„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 1. Juni 2017

Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart, München 2017

(Carl Hanser Verlag, fester Einband, 304 S., 24,-- €)

1. Zusammenfassung
2. Desiderat einer Anthropologie
3. Kompromittierte Aufklärung

Der scheinbar lang und umständlich formulierte zweite Teil des Titels von Philipp Bloms Buch „Die Welt aus den Angeln“ (2017) erinnert an die Druckerzeugnisse des 16. und 17. Jahrhunderts, um das es in seinem Buch geht. Die damaligen Buchtitel boten oft zugleich eine Zusammenfassung des Inhalts und erfüllten so den Zweck von Klappentexten auf den Schutzumschlägen heutiger Bücher. Dabei fällt auf, daß Blom im besagten Untertitel seine zentrale Botschaft, nämlich den aktuellen Bezug der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 zum gegenwärtigen Klimawandel in seiner Aussagekraft relativiert: wir haben mit seinem Buch, so hält Blom im Untertitel fest, nicht etwa eine umfassende historisch-systematische Auseinandersetzung mit den möglichen kulturellen Folgen des damaligen und heutigen Klimawandels vorliegen, sondern lediglich „einige() Überlegungen zum Klima der Gegenwart“.

Eine weitere gewichtige Einschränkung hinsichtlich der analytischen Reichweite dieser Überlegungen führt Blom in der Einleitung auf:
„Dieses Buch konzentriert sich aus drei Gründen auf die Auswirkungen der Kleinen Eiszeit in Europa: Erstens zeigt die aktuelle Forschung, dass die kulturellen Auswirkungen des Klimawandels in Europa besonders feinkörnig dokumentiert sind, zweitens fehlen mir die Sprachen und die Kenntnis, ähnlich tief in die Kulturgeschichte Japans, Chinas oder Indiens einzudringen, und drittens durchlebte gerade Europa in dieser Periode eine ungeheure soziale, wirtschaftliche und intellektuelle Revolution, was die Frage aufwirft, inwiefern eines mit dem anderen verbunden ist.“ (Blom 2017, S.17)
Der zweite von Blom aufgeführte Punkt, seine auf Europa begrenzten Kenntnisse, läßt die im dritten Punkt angesprochene Notwendigkeit einer Klärung, was die „ungeheure soziale, wirtschaftliche und intellektuelle Revolution“ des 17. Jhdts. mit der Kleinen Eiszeit verbindet, zu einem Desiderat der historischen Forschung werden. Denn die Kleine Eiszeit betraf nicht nur Europa, sondern wirkte sich weltweit auf die Gesellschaften aus. Und solange nicht geklärt ist, warum es in Indien, China und Japan nicht ebenfalls zu vergleichbaren Modernisierungsschüben wie in Europa – übrigens auch hier regional sehr unterschiedlich ausgeprägt – gekommen ist, sondern die dortigen Gesellschaften stattdessen in traditionellen, vormodernen Lebensweisen verharrten, ist eigentlich jeder Versuch, etwas Brauchbares über den Zusammenhang von klimatischen und gesellschaftlichen Veränderungen herauszufinden, zum Scheitern verurteilt. Auch das ist also ein sehr nachvollziehbarer Grund dafür, warum Blom hinsichtlich seines Buches nur von „einigen Überlegungen“ spricht, und wir können das als Aufforderung an die historische Forschung verstehen, interdisziplinäre, überregional ausgerichtete Projekte zu organisieren, die die Auswirkungen von Wärme- und Kälteperioden auf unterschiedliche geopolitische Räume untersuchen.

Blom verweist auf ein weiteres Problem, mit dem es jede historische Untersuchung zu tun hat, wenn sie unbelastet von geschichtsphilosophischen Neigungen sachlich und vorurteilsfrei an die historischen Phänomene herangeht:
„Gleichzeitig sollten wir uns immer bewusst sein, dass sich Geschichte nicht in den Begriffen und großen Erzählungen von Historikern erschöpft. Natürlich lassen sich Entwicklungen erkennen, aber was hier beschrieben wird, sind Tendenzen und Wendepunkte, die sehr unterschiedlich interpretiert werden können. Sie sind nicht an jedem Ort zur gleichen Zeit, mit gleicher Geschwindigkeit oder mit gleicher Intensität zu beobachten. Gegenläufigkeit und Ungleichzeitigkeit stehen immer neben oder hinter den hier beschriebenen Entwicklungen. ... Immer bestanden große Ungleichzeitigkeiten. Mittelalterliche und frühmoderne Lebensweisen, Praktiken und Weltsichten waren oft – besonders zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen verschiedenen Ländern – nur wenige Kilometer voneinander getrennt.“ (Blom 2017, S.25)
Während sich in manchen Städten wie im Amsterdam und im Leiden des 17. Jhdts. eine moderne Bürgergesellschaft entwickelte, lebten große Teile der Landbevölkerung weiterhin unter mittelalterlichen Bedingungen, und auch ganze Länder wie Spanien, Italien, Rußland oder die Türkei erlebten sogar einen wirtschaftlichen und machtpolitischen Niedergang. (Vgl.u.a. Blom 2017, S.229) Wir haben es also bei der ‚historischen Entwicklung‘ mit einem Anachronismus zu tun, weil viele regional begrenzte und lebensweltlich gegenläufige Prozesse gleichzeitig stattfanden. Blom spricht deshalb auch von einer „planlose(n), aber nicht folgenlose(n) Evolution“, in der viele verschiedene soziale und gedankliche ‚Experimente‘ stattfanden. (Vgl. Blom 2017, S.26)

An dieser Stelle wendet sich Blom ausdrücklich gegen eine statistische Betrachtungsweise eines ‚Fortschritts‘ vom Mittelalter zur Moderne:
„Es wirkt wie ein sadistisches Experiment, erdacht vom kapriziösen Gott Hiobs, einem böswilligen Dämon oder einem extraterrestrischen Wissenschaftler, ein Tierversuch mit ganzen Gesellschaften: Was passiert, wenn ich eine Population von Homo sapiens (und mit ihm der ganzen Natur) auswähle und Temperatur und Wetter ihrer Umgebung verändere? Wer überlebt, wer stirbt? ... Dieser Blick aus großer Höhe ... erlaubt es, Muster und Strukturen zu erkennen und gleichzeitig macht er es nebensächlich, danach zu fragen, ob die Veränderungen Fortschritt darstellen oder nicht, ob sie gewollt waren oder unorganisiert und ob sie chaotisch passierten, ob die Ideen der damaligen Zeit der Wahrheit entsprachen und ob es so etwas überhaupt gibt.“ (Blom 2017, S.24)
Bloms berechtigte Attacke gegen eine historische ‚Statistik‘, die individuelle Schicksale in Epochenbegriffen verdichtet, kann man auch als eine Absage gegen Geschichtsphilosophien á la Hegel und Marx verstehen, die beide von Blom nur am Rande erwähnt werden. Blom hält an einer moralischen Sichtweise fest, die das Individuum nicht als Mittel, sondern als Zweck der historischen Entwicklung versteht:
„Hinter der Idee, der liberale Traum sei human, verbirgt sich ein bestimmtes Menschenbild, ein Glaubenssatz, der versucht, den Menschen zugleich individuell und universell zu denken und der dem menschlichen Leben gerade wegen seiner Kontingenz und Verwundbarkeit einen unveräußerlichen Wert zuspricht – eine Hoffnung und ein Versprechen, das immer wieder eingelöst werden muss, um nicht zu verdorren.“ (Blom 2017, S.260)
Nicht alle Einflüsse der Kleinen Eiszeit, auf die Blom zu sprechen kommt, sind gleichermaßen einleuchtend. So ist seine Andeutung, daß wir dieser Eiszeit vielleicht den Tod eines „der größten Denker“ Europas zu verdanken haben, nämlich von René Descartes  (1596-1650), der sich in der ungeheizten Bibliothek der schwedischen Königin eine Lungenentzündung zuzog, eher ein Treppenwitz. (Vgl. Blom 2017, S.135 und S.142)

Trotz all dieser Einschränkungen hinsichtlich der analytischen Reichweite seiner ‚Überlegungen‘ zur Kleinen Eiszeit und zum Klima der Gegenwart, gelingt es Blom aber durchaus, einige Aspekte aufzuzeigen, die den Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft in eine moderne Gesellschaft ‚begünstigten‘, wenn man es denn so positiv formulieren will. Dabei bezieht sich Blom vor allem auf Karl Polanyi (1886-1964) und sein Buch „The Great Transformation“ (1944). (Vgl. Blom 2017, S.95) Ohne Marx zu erwähnen, beschreibt Blom, wie sich die mittelalterliche Subsistenzwirtschaft auflöst und wie eine Geldwirtschaft entsteht, deren Grundlage ein „Wirtschaftswachstum“ bildet, „das auf Ausbeutung beruht“. (Vgl. Blom S.158, 216, 238)

Die mittelalterliche Subsistenzwirtschaft beruhte auf einer statischen Gesellschaftsstruktur, die nicht durch soziale Mobilität gekennzeichnet war, sondern durch „Statuserhalt“:
„In feudalen, vormodernen Gesellschaften, so Polanyi, war das Ziel der wirtschaftlichen Aktivität nicht Reichtum und sozialer Aufstieg, sondern Statuserhalt in einer gesellschaftlichen Hierarchie, in der jeder einen von Geburt an mehr oder minder klar definierten Platz einnahm und in der soziales Kapital wichtiger war als wirtschaftliches.“ (Blom 2017, S.95)
Der Gedanke an Profit war in dieser Gesellschaft nicht zentral. Der Markt wurde sozial kontrolliert, so daß plötzliche Preiserhöhungen weitgehend unterbunden wurden. Landbesitz galt nicht als veräußerbar: er war „extra commercium“. (Vgl. Blom 2017, S.96) Adlige durften in manchen Ländern keinen Handel treiben, weil sie sonst ihren Adelstitel verloren.

Als Blom zufolge aufgrund der Kleinen Eiszeit die Getreideernten ausblieben, mußte Getreide aus anderen Ländern herbeigeschafft werden. Die baltischen Länder verwandelten sich in die Kornkammern Europas, das Getreide wurde bis Italien verschifft. Die baltischen Länder stellten ihre Subsistenzwirtschaft auf Export um und orientierten sich jetzt auf den mit dem Export verbundenen Profit. Es entstand eine Geldwirtschaft, die sich auf das mittelalterliche Leibeigenensystem stützte, so wie man sich andernorts der aus Afrika importierten Sklaven bediente, um Profite zu erwirtschaften. (Vgl. Blom 2017, S.158)

Zugleich führte der durch die Kleine Eiszeit erzwungene Fernhandel zu einer Deregulierung des Marktes: die Waren, die von weither auf dem Markt angeliefert wurden, stammten von Produzenten und Händlern, die nicht mehr vor Ort sozial kontrolliert werden konnten:
„Dieser Fernhandel, der sich nicht nach lokalen Regeln richten musste, wurde durch die katastrophalen Ernten der 1590er Jahre in Westeuropa  und die Landflucht der hungernden Bevölkerung wesentlich gestärkt.“ (Blom 2017, S.97)
Bloms Verbindung der Polanyischen Darstellungen mit der Kleinen Eiszeit leuchtet ein und hat zugleich den Charme einer Dekonstruktion der Marxschen Sicht auf dieselben historischen Ereignisse. Die ganze Brutalität der Einführung der Geldwirtschaft und der Vertreibung der Menschen aus der mittelalterlichen Subsistenzwirtschaft wird von Marx in eine geschichtsphilosophische Rationalität eingebettet und damit irgendwie auch gerechtfertigt. Hinter den historischen Ereignissen verbarg sich Marx zufolge einfach eine höhere Rationalität, die die ‚Weiterentwicklung‘, den technologischen ‚Fortschritt‘ der Gesellschaft erzwang. Wenn wir aber stattdessen davon ausgehen, daß diese Entwicklung zu einem nicht unerheblichen Teil einfach einem Klimawandel geschuldet war, erscheint der Kapitalismus nur noch als eine ziemlich schlechte, zumindestens aber fragwürdige Alternative angesichts dessen, was vielleicht stattdessen an gesellschaftlichen Entwicklungen möglich gewesen wäre.

Blom jedenfalls beharrt darauf, daß Wirtschaftswachstum und Fortschrittsgedanke eine unheilvolle ‚liberale‘ Allianz eingegangen sind, insofern die europäischen Intellektuellen im 17. Jhdt. die humane Entfaltung der menschlichen Potenziale mit dem auf menschlicher Ausbeutung beruhenden Wirtschaftswachstum gleichzusetzen begannen:
„Der soziale Sieg des liberalen Traums und sein Enthusiasmus für Innovation, Forschung, Expansion und Fortschritt sind verquickt mit dem Modell von Wirtschaftswachstum und Ausbeutung, das ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert stammt, damals den Grundstein zu Europas globaler Dominanz legte, inzwischen aber zu einer existenziellen ökologischen und sozialen Bedrohung geführt hat. Wenn die Freiheit des Individuums als die Freiheit interpretiert wird, alles zu tun, was profitabel ist, dann wird sich in einigen Jahrhunderten niemand mehr um das Wohlergehen des liberalen Traums sorgen müssen – die Überlebenden werden andere Probleme haben.“ (Blom 2017, S.261)
Am Beispiel von Voltaire (1694-1778) zeigt Blom, wie sich die liberalen Europäer zu „Komplizen einer Unterdrückung“ gemacht hatten, als sie einerseits universelle Menschenrechte postulierten, andererseits aber die Grundlage der Geldwirtschaft, den Sklavenhandel und die Leibeigenenschaft, rechtfertigten. (Vgl. Blom 2017, S.240) Voltaire war Blom zufolge der erste „Neoliberale“. (Vgl. Blom 2017, S.243)

War die Armut im Mittelalter noch Anlaß und Gegenstand einer christlichen Caritas, so wurde sie im Marktliberalismus, der „intellektuelle(n) Sparversion der Ideale der Aufklärung“ (Blom 2017, S.249), zur unverzichtbaren Grundlage der Mehrwertbildung:
„Die Armen hatten eine wichtige Rolle in diesem gesellschaftlichen Ideal: Ihre billige Arbeit sollte heimische Rohstoffe in teure Exportware verwandeln. ... Dabei machten (Thomas) Mun und andere Autoren auch moralische Argumente geltend. Die Armen waren undiszipliniert und gaben sich nur allzu gerne der Unzucht, dem Alkohol, dem Kartenspiel und der Faulheit hin. Sie mussten durch strenge Arbeit und ein frugales Leben unter Kontrolle gehalten werden, sonst würde ihre Verderbtheit zum Niedergang des gesamten Landes führen.“ (Blom 2017, S.124)
An die Stelle der mittelalterlichen Stände – Bauern, Priester, Adlige – traten nun neue Stände: die Armen und die Reichen, die der Prädestinationslehre Calvins (1509-1564) zufolge von Geburt an durch göttlichen Willen auf ihren jeweiligen ‚Stand‘ festgelegt waren. Es dauerte dann noch drei Jahrhunderte, bis Marx diesen Standesdünkel durch seinen Klassenbegriff auflöste, womit er letztlich aber wieder nur ein neues Kollektivsubjekt installierte.

Blom zufolge läuft die historische Entwicklung nicht auf Kollektivsubjekte, sondern auf Individuen und ihre unveräußerlichen Rechte hinaus. (Vgl. Blom 2017, S.220) Diese Entwicklung ist das Resultat der Kleinen Eiszeit, die mit Glaubenskriegen und Hexenverbrennungen begonnen hatte, weil man sich die Naturkatastrophen nicht anders zu erklären wußte:
„Heute wissen wir, dass der uns bevorstehende Klimawandel seinen Ursprung in unserer industriellen Entwicklung hat und wir verstehen, dass wir seine noch nicht abschätzbaren Folgen zumindest weniger katastrophal machen könnten, wenn wir rasch und entschieden darauf reagieren würden. Wir sind die erste Generation der Menschheitsgeschichte, die eine relativ klare Konzeption davon hat, was ihr Erbe an die Zukunft sein wird. Wir reagieren auf den Klimawandel kaum effizienter als unsere Vorfahren, die ihn nicht verstanden: chaotisch, improvisierend, getrieben von immer häufigeren katastrophalen Ereignissen und immer kontrolliert von dem absoluten Nahziel, dass unsere Wirtschaft wachsen muss, dass unser eigener Wohlstand erhalten bleiben muss.“ (Blom 2017, S.245)
Dieses Fazit von Blom bleibt auch dann richtig, wenn ich in der Folge an seinen ‚Überlegungen‘ noch einiges zu kritisieren haben werde.

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