„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 3. Januar 2018

Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011

1. Prolog: Begriffe und Tatsachen
2. Komplexe Mißbrauchssysteme
3. Strukturmerkmale einer Vorzeigeschule: Abbotsholme
4. Knabenliebe und pädagogischer Eros
5. Fluktuation von Personal und Klientel
6. Gesellschaftliche Verantwortung

Es sind vor allem drei Gründerpersönlichkeiten mit ihren Landerziehungsheimen unter den „zahlreichen Gründungen privater Schulen mit neuen oder neu erscheinenden pädagogischen Konzepten im 19. sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ (vgl. Oelkers 2011, S.13f.), mit denen sich Jürgen Oelkers befaßt: mit Hermann Lietz und zwei von ihm gegründeten Landerziehungsheimen Ilsenburg (1898-1923) und Haubinda (1901-1948, 1991 bis heute), mit Gustav Wyneken und der von ihm gegründeten Freien Schulgemeinde Wickersdorf (1906-1945) und mit Paul Geheeb und der von ihm gegründeten Odenwaldschule (1910-2015).

Alle diese Landerziehungsheime samt ihren Gründerpersönlichkeiten haben gemeinsame Struktur- und Charaktermerkmale, die Jürgen Oelkers schon in der Person von Cecil Reddie und der New School of Abbotsholme (1889 bis heute), einem englischen Internat, an dem Hermann Lietz 1896 bis 1897 als Lehrer gearbeitet hatte, vorgeprägt findet. Seine Erfahrungen in Abbotsholme legte Hermann Lietz in seinem Buch „Emlohstobba“ (1897) nieder; sie führten zur Gründung des ersten Landerziehungsheims in einer Pulvermühle bei Ilsenburg. Abbotsholme bildet das „erklärte Vorbild“ nicht nur der deutschen, sondern aller „privaten ‚neuen Schulen‘ in Europa am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts“. (Vgl. Oelkers 2011, S.40)

Mir geht es in diesem Blogpost vor allem um die Strukturmerkmale der Landerziehungsheime, wie sie Oelkers am Vorbild ‚Abbotsholme‘ sichtbar macht. So bildete Abbotsholme Oelkers zufolge ein „striktes Herrschaftssystem“, das der Selbstdarstellung Cecil Reddies (1858-1932), dem Gründer von Abbotsholme, widersprach. (Vgl. Oelkers 2011, S.41) Reddie berief sich für seine Schule auf Walt Whitmans „Love of Comrades“ (vgl. Oelkers 2011, S.40), aber von einem egalitären Kameradschaftsverhältnis zwischen Schülern, Lehrern und dem Schulleiter konnte in seiner Schule nicht die Rede sein:
„... Demokratie im Sinne von Whitman war für Reddie nie ein Thema und es ist irreführend, sich unter der ‚Kameradenliebe‘ eine pädagogische Gemeinschaft vorzustellen, die tatsächlich durch ‚Liebe‘, in welcher Form auch immer, zusammengehalten wurde.“ (Oelkers 2011, S.41)
Reddie unterhielt in Abbotsholme ein Präfekten- und Spitzelsystem, in dem die älteren Schüler sogar das Recht hatten, „ihre jüngeren Mitschüler bei gegebenem Anlass körperlich (zu) züchtigen“. (Vgl. 2011, S.59) Dieses Präfekten- und Spitzelsystem war für Reddie nicht nur ein Instrument der Kontrolle und Herrschaft gegenüber den Schülern, sondern auch gegenüber den Lehrern:
„Wenn es darauf ankam, waren die älteren Schüler Reddies Verbündete gegen den Rest der Schule.“ (Oelkers 2011, S.59)
Das interne Schulleben war also auf Repression angelegt und erzeugte entsprechende Reaktionen wie Widerstand und Fluktuationen im Bereich der Schülerschaft und Lehrerschaft: Die Schule „musste immer wieder mit Krisen kämpfen, auf die sie nicht vorbereitet war“, und „die Nachfrage hielt sich in Grenzen“ (vgl. Oelkers 2011, S.41):
„Die Richtzahl von 100 Schülern wurde nie erreicht. Im Sommer 1908 waren 85 Schüler an der Schule eingeschrieben, mehr wurden es nie, solange Reddie die Schule leitete. Die geringe Nachfrage hatte auch mit den ständigen internen Auseinandersetzungen zwischen Reddie und der Lehrerschaft zu tun, de diem Ruf der Schule unter den Eltern nicht förderlich waren. Aufgrund einer solchen Auseinandersetzung hatte Abbotsholme Ende 1908 nur noch etwas mehr als 30 Schüler, die Zahl wuchs bis 1911 auf 47 an.“ (Oelkers 2011, S.47f.)
Zum repressiven Klima im Schulleben trugen auch die „große(n) charakterliche(n) Schwächen“ des Schulleiters bei, den man, so Oelkers, nur als „Exzentriker“ bezeichnen kann (vgl. ebenda):
„Im Umgang mit anderen Menschen zeigte der Schulleiter sehr unangenehme Seiten. Reddie konnte nicht zuhören und monopolisierte jede Konversation, ohne es zu merken ... . Er war der geborene Rechthaber und Besserwisser, darin selbst für wohlmeinende Besucher der Schule sehr unangenehm. Wenn ihn nach langen Monologen jemand unterbrach und eigene Ansichten äußerte oder gar Kritik, dann empfand er das als grobe Zumutung und warnte Besucher schon mal vor der Wiederholung solcher Frechheiten ... .“ (Oelkers 2011, S.53)
Reddies Schulkonzept, in dessem Zentrum die Kameradenliebe, Whitmans „Love of Comrades“, stand, war aus der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen in England im 19. Jhdt. hervorgegangen. (Vgl. Oelkers 2011, S.24ff.) Diese Emanzipation war eng mit dem Begriff der „Lebensreform“ verbunden, die sich gegen die „viktorianische Sexualmoral“ richtete und eine Neubewertung von Körperlichkeit und Nacktheit propagierte. (Vgl. Oelkers 2011, S.25) Da viele homosexuelle Intellektuelle ihre Jugend in englischen Eliteinternaten verbracht hatten, war die „Love of Comrades“ sicher auch ein Akt der Subversion gegen die schulische Repression gewesen.

Bei Cecil Reddie wurde die Kameradenliebe selbst zu einem Mittel der Repression: „... auffällig ist der enge Zusammenhang von Eros, Unterdrückung und Herrschaft in seiner Schule ebenso wie in seiner Persönlichkeit ...“ (Oelkers 2011, S.31) – Die repressive Struktur von Cecils ‚Kameradenliebe‘ zeigt sich in der Ambivalenz, mit der die Körperlichkeit in seiner Schule thematisiert wurde. Sie war vor allem Gegenstand totaler Kontrolle:
„Er suchte eine platonisch definierte Nähe zu den Jungen, um der eigenen Konstitution“ – sprich seinen homosexuellen Neigungen – „entgegenzukommen und sie zugleich in Schach halten zu können. Seine reine Welt der ‚neuen Erziehung‘ hatte ihren Hauptzweck darin, Jungen, die in seinem Internat lebten, vor dem Bösen zu bewahren. Dazu dienten der ‚cult of open air and much work on the farm‘ ebenso wie ein striktes Keuschheitsgebot ..., das verknüpft war mit einer Sexualaufklärung, die die Natürlichkeit der Körperfunktionen betonte und zugleich vor der Lust warnte. Die Beziehungen sollten ‚kameradschaftlich‘ sein, sexuelle Handlungen gleich welcher Art standen unter Strafe.“ (Oelkers 2011, S.51)
Die Sexualität war also gleichzeitig tabu und ständig präsent. So wurde Reddies Version der „Kameradenliebe“ zu einer „paradoxen Aufforderung()“: „Das Verbotene war sichtbar und sollte doch bekämpft werden.“ (Oelkers 2011, S.67)

Oelkers beschreibt, wie die Schüler auf dem Weg zum Speisesaal immer am Bild eines nackten Engels vorbeigingen:
„Das Bild aus dem Jahre 1894 trug den Titel l’ange des splendeurs. Die Jungen sahen also vor jeder Mahlzeit den ‚glorreichen Engel‘, der die männliche Jugend vor Verführung schützt und für sie zugleich eine solche darstellt. Das Bild zeigt, wie ein nackter Jüngling dem über ihm schwebenden, ebenfalls nackten Engel in die Höhe der Bergwelt nachfolgt und nicht weiß, ob das der Schutz vor dem Eros ist oder dieser selbst. ... Die Jungen wurden körperlich wie seelisch ‚abgehärtet‘ und von Reddie in eigenen Lektionen auf die Folgen der Sexualität verwiesen, während sie um sich herum Stimulanzien sehen konnten.“ (Oelkers 2011,S.66f.)
Diese Ambivalenz in der Propagierung eines angeblich platonischen Eros, im Kult nackter Körperlichkeit bei gleichzeitig verbotener Sexualität, insbesondere Onanie und erotische Kontakte mit Gleichaltrigen (vgl. Oelkers 2011, S.66) – zwischen Erwachsenen und Schülern hingegen waren sie erlaubt –, zieht sich verhängnisvoll auch durch die ersten 40 Jahre der Geschichte der deutschen Landerziehungsheime. Der platonische bzw. pädagogische Eros, wie ihn Hermann Lietz und seine Nachfolger praktizierten, wurde explizit mit dem Versprechen beworben, daß er ‚unnatürliche‘ sexuelle Praktiken wie Onanie und Sex unter Schülern wirkungsvoll bekämpfe:
„Als moderne ‚Erziehungsschulen‘ war die Bekämpfung sexueller Begierden Teil ihres Programms, und die Landerziehungsheime wurden auch tatsächlich als probates Mittel für eine Erziehung zur ‚Selbstbeherrschng‘ betrachtet, allerdings nur im Blick auf die Schülerinnen und Schüler.“ (Oelkers 2011, S.211)
Nacktheit in der Freizeit beim Baden und sogar im Unterricht galt dabei als probates Mittel der ‚Abhärtung‘. (Vgl. Oelkers 201, S.215 und S.218)

Schon Cecil Reddie bewarb sein spezifisches Konzept der ‚Kameradenliebe‘ damit, daß es ‚ganzheitlich‘ sei (vgl. Oelkers 2011, S.46), also das Kind bzw. den Jugendlichen mit seiner ganzen Persönlichkeit ins Zentrum der Erziehung stellte. Für die deutschen Landerziehungsheime galt später ebenfalls das Primat der Erziehung vor dem Unterricht. (Vgl. Oelkers 2011, S.10f., 50, 73, 76) Wohl nicht ganz zufällig paßte dieses Konzept zu dem Umstand, daß die Gründer der Landerziehungsheime selbst miserable Lehrer waren, „unfähig professionell zu unterrichten, wie Cecil Reddie, Hermann Lietz, Gutstav Wyneken und Paul Geheeb“, wie Oelkers schreibt. (Vgl. Oelkers 2011, S.263; vgl. auch S.86, 135, 178)

Alle Struktur- und Persönlichkeitsmerkmale, die Oelkers bei Abbotsholme und Cecil Reddie aufzeigt, finden sich bei den späteren Gründerpersönlichkeiten der deutschen Landerziehungsheime wieder. In den folgenden Blogposts werde ich darauf noch näher eingehen und mich außerdem mit der Frage befassen, wie der Erfolg der deutschen Landerziehungsheime in den ersten 40 Jahren ihrer Geschichte zustandekam. Mit ‚Erfolg‘ meine ich, daß sie überhaupt so lange bestehen konnten, ohne an ihren inneren Widersprüchen und ständigen Krisen zugrundezugehen.

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