„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 1. Januar 2018

Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011

1. Prolog: Begriffe und Tatsachen
2. Komplexe Mißbrauchssysteme
3. Strukturmerkmale einer Vorzeigeschule: Abbotsholme
4. Knabenliebe und pädagogischer Eros
5. Fluktuation von Personal und Klientel
6. Gesellschaftliche Verantwortung

In diesem Prolog geht es zunächst noch nicht um Jürgen Oelkers’ Buch „Eros und Herrschaft“ (2011). Im Vorfeld sollen vielmehr zunächst einige Begriffe geklärt und der problematische Status einer pädagogischen Theorie diskutiert werden, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt. Zwei Aspekte, die in allen wissenschaftlichen Disziplinen unbedingt geklärt sein sollten, werden in der Erziehungswissenschaft immer problematisch bleiben: der Begriff des ‚Datums‘ bzw. der ‚Tatsache‘ und das Verhältnis der Theorie zur Praxis, die sie zu beschreiben beansprucht.

In der Erziehungswissenschaft können wir nicht einfach von ‚Fakten‘ oder Tatsachen ausgehen und ‚Daten‘ sammeln. ‚Faktum‘ und ‚Datum‘ sind schon als solche schwierige Begriffsbildungen, weil das Faktum eigentlich das Gemachte und das Datum das Gegebene ist. Das ‚Faktum‘ ist also kein ursprüngliches, im naturwissenschaftlichen Sinne vom Subjekt unabhängiges Phänomen, sondern impliziert seine Beeinflußbarkeit durch Umstände oder Experimente. Vom Wortsinn her gesehen entspricht es der ‚Tatsache‘, also einer Sache, die sich nicht einfach objektiv ‚gibt‘, sondern durch ein Handeln zustandekommt. Dennoch verstehen Naturwissenschaftler Fakten als etwas ‚Gegebenes‘, also im Wortsinn als ‚Daten‘, die im Idealfall durch distanzierte Beobachtung gesammelt werden oder – wenn sie sich nicht von selbst ‚geben‘ – durch Experimente ‚sichtbar‘ gemacht werden, was wiederum an das Gemachtsein von ‚Fakten‘ erinnert.

In der Erziehungswissenschaft ist die Forschungslage deshalb besonders prekär, weil wir es hier nicht mit Naturphänomenen, sondern mit Menschen zu tun haben. Keine noch so zurückhaltende Beobachtung und kein noch so raffiniertes Experiment kann verhindern, daß die Menschen, in diesem Fall Kinder und Jugendliche, mitdenken, was dazu führt, daß sich die Umwelt- bzw. Laborbedingungen, also die jeweiligen pädagogischen Situationen ständig verändern. Beobachtungen und Experimente sind deshalb niemals wiederholbar, was sie im strikt naturwissenschaftlichen Sinne sein müßten. Trotzdem hat der Reformpädagoge Peter Petersen (1884-1952) im ersten Drittel des 20. Jhdts. das an den Naturwissenschaften orientierte Konzept einer pädagogischen Tatsachenforschung entwickelt, das vor allem im Beobachten und Protokollieren von pädagogischen Situationen bestand. Sein Fokus richtete sich auf Einzelfälle und bestand im fleißigen Sammeln von Unmengen von ‚Daten‘.

Dabei ging er naturwissenschaftlich naiv davon aus, daß diese Daten ‚objektiv‘ seien, ohne daß er vorab klärte, worin denn die spezifisch pädagogische Qualität seiner gesammelten Daten bestand. Für heutige Erziehungswissenschaftler handelt es sich dabei nicht um ‚Daten‘, sondern um ‚Anekdoten‘, weil sie am Einzelfall hafteten und keine über den Einzelfall hinausreichende Gesetzmäßigkeiten enthüllten. Heutige Erziehungswissenschaftler meiden prinzipiell den Einzelfall, – also letztlich das Kerngeschäft jeder pädagogischen Praxis, das immer auf individuelles Handeln gerichtet ist. Sie akzeptieren nur statistisch erhobene Daten, die Muster und Gesetzmäßigkeiten erkennen lassen. Für moderne Erziehungswissenschaftler gibt es das Individuum also nur als statistische Abweichung.

Reformpädagogen wie Peter Petersen betrachteten hingegen ihre Schulen und Kindergärten als ‚Labore‘ der Zukunft, in denen der neue Mensch erzogen wurde. Sie verstanden den ‚Einzelfall‘ ihrer jeweiligen Praxis als Modell für die Gesamtgesellschaft, die sich daran orientieren und reformieren sollte. So auch die Landerziehungsheime. Aber ähnlich wie Peter Petersen reflektierten die Gründer der Landerziehungsheime nicht den pädagogischen Charakter ihrer Heime:
„Der Anspruch ein ‚pädagogisches Labor‘ zu sein, begleitete die Landerziehungsheime von Anfang an. In einem Labor werden Experimente gemacht, deren Ausgang im Blick auf die Hypothesen offen ist. Aber das ‚Feld der Erziehung‘ ist moralisch kodiert, negative Ergebnisse, die die moralischen Erwartungen verletzen, dürfen entweder gar nicht vorkommen oder müssen unmittelbar nach Auftreten korrigiert werden können. Ein auf Dauer negatives Resultat darf es nicht geben, was zugleich heißt, dass kein ‚pädagogisches Labor‘ ergebnisoffen experimentieren kann. Die Versuchsanordnung ist vorgegeben und wird nicht etwa fortlaufend getestet.“ (Oelkers 2011, S.24)
Letztlich gingen die Gründer der Landerziehungsheime ganz naiv davon aus, daß allein ihre guten Absichten den entscheidenden Unterschied zur „Staatsschule“ (Oelkers 2011, S.50) ausmachten, der sie weniger eine andere Praxis als vielmehr ein anderes Konzept entgegensetzten, „das mit der Praxis gleichgesetzt wurde“, nach dem Motto, daß „gut ist, was gut klingt“ (vgl. Oelkers 2011, S.46). Wir haben es also bei der Reformpädagogik mit einem ideologisch verminten Gelände zu tun, wo Rhetorik wichtiger war als Praxiskritik, weshalb Jürgen Oelkers’ Buch zur Geschichte der Reformpädagogik mit dem Untertitel „Eine kritische Dogmengeschichte“ (4/2005) erschienen ist.

Was die Geschichte der Landerziehungsheime betrifft, ist die tatsächliche Praxis in diesen reformpädagogischen Einrichtungen von der Öffentlichkeit oder der Wissenschaft kaum kritisch zur Kenntnis genommen worden. Die öffentlich wirkmächtige Rezeption hielt sich meist an der Selbstdarstellung, sprich Propaganda, der reformpädagogischen Protagonisten. Tatsächlich wurden deren guten Absichten zumeist für bare Münze genommen, und verschiedene Besucher der Landerziehungsheime, Eltern, Intellektuelle, Wissenschaftler, sahen immer nur das, was sie sehen wollten bzw. im Sinne dieser Einrichtungen sehen sollten.

Genau hier haben wir wieder das Problem einer objektiven ‚Beobachtung‘ von angeblichen ‚Fakten‘. Oelkers spricht bezogen auf die Position des Wissenschaftlers von der Problematik des ‚Suchverhaltens‘. (Vgl. Oelkers 2011, S.11f.) Wer von der Propaganda der angeblichen Reformpädagogen geblendet keine anderen Quellen in Betracht zieht als deren Selbstdarstellungen, wird auch in deren Praxis kaum etwas davon Abweichendes entdecken:
„Wer von der Sprache, dem Duktus und der Selbstsicht der Reformpädagogik ausgeht, wird bei aller Verschiedenheit der Ansätze keine dunklen Seiten entdecken, weil sie naturgemäß nicht thematisiert werden. Ein Großteil der vorliegenden Literatur übernimmt die reformpädagogische Rhetorik und schließt von dort auf die Praxis.“ (Oelkers 2011, S.8)
Dieser Umstand ist Oelkers zum ersten Mal angesichts des Skandals um den jahrzehntelangen sexuellen Mißbrauch in der Odenwaldschule richtig bewußt geworden:
„Hier blendete der Nimbus der Reformpädagogik noch im Augenblick seiner Zerstörung. Aber es war ebenso naiv wie unentschuldbar, mit dunklen Seiten nicht gerechnet zu haben.“ (S.11) 
Wir haben es also bei der pädagogischen und noch mehr bei der reformpädagogischen Praxis, wie gesagt, mit einem ideologisch verminten Gelände zu tun. Das gilt um so mehr, als die Landerziehungsheime im kulturpolitischen Umfeld einer im 19. Jhdt. beginnenden sexuellen Emanzipation und Hygienebewegung standen. Sexuelle Befreiung und Hygiene standen in einem schwierigen, ambivalenten Verhältnis zueinander und vertrugen sich dabei paradoxerweise auch mit sexueller Unterdrückung. ‚Paradoxerweise‘? – Vielleicht doch nicht so paradox, wenn man bedenkt, daß es auch heute wieder Denker gibt, die hygienisch vorgehen und für eine allgemeine „Immunologie“ im Dienste der „Ko-Subjektivität“ plädieren (Sloterdijk) oder eine „Biopolitik“ diskutieren, die zwischen gutem und weniger gutem Leben unterscheidet (Agamben).

In diesem problematischen Zusammenhang einer sozialen Hygiene steht auch der Begriff des pädagogischen Eros, den die Gründer der Landerziehungsheime, insbesondere Gustav Wyneken (1875-1964) und Paul Geheeb (1870-1961), in den Mittelpunkt ihrer Internatsschulen stellten. Wenn in den folgenden Besprechungen deshalb immer wieder von homosexuellen Lehrern und Erziehern die Rede ist, die vorgaben, ihre pädophilen Neigungen bildeten wertvolle Qualifikationen für den Umgang mit jungen Menschen (vgl. Oelkers 2011, S.148f.), so ist damit keineswegs die Absicht verbunden, die historischen Erfolge, die mit der sexuellen Emanzipation des 19. und 20. Jhdts. verbunden sind, in Frage zu stellen. Es geht vielmehr darum, daß die sexuellen Neigungen von Pädagogen für ihr professionelles Handeln strikt tabu sein müssen. Das gilt auch für andere Professionen wie Ärzte, Therapeuten, Anwälte etc., also überall dort, wo Profis es mit einer von ihnen abhängigen Klientel zu tun haben. Es ist schon erstaunlich, daß das ausgerechnet für Pädagogen nicht gelten soll!

Ein anderes Problem ergibt sich für mich im folgenden aus der spezifischen Klientel der Landerziehungsheime. Ich meine damit Schüler, die aus einem bildungspolitischen Umfeld kommen, das rigoros nach erfolgreichen und nicht erfolgreichen Schulkarrieren selektiert. Oelkers spricht immer wieder von ‚Schulversagern‘, für die die Landerziehungsheime die letzte Chance bildeten, einen Schulabschluß zu erhalten: „Eine typische Karriere in Landerziehungsheimen begann mit Schulversagen.“ (Oelkers 2011, S.88; vgl. auch S.20, 63, 79 u.ö.)

Ich mag dieses Wort nicht, weil es einen jungen Menschen für etwas verantwortlich macht, was in erster Linie dem deutschen Bildungssystem anzulasten ist. An einer anderen Stelle spricht Oelkers von „schulmüden Jungen“ (vgl. Oelkers 2011, S.83), was, wie ich finde, die Sache schon besser trifft.

So viel an dieser Stelle zur Problematik pädagogischer bzw. wissenschaftlicher Begrifflichkeiten.

Wenn ich mich in den folgenden Besprechungen mit dem Thema ‚Landerziehungsheim‘ auseinandersetze, dann als Erziehungswissenschaftler mit der Lehrbefugnis für Allgemeine Pädagogik und für Schulpädagogik, der zudem einige Jahre in einem von der DFG finanzierten Forschungsprojekt zur Reformpädagogik gearbeitet hat. Gegenstand meiner Besprechung ist Jürgen Oelkers’ Buch „Eros und Herrschaft“ (2011). Alle weitergehenden Bezüge zum heutigen Stand der fraglichen Einrichtungen sind ausschließlich den Leserinnen und Lesern überlassen und können nicht dem Rezensenten angelastet werden.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen