beschert.“ (Altvater 2017, S.67)
Das entscheidende Mittel dieser kapitalistischen Globalisierung ist der Fortschritt der Technik. Deshalb ist es gleichermaßen konsequent wie absurd, wenn die Verfechter dieser Produktionsweise ihr Heil im Geo-Engineering suchen. Dieses Geo-Engineering dient nur dazu, das „Akkumulationsregime und damit das wirtschaftliche Wachstum auf Dauer zu stellen“ (Altvater 2017, S.67), mit dem zynischen Kalkül, so die weitere Ausbeutung auch noch der letzten Rohstoffe des Planeten sicherzustellen, bevor es in diesem Sinne ‚zu spät‘ ist; bevor uns also der durch Geo-Engineering nach hinten verschobene planetare Kollaps endgültig alle Mittel dazu aus der Hand nimmt.

Altvater weist mit aller wünschenswerten Klarheit darauf hin, daß es so etwas wie einen „ökologisch effizientere(n) Kapitalismus“ (Altvater 2017, S.67) und ein „grünes Wachstum()“ (Altvater 2017, S.63)  nicht geben kann. Es ist weder eine effizientere Technologie denkbar, die sparsamer mit den Ressourcen umgeht und so die Vernichtung der Lebensgrundlagen verhindert. Unter dem Zeichen des Wachstums wird lediglich die Frist für die lebenden Generationen auf Kosten der späteren Generationen verlängert. Noch kann es eine Entkopplung von „Werte(n) und Naturverbrauch“ geben, weil jede Mehrwertbildung an eine vermehrte Güterproduktion und damit auch an einen vermehrten Ressourcenverbrauch gebunden ist. (Vgl. Altvater 2017, S.62f.)

Altvater verweist auf die Einsichten einer „thermodynamisch orientierte(n) Bioökonomie“, wie sie von dem rumänischen Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler Nicholas Georgescu-Roegen (1906-1994) vertreten wurde. (Vgl. Altvater 2017, S.55) Georgescu-Roegen zufolge gibt es keine kapital-reversiblen Produktionsprozesse, also Prozesse, an deren Ende das investierte Geld als Mehrwert zu sich zurückkehren kann. Er geht vielmehr von der „Irreversibilität der Stoff- und Energietransformationen, also von steigender Entropie“ aus. (Vgl. Altvater 2017, S.59) Die „kapitalistische Produktionsweise“ hat sich also „ihrer inhärenten Logik entsprechend aus den Naturbedingungen allen Lebens“ völlig abgelöst: „Der Kapitalismus ist der Feind der Natur.“ (Vgl. Altvater 2017, S.59)

Altvater zufolge ist erst in einer „nicht- und dann auch post-kapitalistischen Produktionsweise ... eine Regulierung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses im Einklang mit den Reproduktionsbedingungen der Natur vorstellbar“. (Vgl. Altvater 2017, S.59) Eine Produktionsweise, die sich im Einklang mit den begrenzten Ressourcen des Planeten befindet, kann es nur auf der Grundlage unserer „immer begrenzten Bedürfnisse nach den Produkten konkreter Arbeit“ geben, die auf einer „die Naturgesetze respektierende(n) Transformation von Stoffen und Energie“ beruht. (Vgl. ebenda)

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