„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 6. Januar 2018

Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011

1. Prolog: Begriffe und Tatsachen
2. Komplexe Mißbrauchssysteme
3. Strukturmerkmale einer Vorzeigeschule: Abbotsholme
4. Knabenliebe und pädagogischer Eros
5. Fluktuation von Personal und Klientel
6. Gesellschaftliche Verantwortung

Bevor ich auf die gesellschaftliche Verantwortung für die nachwachsenden Generationen zu sprechen kommen, möchte ich die auf die Reformpädagogik gerichteten gesellschaftlichen Interessen thematisieren. ‚Die‘ Reformpädagogik als ein einheitliches Gebilde gibt es nicht. (Vgl. Oelkers 2011, S.120f.) Der eigenen Rhetorik der verschiedenen Reformpädagogen zufolge hatten sie zwar alle nur ein einziges Interesse: das ‚Kind‘ und seine Rechte, wie sie Ellen Key (1849-1926) in ihrem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ (1902) propagiert hat. Dabei waren aber schon die Reformpädagogen unter sich uneinig darüber, auf welche Weise diese Rechte am besten gewährleistet werden können.

Wie weit die Spannweite reichte, zeigt sich daran, daß die Jugendbewegung in den Nationalsozialismus (Hitlerjugend) mündete. (Vgl. Oelkers 2011, S.257) Nationalistische und nationalsozialistische sowie antisemitische Ansichten waren unter den Gründern der Landerziehungsheime und ihren Mitarbeitern verbreitet, wobei sie es im Wechsel der Systeme von der Weimarer Republik, über das Dritte Reich bis zur DDR durchaus verstanden ihre pädagogischen Konzepte den unterschiedlichsten politischen Systemen anzudienen. Dabei ist es kurios, wenn man liest, wie sie sich selbst als liberal und aufgeschlossen darzustellen versuchten. So beklagt sich z.B. Gustav Wyneken über den „beständig zunehmende(n) Bestand der jüdischen Rasse am Bestand der Schülerschaft“ und fügt dann, wie Oelkers festhält, hinzu: „Das sei lediglich eine Feststellung und würde ‚jede antisemitische Regung‘ ausschließen.“ (Oelkers 2011, S.180)

Auf diese Weise können sich sogar noch in der Wolle gefärbte Antisemiten selbst von jedem Verdacht des Antisemitismus freisprechen.

Unter den Intellektuellen finden sich die verschiedensten weltanschaulichen Interessen an den ‚reformpädagogischen‘ Konzepten der Landerziehungsheime. Als Gustav Wyneken 1921 wegen sexuellen Mißbrauchs verurteilt wurde, fand er vor allem unter linken Intellektuellen engagierte Verteidiger, die in seiner Freien Schulgemeinde Wickersdorf das pädagogische Vorbild für eine demokratisch orientierte Erziehung sahen:
„Das Urteil des Landgerichts von Rudolstadt galt in der Weimarer Republik als provinziell und war äußerst umstritten. Wyneken hatte zu der Zeit zahlreiche Anhänger, die mobil machten und auch außerhalb von Wickersdorf regelrechte Unterstützerkomitees bildeten. So wurde etwa in Hamburg ein ‚Wyneken-Kampfausschuss‘ gegründet, der das Urteil publizistisch bekämpfte. Andere Städte folgten. Das Urteil selbst wurde ohne näheres Hinsehen als politisches Urteil hingestellt. Tatbestände und Opfer konnten ignoriert werden. Kurt Hoffmann wurde als Denunziant bezeichnet und in der Öffentlichkeit massiv verurteilt ... .“ (Oelkers 2011, S.247f.)
Kurt Hoffmann hatte Protokolle von den Berichten der betroffenen Schüler erstellt und die Mißbrauchsaffäre bekannt gemacht. (Vgl. Oelkers 2011, S.238f.) – Die liberalen Unterstützer und Verteidiger Wynekens sahen in dem Justizurteil den Sieg einer ‚reaktionären‘ Pädagogik, ein Vorgang, der, wie Oelkers schreibt, „sich dann später in der Odenwaldschule wiederholen sollte“. (Vgl. Oelkers 2011, S.248) Ich kann mich noch erinnern, wie ich in meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem von der DFG finanzierten Forschungsprojekt zur Reformpädagogik an der Universität Erfurt einer Kollegin, die die pädagogische Werkstatt leitete, von meinen Einsichten in die trübe Gemengelage von fragwürdigen Motiven und Praktiken dieser ‚Reformpädagogen‘ berichtete. Ihre Reaktion war ganz ähnlich wie die jener linksliberalen Intellektuellen in der Weimarer Republik. Sie befürchtete, unsere Forschungsergebnisse könnten die pädagogische Arbeit in Kindergärten und Schulen erschweren, weil den engagierten Lehrerinnen und Lehrern in ihrer Auseinandersetzung mit der Politik und den Behörden die reformpädagogischen Argumente genommen würden, mit denen sie Verbesserungen einfordern konnten.

Auch hier hatte ich es also mit einer interessegeleiteten, an Ideologien orientierten Einstellung zu tun, die lieber die reformpädagogische Historie schönfärbt, als sich der teilweise traurigen Realität zu stellen. Ich sage ‚teilweise‘, denn auch  ein negatives Pauschalurteil wird der Reformpädagogik keineswegs gerecht. Ich  muß jedenfalls gestehen, daß ich damals meine damalige Kollegin verstand und sie auch heute noch verstehe. Um des ‚Seins‘, also um der pädagogischen Praxis willen, bedarf es der Pflege eines Scheins, der die gesellschaftlichen Interessen zu manipulieren vermag. So was könnte man auch ‚Politik‘ nennen.

Dabei wird aber leider noch etwas anderes vergessen. Es interessierten sich, wie schon angedeutet, nicht nur links-liberale Gruppierungen für die Landerziehungsheime. Paul Geheeb, der sich selbst gerne als einen aufgeklärten ‚Humanisten‘ darstellte (vgl. Oelkers 2011, S.182), fand Unterstützer auch bei Befürwortern einer völkisch-nationalistisch ausgerichteten Blut-und-Boden-Ideologie. (Vgl. Oelkers 2011, S.289) Der von der christlich-theosophischen Schriftstellerin Gertrud Prellwitz (1869-1942) – eine entschiedene Gegnerin der westlichen Demokratien und der Naturwissenschaft (vgl. ebenda) – verfaßte dreibändige Roman „Drude. Ein Buch des Vorfrühlings. Der neuen Jugend gewidmet“ (1921), in dem sie die Geschichte einer Schülerin erzählt, erreichte bis 1922 eine Auflage von 40.000 Exemplaren: „Die Odenwaldschule wurde in Deutschland erst damit wirklich bekannt.“ (Oelkers 2011, S.288)

Viele der Metaphern, die Prellwitz für die Odenwaldschule fand, wie z.B. „Kinderparadies“, sind für die gesellschaftliche Wahrnehmung der Schule prägend geworden. (Vgl. Oelkers 2011, S.289)

Was mich ratlos macht – und damit kommen wir zur gesellschaftlichen Verantwortung für die nachwachsenden Generationen –, ist der Umstand, daß all die vielen Besucher der Landerziehungsheime, die sich teilweise sogar mehrere Tage und Wochen dort aufhielten, für den tatsächlichen Zustand des Schullebens blind gewesen sind. Unter diesen Besuchern waren nicht nur Eltern oder ideologisch voreingenommene Intellektuelle, sondern auch Wissenschaftler, Psychologen und Ärzte. Ein so renommierter Erziehungswissenschaftler wie Herman Nohl (1879-1960) beschreibt die Landerziehungsheime als „eine ganz einfache, wunderbar heitere und höchst lebendige Knabenwirklichkeit“. (Vgl. Oelkers 2011, S.125) Oelkers schreibt dazu:
„Genauer hingeschaut hat niemand. Oder anders gesagt: die tatsächlichen Herrschaftsformen haben niemanden interessiert. Sie blieben verborgen und haben keine Öffentlichkeit gefunden, zumal Berichten von Kindern ohnehin wenig geglaubt wurde.“ (Oelkers 2011, S.125)
An dieser Stelle stellt sich mir die Frage nach der konkreten gesellschaftlichen Verantwortung für die pädagogische Praxis, die sich offensichtlich nicht auf gelegentliche Besuche des Schulamts beschränken läßt. Vielmehr hängt das offensichtliche Versagen dieser gesellschaftliche Verantwortung ganz eng mit einem selektiven Bildungssystem zusammen, das sich nicht wirklich für das Wohl des Kindes interessiert, sondern das vor allem auf die Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen, politisch-ideologischen und wirtschaftlichen Verhältnisse fokussiert ist, für die es den geeigneten Nachwuchs heranzuziehen gilt. Die Landerziehungsheime konnten nur deshalb die ersten 40 Jahre ihrer Geschichte finanziell überstehen, weil ihnen ihre Klientel, das „nicht primär wegen ihres Konzepts, sondern fast immer aus persönlichen Notlagen“ zu ihnen kam (vgl. Oelkers 2011, S.9), nicht ausging: „Eine typische Karriere in Landerziehungsheimen begann mit Schulversagen.“ (Oelkers 2011, S.88)

Zur spezifischen gesamtgesellschaftlichen Blindheit für die dunklen Seiten der Reformpädagogik trug sicher auch nicht wenig die psychische Befindlichkeit der Schüler bei. Natürlich waren nicht alle Schüler gleichermaßen unglücklich oder machten Mißbrauchserfahrungen. Zu diesen Schülern gehörten nicht nur die Täter in den Reihen der Schülerschaft selbst (Pennalismus), die das beste für sich aus den Machtverhältnissen in diesen Einrichtungen zu machen wußten. Manche hatten einfach Glück gehabt und können im Nachhinein auf eine glückliche Internatszeit zurückblicken. Hier gilt, was ich eingangs meiner Besprechung von Oelkers Buch festgehalten habe: es gibt keine allgemeingültigen pädagogischen ‚Tatsachen‘, die unabhängig von der individuellen Persönlichkeit für alle gleichermaßen gelten. Pädagogische Tatsachen sind immer personenspezifisch und situationsabhängig, sogar in komplexen Mißbrauchszusammenhängen, wie wir sie hier am Beispiel der ersten 40 Jahre der Landerziehungsheime diskutiert haben.

Hinzu kommen die Auswirkungen einer spezifischen Aufmerksamkeit auf die Psyche der Schüler: sie neigen wie alle Menschen dazu, sich durch die Augen der Anderen wahrzunehmen. Das gehört zur rekursiven Grundstruktur der menschlichen Intentionalität. Wenn die Schüler also erleben, wie in ihren Internaten ständig Besucher ein und ausgehen und sie wie Weltwunder bestaunen, dann halten sie auch sich selbst und ihre Einrichtung für etwas Besonderes, unabhängig davon, was sie tatsächlich im Unterricht leisten oder zum Schulleben beitragen:
„Ein ‚Paradies hinter goldenen Gittern‘ nannte der Zürcher Schauspieler Erwin Parker die Odenwaldschule rückblickend. ... ‚man hatte uns gelehrt, dass wir ‚anders‘ waren als die anderen, und welches Kind, welcher Mensch übersteht unbeschadet, wenn er merkt, dass er fortwährend bewundert wird?‘“ (Oelkers 2011, S.295)
Das Leben in den Landerziehungsheimen bildete also, wie in allen sozialen Einrichtungen, eine corporate identity heraus, an der die Schüler auch dann festhielten, wenn ihre eigenen Erfahrungen diesem nach außen getragenen Bild widersprachen. Dieser psychologisch sehr wohl nachvollziehbare Umstand wurde von den Gründern auch weidlich ausgenutzt. Sie hielten ihre Schüler ständig dazu an, sich Besuchern gegenüber von ihrer besten Seite zu zeigen. Oelker spricht von einem „Zwang zur ständigen Präsentation nur der besten Seiten der Schule“:
„Den Besuchern wurde gezeigt, was sie erwarteten, nämlich das Kinderparadies und die reformpädagogische Musterschule. Genau darin, schreibt Parker, waren die Schüler geübt.“ (Oelkers 2011, S.296)
Die Gesellschaft kann ihrer Verantwortung für die nachwachsenden Generationen also nur gerecht werden, wenn sie endlich die ideologischen Scheuklappen ablegt, mit denen sie seit zwei Jahrhunderten ein selektives Bildungssystem betreibt. Sie darf das Bildungswesen nicht weiterhin privaten Interessen überlassen, geschweige denn es für diese Interessen noch weiter öffnen im Sinne einer ausschließlich an Rendite orientierten Globalisierung. Bisher ist sie jedenfalls ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. So viel, denke ich, kann am Schluß der Lektüre von Oelkers Buch „Eros und Herrschaft“ festgehalten werden.

PS (29. Oktober 2019): Was ich hier von den Schülern geschrieben habe, daß sie sehr unterschiedliche Erfahrungen mit den Landerziehungsheimen gemacht haben, nicht nur traumatische, sondern auch positive, gilt auch von Lehrern und Erziehern. Ich habe gerade begonnen, ein zweites Mal Martin Wagenschein zu lesen, ein Physik- und Mathematikdidaktiker des 20. Jhdts., der in den 1920er und -30er Jahren insgesamt neun Jahre in der Odenwaldschule gelebt und unterrichtet hat. Ich verehre Martin Wagenschein sehr, der die Physik und Mathematik phänomenologisch aufgefaßt hat und seinen Unterricht nicht an Formeln aufgehängt hat, sondern seine Schüler direkt den Naturphänomenen selbst begegnen ließ, um sie ihre eigenen Entdeckungen machen zu lassen. Hätte ich ihn als Physik- und Mathe-Lehrer gehabt, hätte sogar ich mit diesen Fächern etwas anfangen können.

Während ich also Wagenscheins „Erinnerungen für morgen“ (1983/1989) lese, fällt mir auf, wie sehr er seine Zeit in der Odenwaldschule verklärt – obwohl er selbst beteuert, genau das nicht zu tun –, und von der Persönlichkeit von Paul Geheeb, den Oelkers als rücksichtslosen Egomanen beschreibt, schwärmt Wagenschein in höchsten Tönen. Es gibt nur eine kleine Textstelle, aus der man eine kleine Distanzierung herauslesen kann:
„Man würde sehr  irren, wenn man diese neun Jahre als einen schwärmerischen Erholungsurlaub bewertete. Das war er für keinen von uns. Da gab es keine ‚Dienststunden‘, sondern ständige Präsenz, es gab auch Unzulänglichkeiten, Enttäuschungen, und Ärger, manchmal dachte man daran, den Koffer zu packen. Aber solche Anfechtungen gehören zu jedem bedeutenden und ernsthaften Aufbruch in neue Formen, wenn er Folgen haben soll.“ (Wagenschein 1989, S.33f.)
Diese Textstelle zeigt noch einmal, wie unterschiedlich die Mißbrauchsstrukturen in den Landerziehungsheimen wahrgenommen und erlebt werden konnten. Und es ist immer dasselbe Argument, mit dem auch die Gründer dieser Landerziehungsheime die umfassende Ausbeutung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – „ständige Präsenz“, „keine ‚Dienststunden‘“ – rechtfertigten: das gehört einfach zu einem „ernsthaften Aufbruch in neue Formen“ dazu. Dafür muß man sich schon mal gerne ausbeuten lassen. Ein Argument, das in den 120 Jahren der Landerziehungsheime immer wieder gerne in Anwendung gebracht wurde.

Bei den von Wagenschein angesprochenen „Unzulänglichkeiten“ läßt er es im Unklaren, ob er mit ihnen sich selbst meint oder seine Kolleginnen und Kollegen. Nur daß Paul Geheeb selbst etwas mit diesen Unzulänglichkeiten zu tun gehabt haben könnte, das kann und darf einfach nicht sein.

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