„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 2. November 2017

Christine & Frido Mann, Es werde Licht. Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik, Frankfurt a.M. 2017

1. Zusammenfassung
2. Esoterik oder Exoterik?
3. Bewußtsein
4. Ganzheitlichkeit und Gestaltwahrnehmung

Immer wieder fügen Christine und Frido Mann der Quantenphysik das Adjektiv ‚unanschaulich‘ hinzu (vgl. CFM 2017, S.132, 190) bzw. sie sprechen vom „Verlust jeder Anschaulichkeit als beherrschendes Prinzip“ insbesondere in der Quantenphysik (vgl. CFM 2017, S.91). Schuld an dieser Unanschaulichkeit ist CFM zufolge die „herausfordernde() und gedanklich unbequeme() abstrakte() Struktur“ der quantenphysikalischen Wirklichkeit (vgl. CFM 2017, S.19), die sich nur als „Beziehungen zwischen ... Zahlen“, also als „mathematische Strukturen“ (vgl. CFM 2017, S.33) erfassen läßt. Diese ‚Sprache‘ beherrschen aber nur wenige hochbegabte Menschen, die eine langjährige wissenschaftliche Ausbildung absolviert haben, wie etwa die Quantenphysiker des 20. Jhdts, „die sich diesem Thema verschrieben hatten und ihre gesamte Energie darauf richteten, diese Rätsel der Physik zu lösen“. (Vgl. CFM 2017, S.117)

Da das Autorenpaar an verschiedenen Stellen seines Buches auf die Parallelen zwischen dem „Naturerleben()“ in der wissenschaftlichen Forschung und der religiösen Erfahrung von Gläubigen hinweist (vgl.u.a. CFM 2015, S.131), ist es verwunderlich, daß die beiden es versäumen, auf die Ähnlichkeit zwischen Quantenphysikern und Priestern zu sprechen zu kommen. Es ist derselbe Glaube, den uns Laien die Autorität der Priester bei der Auslegung der Bibel wie auch die Autorität der Quantenphysiker bei der Auslegung des Buches der Natur abverlangt. (Vgl. CFM 2017, S.66) Denn für den Laien müssen die Quantenphysiker „das, was sie berechnen“ können, in eine „auch unter Nicht-Mathematikern“ „verständliche Bildsprache“ übersetzen. (Vgl. CFM 2017, S.33 und S.191)

Inwiefern unterscheidet sich diese Verhältnisbestimmung zwischen Quantenphysikern und Laien von der zwischen Klerikern und Laien? Ist es die Wissenschaftlichkeit? – Die beiden Autoren betonen, daß sie „jede Form von parawissenschaftlicher Esoterik“ ablehnen. (Vgl. CFM 2017, S.23) Zugleich aber geben sie implizit zu, daß es in der Quantenphysik kein bißchen weniger esoterisch zugeht als in der Religion, der sie z.B. zubilligen, daß es zur Vermittlung religiöser Erfahrungen einer eigenen Bilder- und Metaphernsprache bedarf:
„Besonders die verschiedenen Religionen kommunizieren in Bildern und Metaphern, um über eine nicht primär sprachlich gemachte Erfahrung oder Erkenntnis mit Menschen reden zu können, die diese Erfahrung zunächst nicht gemacht haben, und sie ihnen nahezubringen.“ (CFM 2017, S.191)
In der Religion besteht offensichtlich die Verlegenheit, Menschen etwas glauben machen zu müssen, von dem sie keine eigene Erfahrung haben und zu dem sie mit Hilfe von Gleichnissen ‚hingeführt‘ werden müssen. Das Paradigma für eine solche Problematik bildet Platons Höhlengleichnis.

Um den Laien die fehlende Erfahrung zu vermitteln, wird sowohl in der Religion wie auch in der Quantenphysik gerne auf Analogien zurückgegriffen. Es wird dann auf ähnliche Erfahrungen im Alltag der Menschen verwiesen, die den ‚Erkenntnissen‘ der Quantenphysik entsprechen. Auch CFM weisen gerne auf die Alltagstauglichkeit der Quantenphysik hin. (Vgl. CFM 2017, S.160f.) An diesen Stellen ähneln ihre Beschreibungen der phänomenologischen Methode. CFM verweisen auf umgangssprachliche Intuitionen, wenn wir die Lichtmetapher verwenden, um Bewußtseinszustände zu beschreiben:
„Verblüffenderweise haben die Menschen schon lange vor diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen in unserem alltäglichen Sprachgebrauch Begriffe verwendet, in welchen das Licht als Metapher für Denkvorgänge benutzt wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn wir von ‚Erleuchtung‘, einem ‚strahlenden Gesicht‘ oder ‚Geistesblitzen‘ sprechen oder sagen, ‚Ihm geht ein Licht auf‘. ... Es wirkt, als hätten die Menschen intuitiv wahrgenommen, dass die Denkvorgänge im Zusammenhang mit dem Licht im weitesten Sinne stehen, oder zumindest von derselben physikalischen Qualität sind, so wie wir das heute wissen.“ (CFM 2017, S.156)
Diese Darstellung von Bewußtseinszuständen anhand von alltagssprachlichen Praktiken entspricht dem, was auch Phänomenologen machen. Im letzten Blogpost werde ich nochmal darauf zurückkommen, wie CFM auf Begriffe der Gestaltpsychologie zurückgreifen, um quantenphysikalische Zustände zu beschreiben. An dieser Stelle bleibt vorerst nur festzuhalten, daß den quantenphysikalischen Begriffen die Anschauung fehlt und deshalb auf Anschauungsersatz zurückgegriffen werden muß. Die Quantentheorie beinhaltet in erster Linie und ausschließlich Zahlenverhältnisse, die ähnlich wie biblische Gleichnisse gedeutet werden müssen, um jenseits eingeweihter mathematischer Zirkel verstanden werden zu können. Mit Rückgriff auf Kant, demzufolge Anschauungen ohne Begriffe blind und Begriffe ohne Anschauungen leer sind, müssen wir festhalten: die quantenphysikalischen Begriffe sind leer. Man könnte von dunklen Begriffen sprechen, so wie man in der Quantenphysik von dunkler Materie und von dunkler Energie spricht. Diese dunklen Begriffe gleichen irgendwie der „bedeutungsfreie(n) Quanteninformation“, der ja auch Bedeutungen erst noch eingeprägt werden müssen. (Vgl. CFM 2017, S.134f.)

Es ist kein bloßer phänomenologischer Dogmatismus, der mich veranlaßt, an dieser Stelle meinen Einspruch zu erheben. Obwohl sich die Quantenphysik als äußerst nützlich erweist und aus unserer technologischen Welt nicht mehr wegzudenken ist, sollten wir Kants Definition von Aufklärung nicht vergessen: es geht darum, daß der Gebrauch des eigenen Verstandes nicht an andere Autoritäten, auch nicht an Fachleute und Wissenschaftler, delegiert werden darf. Es ist immer derselbe Glaube, der uns dazu bringt, auf den Gebrauch unseres eigenen Verstandes zu verzichten. Und unser Verstand ist ein Oberflächenverstand, d.h. er bedarf der Anschauung, um funktionieren zu können.

Für unseren Verstand ist die Natur etwas, das sich nicht verbirgt, sondern das sich offen zeigt:
„Die Geheimnisse der Natur liegen nicht hinter ihr oder in ihr wie geheimer Text in Chiffren versteckt, sie liegen öffentlich zutage.“ (Helmuth Plessner, „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.226)
Daran hält die Phänomenologie fest. Die Phänomenologie ist exoterisch, nicht esoterisch. Die Gefahr, die mit der Unanschaulichkeit der Quantenphysik einhergeht, wird von dem Autorenpaar selbst aufgezeigt. Die quantentheoretische Herausforderung des menschlichen Verstandes liegt weniger darin, daß nur wenige Menschen die quantenphysikalische Wirklichkeit verstehen können oder glauben verstehen zu können, als vielmehr in der Resignation des Verstandes selbst. CFM beschreiben, was passieren kann, wenn Menschen mit dem Mainstream ‚mitschwingen‘, weil sie meinen, sich wie ‚Wellen‘ verhalten zu müssen:
„Das Bild von der Welle und von den Schwingungen trifft wegen seiner übergreifenden Gültigkeit keinesfalls nur auf einvernehmliche zwischenmenschliche Situationen zu, sondern auch auf jede Stimmung zwischen zwei Menschen oder in ganzen Gruppen, durchaus auch in einer unangenehmen, feindseligen Atmosphäre.“ (CFM 2017, S.189)
Das Autorenpaar warnt vor einem „Sog“ der „Massensuggestion“ (vgl. CFM 2017, S.188), vor „gefährliche(m) kollektive(m) Hass sowie Kriegs- oder gar Pogromstimmung“ (CFM 2017, S.187). – Hier zeigen sich die Grenzen eines Bewußtseinsbegriffs, der das Bewußtstein als Moment eines kosmologischen Entwicklungsprozesses auslegt. Darauf werde ich im nächsten Blogpost detaillierter eingehen.

Es ist auch keineswegs so, daß die Quantenphysik gegen Dogmatismus immunisiert, wie CFM meinen.  (Vgl. CFM 2017, S.24, 195ff.) Es gibt mittlerweile Theoretische Physiker, die Experimente für überflüssig halten, weil die Mathematik eine völlig adäquate Darstellung der Wirklichkeit sei und diese auch immer zutreffend beschreibe.

Die Phänomenologie stärkt den menschlichen Verstand, weil sie immer exoterisch ist, d.h. von unseren Erfahrungen ausgeht, anstatt umgekehrt diese Erfahrungen den jeweils neuesten Theorien und ihrem mathematischen Modellen anzupassen. Auch die Phänomenologen arbeiten viel mit Metaphern, so etwa Hans Blumenberg. Aber die Metaphern bilden keinen Ersatz für Begriffe, sondern deren Vorstufe. Und diese Metaphern verweisen nicht auf etwas prinzipiell Verborgenes, sondern sie zeigen etwas, das wir noch nicht sehen können. Hinter den Metaphern verbirgt sich nichts.

Tatsächlich spricht Werner Heisenberg (1902-1976), der Vater von Christine Mann, in dieser Weise über sein Gottesverhältnis. CFM berichten, wie er Gott als einen Zustand der kosmischen Ordnung beschreibt:
„Kannst du, oder kann man der zentralen Ordnung der Dinge oder des Geschehens, an der ja nicht zu zweifeln ist, so unmittelbar gegenübertreten, wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist? Ich verwende hier ausdrücklich das schwer deutbare Wort Seele, um nicht missverstanden zu werden. Wenn du so fragst, würde ich mit Ja antworten.“ (CFM 2017, S.119)
Heisenberg gelingt hier etwas Geniales: er hebt nicht die Verborgenheit Gottes hervor, sondern die Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung! Das ist genuin phänomenologisch, weil es den Fokus auf die Bedeutung der eigenen Anschauung richtet. ‚Verborgenheit‘ beschriebe übrigens aus phänomenologischer Perspektive selbst wieder nur die Erfahrung eines unbeantwortet bleibenden religiösen Bedürfnisses.

Heisenberg vergleicht diese unmittelbare Gottesbeziehung mit der Beziehung zu einem anderen Menschen, und zwar als Seele. Damit eröffnet er eine Dialektik aus sich Zeigen und Verbergen auf dem Niveau von Helmuth Plessners Anthropologie, denn diese Seele zeigt sich, indem sie sich verbirgt. Das heißt, sie zeigt sich als ‚noli me tangere‘:
„Ich würde sagen, auch wenn wir der Seele eines anderen Menschen begegnen, ist diese Begegnung nur dann ganz intensiv, wenn wir spüren, dass wir nun mit dem anderen im Einklang sind, das heißt, dass wir dessen Empfindungen auch selber haben und dass er auch unsere Empfindungen hat. Das heißt, dass eine Art von Resonanz stattfindet zwischen der Seele des anderen und uns selber ...“ (CFM 2017, S.119f.)
Die Beziehung zum anderen Menschen führt also zu keiner „Verschmelzung“, wie CFM im Anschluß schreiben, sondern zu einer Resonanz, in der die Individualität des anderen Menschen erhalten bleibt; denn ohne Zwischenraum, also ohne Abstand, gibt es keine Resonanz. Das Wissen um die Empfindungen des anderen Menschen bildet eine Rekursion, ein wechselseitiges sich Einstellen auf die Intentionalität des anderen Menschen, und keine Verschmelzung. Genau dieser Zustand des Seelischen wird von Plessner als noli me tangere bezeichnet.

Was Heisenberg an dieser Stelle vorlegt, ist Phänomenologie at its best. Er verbindet ‚Unmittelbarkeit‘, also Anschauung, mit Distanz, in diesem Fall als ‚Seele‘. Diese Phänomenologie einer Gottesbeziehung hebt den Verstand nicht auf. Wer dazu fähig ist, muß ihn nicht dem Glauben opfern.

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