„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 2. Juni 2017

Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart, München 2017

(Carl Hanser Verlag, fester Einband, 304 S., 24,-- €)

1. Zusammenfassung
2. Desiderat einer Anthropologie
3. Kompromittierte Aufklärung

Philipp Bloms Buch hat eine entscheidende argumentative Schwäche, die etwas mit der unzureichenden Anthropologie zu tun hat, auf der es beruht. Dabei verweist der Autor selbst auf die Notwendigkeit einer solchen Anthropologie, wenn er auf das „Menschenbild“ hinter dem „liberale(n) Traum“ zu sprechen kommt, mit dem er offensichtlich sympathisiert:
„Hinter der Idee, der liberale Traum sei human, verbirgt sich ein bestimmtes Menschenbild, ein Glaubenssatz, der versucht, den Menschen zugleich individuell und universell zu denken und der dem menschlichen Leben gerade wegen seiner Kontingenz und Verwundbarkeit einen unveräußerlichen Wert zuspricht – eine Hoffnung und ein Versprechen, das immer wieder eingelöst werden muss, um nicht zu verdorren.“ (Blom 2017, S.260)
Ob es sich bei diesem Menschenbild nun um einen „Glaubenssatz“ handelt, wie Blom es in diesem Zitat nahelegt, sei dahingestellt. Ich selbst denke dabei weniger an einen Glauben als an eine Reflexion auf die Bedürfnisstruktur bzw. Intentionalität des Menschen, wie sie in Helmuth Plessners „Körperleib“ zum Ausdruck kommt. Der Mangel einer solchen anthropologischen Reflexion läßt Blom in seiner Auseinandersetzung mit dem Anti-Liberalismus, wie er gegenwärtig von politisch zweifelhaften Gestalten wie Donald Trump, Viktor Orban, Marine Le Pen und Recep Tayyip Erdoğan repräsentiert wird, recht hilflos erscheinen. So fällt Blom in dieser Auseinandersetzung nichts anderes ein, als in einer Reminiszenz an Martin Luther King zwei verschiedenartige ‚Träume‘, einen liberalen und einen autoritären Traum, gegeneinanderzustellen. (Vgl. Blom 2017, S.254)

Dabei übersieht Blom die Notwendigkeit einer Aufklärungskritik, die er selber praktiziert, wenn er von den „schmutzigen Kompromisse(n)“ der Aufklärer spricht. (Vgl. Blom 2017, S.244) Stattdessen sind jetzt plötzlich alle „Aufklärungskritiker“ pauschal antiliberal und fortschrittsfeindlich, weil sie sich nur „darum sorgen zu behalten, was sie haben“ (vgl. Blom 2017, S.254):
„Abgepolstert von einer ausreichend dicken Isolierschicht aus Unterhaltungselektronik würden inzwischen auch viele Bewohner westlicher Länder einer autoritären Regierung mit klaren Antworten, einem starken Wohlstandversprechen und demonstrativem Nationalstolz wieder einiges abgewinnen können.“ (Blom 2017, S.255)
Auf diese Argumentation werde ich im nächsten Blogpost noch detailliert eingehen. Für jetzt möchte ich festhalten, daß Bloms argumentative Schwäche hinsichtlich einer reflektierten Anthropologie dazu führt, daß er beide Positionen nur noch als Träumereien bzw. „Hirngespinste“ bezeichnen kann, wodurch er das unterschiedliche Reflexionsniveau dieser Positionen nivelliert:
„Auch der liberale Traum nährt sich aus solchen Hirngespinsten. Natürlich sind Menschen nicht ‚von Natur aus‘ frei und gleich.“ (Blom 2017, S.259)
Diese Feststellung, daß die Menschen ‚natürlich‘ nicht ‚von Natur aus‘ frei und gleich seien, ist in seiner Banalität so selbstverständlich wie ärgerlich. Dabei hätte es in seinem Buch einige Gelegenheiten gegeben, etwas gründlicher über die ‚Natur‘ des Menschen nachzudenken. Das Fehlen einer letztgültigen ‚Wahrheit‘ und die Zweifelhaftigkeit alles Wissens – Themen auf die Blom immer wieder zu sprechen kommt (vgl. Blom 2017, S.24, 151f., 156, 185, 252, 260) – müssen keineswegs ein Nachteil bei der Suche nach dem Menschlichen sein. Auch wenn der „liberale Traum ... nicht den Fortschritt, die Wahrheit oder das Gesetz der Geschichte (repräsentiert)“, wie Blom schreibt, sprechen doch einige Gründe für ihn, die ihn zu mehr machen als bloß einem Hirngespinst auf dem Niveau eines Donald Trump.

Zu den Gelegenheiten einer gehaltvollen Reflexion auf den Menschen und seine ‚Natur‘ gehört die Textstelle, in der sich Blom auf Michel de Montaigne (1533-1592) und seine „Essais“ bezieht, in denen Montaigne seine spezifische Individualität reflektiert. (Vgl. Blom 2017, S.70) Und dazu gehört auch die Textstelle zu Étienne de la Boëthie (1530-1563) zum Zusammenhang von Glauben und Macht:
„Macht wird verliehen, nie genommen, schrieb der junge Philosoph und sie wird von Menschen verliehen, nicht von Gott. Niemand könnte Macht ausüben, wenn andere ihm nicht gehorchen würden. Ihr Gehorsam, ihr Glaube ist es, auf dem jede Form von Macht beruht. Wenn der Glaube an die Macht des Mächtigen stirbt, wenn niemand mehr auf das Wort des Königs hört, dann ist seine Macht gebrochen, wie die Flamme eines Feuers, das keinen Brennstoff mehr hat.“ (Blom 2017, S.75)
Diese Textstelle hätte zu einer Reflexion über den Zusammenhang von Bewußtsein und Realität führen müssen, und diese Reflexion hätte, anthropologisch begründet, durchaus nicht bei der hilflosen Feststellung bloßer Träumereien und Hirngespinste enden müssen. Sie hätte zur weitergehenden Einsicht in die Wahrheitsfähigkeit und Sinnbedürftigkeit eines sein Überleben sicherstellenden und sein Leben führen müssenden Wesens führen können, wie es der Mensch ist. Wie dieser Mensch in seinem Verhältnis zur Welt sein eigenes Potenzial entdeckt und entfaltet: das ist das Kernthema des von Blom verteidigten liberalen Traums.

Da aber genau diese Anthropologie fehlt, verbleibt Blom mit seiner Apologie auf dem Niveau der Bienenfabel von Bernard Mandeville (1670-1733):
„Damit es summt im Bienenstock, müssen die Tierchen ihren niedersten Instinkten folgen. Mit seinem robusten Pragmatismus machte sich Mandeville zum Vordenker einer Wirtschaftsordnung und einer sozialen Vision, die vor allem vom menschlichen Egoismus ausgingen und leugneten, dass wir besser leben, wenn wir tugendhafter leben.“ (Blom 2017, S.228)
Auf diesem Niveau wird die „Freiheit des Individuums“ tatsächlich keine Zukunft haben, wie Blom schreibt, denn „dann wird sich in einigen Jahrhunderten niemand mehr um das Wohlergehen des liberalen Traums sorgen müssen – die Überlebenden werden andere Probleme haben.“ (Blom 2017, S.261)

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