„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. September 2017

Peter Spork, Gesundheit ist kein Zufall. Wie das Leben unsere Gene prägt: die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Integral und Anachronismus
3. Freiheit und Intuition

Ein starkes Motiv, diesen Blog zu betreiben, bestand für mich von Anfang an darin, dem Naturalismus der Naturwissenschaften etwas entgegenzusetzen. Nichts scheinen nämlich die Naturwissenschaftler, zumindest der Mainstream, lieber zu tun, als dem Menschen seine Freiheit abzusprechen und ausschließlich die ‚Fakten‘ zu beachten, die für einen rigiden Determinismus sprechen. Umso erfreuter war ich gewesen, als ich vor acht Jahren mit Peter Sporks Buch „Der zweite Code“ (2009) auf ein biologisches Phänomen, auf das Epigenom, aufmerksam gemacht wurde, das für die Freiheit des Menschen und damit für seine Würde spricht. Spork bringt es in seinem aktuellen Buch auf den Punkt:
„Die Gene entscheiden nicht über uns. Sie sind nicht unser Schicksal. Wir sind nicht ihre Marionetten.“ (Peter Spork 2017, S.81)
Die Gene können Spork zufolge schon deshalb nicht über den Phänotyp – und dazu ist nicht nur die Anatomie und Morphologie, sondern auch die individuelle Persönlichkeit des Menschen zu zählen – entscheiden, weil das „Potenzial in den Genen aller Menschen ... nahezu gleich (ist)“. (Vgl. Spork 2017, S.81) Schätzungen gehen davon aus, daß 99 % bis zu 99,9 % der Gene bei allen Menschen identisch sind. Zwillingsstudien erübrigen sich an dieser Stelle. Man kann nicht im Ernst glauben, daß 100 % hier noch einen Unterschied machen. Mit Schimpansen teilen wir mehr als 98 % aller Gene. (Vgl. Spork 2017, S.74f.) Hier kann eigentlich nur noch das Epigenom den entscheidenden Unterschied im Phänotyp von Schimpansen und Menschen machen. Berücksichtigt man auch das Y-Chromosom, dann sind Männer mit Schimpansen enger verwandt als mit ihren Ehefrauen.

Ich denke, man kann mit guten Gründen behaupten, daß das Epigenom das biologische Substrat der menschlichen Persönlichkeit bildet. Es ist so plastisch, daß sich Muskeln auf molekularbiologischer Ebene innerhalb von zwanzig Minuten anpassen, wenn wir mal mit dem Fahrrad statt mit dem Auto zur Arbeit fahren. (Vgl. Spork 2017, S.344) Das Epigenom sorgt für ein „teils hochdynamische(s), teils lang anhaltende(s) Zusammenwirken() von Erbe und Umwelt“:
„Unser Handeln wirkt. Immer!“ (Spork 2017, S.49)
Und unser Handeln beginnt, wie Spork schreibt, mit der Geburt. (Vgl. Spork 2017, S.222) Letztlich, so Spork, geht es in seinem Buch um Freiheit:
„Wir können selbst bestimmen, was wir im Dienst unserer Gesundheit tun oder lassen. Es sind die frei aus unserer eigenen Verantwortung heraus getroffenen Entscheidungen, die zählen.“ (Spork 2017, S.341)
Deshalb will Spork auch keine Rezepte für eine verantwortungsvolle und gesunde Lebensführung empfehlen. Gesundheit ist Spork zufolge ein Persönlichkeitsmerkmal, und gerade deshalb bedeutet sie für jeden Menschen etwas anderes:
„Bemerken möchte ich allerdings, dass mir Dogmatismus an dieser Stelle völlig unangebracht erscheint. Menschen sind Organismen, nicht mehr – aber auch nicht weniger. Und als solche sind sie von Natur aus darauf angelegt, sich im Rahmen einer großen Bandbreite von Umweltreizen gut zurechtzufinden und gesund zu entwickeln.“ (Spork 2017, S.258)
Sowohl im Bereich der Gesundheit wie auch im Bereich der Intelligenz hilft uns Statistik nicht weiter – und die ist das hauptsächlichste Erkenntnisinstrument in diesen Bereichen –, weil Durchschnittswerte bei unseren Entscheidungen, wie wir persönlich und konkret unser Leben führen wollen, für uns bedeutungslos sind. Ausgerechnet da, wo es ganz konkret um uns selbst geht, kann es sein, daß für die eigene Person der Mittelwert keine Gültigkeit hat. So hat sich inzwischen der Einfluß des BMI auf unsere Lebenserwartung geändert. Es ist nicht mehr das Idealmaß, das die höchste Lebenserwartung verheißt:
„Das Körpergewicht in Bezug zur Körpergröße bei dem Menschen rein statistisch die höchste Lebenserwartung haben, steigt an. Nach einigen Studien liegt es inzwischen sogar im Übergewichtsbereich.“ (Spork 2017, S.120)
Wer übergewichtig ist, kann gesund sein, wer ein Idealgewicht hat, kann krank sein. Worauf es bei unserer Lebensführung ankommt, so Spork, ist unsere persönliche Intuition, was gut für uns ist:
„Dieses Buch soll erklären, motivieren, faszinieren, helfen, uns besser zu verstehen. Aber es sucht keine Schuldigen und liefert keine stupiden Gebrauchsanweisungen. (Ich bin ohnehin der Meinung, dass jeder Mensch im Grunde ein intuitives Gespür dafür hat, was für ihn und seine Gesundheit gut ist und was nicht.)“ (Spork 2017, S.24)
Spork hält allerdings fest, daß uns seit der Steinzeit das Gespür für das, was gut für uns ist, abhanden gekommen ist:
„Weil unsere genetischen Programme aber noch immer aus der Steinzeit stammen (die Evolution ist nun mal langsam), fehlt es uns am geeigneten Sensorium für die Gefahren des modernen Lebensstils.“ (Spork 2017, S.343)
An dieser Stelle begibt sich Peter Spork auf dünnes Eis. Aus unserer verminderten Intuition schlußfolgert er, daß wir technischer Sensorien bedürfen, die uns Tag für Tag den aktuellen Stand unserer Fitneß mitteilen und bei Bedarf zu geeigneten Gegenmaßnahmen auffordern:
„Tragen Sie nicht längst eines dieser hippen Fitness-Armbänder, um am Abend darauf nachzuprüfen, ob Sie Ihre 10.000 Schritte pro Tag gemacht haben, und gehen Sie im Zweifel noch ein Ründchen um den Block? Lassen nicht auch Sie sich von Ihrem kleinen privaten Gesundheits-Kalkulater am Morgen berechnen, ob Sie nachts zuvor ausreichend Tief-, Leicht- und REM-Schlaf bekommen haben? Freuen Sie sich nicht auch, wenn Ihr handliches elektronisches Rundum-Überwachungssystem Ihnen bestätigt, dass Blutdruck und Herzfrequenz schon seit 48 Stunden im Optimalbereich sind?“ (Spork 2017, S.104)
Spork begrüßt diesen Trend ausdrücklich:
„Ich finde ihn überwiegend positiv, denn letztlich erweitern die Fitness-Armbänder unsere Sinne. ... Die Evolution ist viel zu langsam. Sie hat uns noch nicht mit den passenden Sinnesorganen ausgestattet ... Da ist es doch nur hilfreich, wenn wir uns dank kultureller und technischer Evolution mittlerweise per Fitness- und Activity-Tracker mit dem nötigen Feedback selbst versorgen.“ (Spork 2017, S.104f.)
Spork berücksichtigt an dieser Stelle nicht, daß wir die Askese und die Disziplin, die eine intuitive Achtsamkeit auf unsere Bedürfnisse ermöglichen, an eine Technologie auslagern (exteriorisieren), die zugleich unsere Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, bedroht, wie Spork nur wenige Absätze weiter selbst zugibt:
„‚Unsere Gesundheitsdaten von heute sind einer der größten Wirtschaftsfaktoren von morgen‘, warnt der Molekular- und Systembiologe Ernst Hafen von der ETH Zürich. Er rät, extrem zurückhaltend mit der Herausgabe seiner Daten zu sein.“ (Spork 2017, S.105) 
Askese und Disziplin sind ein derart grundlegendes Moment jeder Willensbildung und damit letztlich auch der Handlungsfreiheit, daß ihre Auslagerung auf Geräte unsere Menschlichkeit untergräbt. Wer sich darin nicht übt und auf diese Weise sich mit sich selbst konfrontiert, kann kaum Anspruch auf Freiheit und Würde erheben. Ich bin der Ansicht, daß wir jederzeit vor der Entscheidung stehen, inwieweit wir den Einfluß technologischer Innovationen auf unsere Lebensführung begrenzen und vielleicht sogar umkehren müssen, wenn wir uns unsere Menschlichkeit bewahren wollen.

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