„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 3. März 2018

Adrian Owen, Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod, München 2017

(Verlagsgruppe Droemer Knaur, Hardcover, 320 S., 19.-- €)

1. Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie
2. Bewußtseinskriterien I
3. Körper, Gehirn und Bewußtsein
4. Bewußtseinskriterien II
5. Ethik und Seele

Adrian Owen leidet an dem unter Neurowissenschaftlern weit verbreiteten Neuroismus, einer Form des Naturalismusses, die sich in der Behauptung manifestiert, daß es sich beim Bewußtsein und bei der Willensfreiheit, über die wir in unserem täglichen Leben zu verfügen glauben, „in Wirklichkeit nur um eine Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen“ handelt. (Vgl. Owen 2017, S.91) Mit wenigen Ausnahmen wie Antonio Damasio und Georg Northoff neigen die Neurowissenschaftler dazu, bei aller Differenzierungsfähigkeit, die sie bei ihren Studien und Experimenten hinsichtlich der Funktionen des Gehirns an den Tag legen, ausgerechnet bei der Verhältnisbestimmung von Bewußtsein und Gehirn auf jeglichen Differenzierungsversuch zu verzichten.

Natürlich handelt es sich bei dieser Verhältnisbestimmung um einen genuin philosophischen Akt, so sehr, daß damit die Philosophie allererst beginnt. Und Neurowissenschaftler weisen selbst immer wieder gerne auf den philosophischen Gehalt ihrer Arbeit hin. Tatsächlich aber setzen sie beides, Bewußtsein und Gehirn, einfach gleich, und der philosophische Gehalt ihrer Arbeit reduziert sich damit auf Null.

Trotzdem finden sich in Owens Buch Stellen, wo der Autor eine subtilere Differenzierung andeutet, wie etwa folgende:
„Es ist faszinierend, dass unser Bewusstsein – oder besser gesagt, unser bewusstes Erleben der Welt um uns herum – allein durch unsere Erfahrungen hervorgebracht wird.“ (Owen 2017, S.244)
An dieser Stelle unterläuft Owen tatsächlich mal eine gehaltvolle Aussage darüber, „was es im Grunde heißt, ein lebender Mensch zu sein“ (vgl. Owen 2017, S.11), ohne daß dieses Bewußtsein gleich wieder auf Gehirnfunktionen reduziert wird. Hier deutet sich an, daß das Gehirn, wie Northoff festhält, ohne eine Umwelt, also ohne Körper und Lebenswelt, kein Gehirn ist. Es ist nur leider zu befürchten, daß Owen bei einer entsprechenden Nachfrage, worin denn diese Erfahrungen genau bestünden, alles gleich wieder auf Gehirnfunktionen reduzieren würde.

Daß wir es beim Bewußtsein und beim Gehirn mit einer problematischen Verhältnisbestimmung zu tun haben, wird in einem Gespräch deutlich, das Owen mit Kate, einer früheren Wachkomapatientin, führt. In diesem Gespräch sagt Kate, daß ihr Gehirn „über Kreuz“ mit ihr sei, weil es nicht tue, was sie wolle. (Vgl. Kate 2017, S.58) Kate spricht damit auf den Umstand an, daß ihr Körper unwillkürliche, ‚automatische‘ Verhaltensweisen und Reflexe an den Tag legt, die sie nicht kontrollieren kann, z.B. Humpeln. Genau darüber beklagt sich auch Juan, der sein linkes Bein, das ihm nicht ‚gehorcht‘, beim Gehen nachzieht. (Vgl. Owen 2017, S.260f.) Und während des Wachkomas scheint es vielen Patienten schwerzufallen, kognitiv anspruchsvolle Aufgaben zu bewältigen, wie sie sich aus der Scanner-Kommunikation mit den Experimentatoren ergeben: sich vorzustellen, Tennis zu spielen oder in einer Wohnung umherzugehen. (Vgl. Owen 2017, S.229f.) Auch hier bedarf es einer bewußten Disziplin und Kontrolle über das Gehirn, zu der viele Wachkomapatienten nicht in der Lage sind.

Um die schwierige und zugleich komplexe Situation angemessen zu beschreiben, verdreifacht Kate die Anzahl der beteiligten Akteure: „Mein Gehirn zwingt meinen Körper, Dinge zu tun, die ich nicht tun will.“ (Kate 2017, S.58) – Kate unterscheidet also zwischen ihrem Gehirn, ihrem Körper und ihrem ‚Ich‘, wobei sie, als ‚Ich‘, sich mit ihrem ‚Gehirn‘ über die Verfügungsgewalt über den gemeinsamen Körper streitet. Als eine solche Streitkonstellation stellt Helmuth Plessner den „Körperleib“ dar. (Vgl. „Anthropologie der Sinne“, in: Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M. 1980/1970, S.317-393: 369)

Wir können am Beispiel von Kate und Juan festhalten, daß es Situationen gibt, in denen wir uns mit unseren Gehirnfunktionen nicht einfach als identisch erleben. Helmuth Plessner führt diese Nicht-Identität, diese Differenz zwischen unserem Körper und unserem Bewußtsein u.a. auf die Anatomie zurück: das Gehirn ist einerseits ein Organ unter Organen, also ein Teil des Körpers. Zugleich ist es aber über den Kopf vom übrigen Körper anatomisch abgehoben. In dieser Gegenüberstellung von Kopf (Gehirn) und Rumpf sieht Plessner die Gegenüberstellung von ‚Körper‘ und ‚Leib‘ vorabgebildet (präformiert), so daß die Differenz des Bewußtseins hier ein organisches Fundament hat. Im Wachkoma und bei anderen neurologischen Erkrankungen verschiebt sich die anatomische Differenz zwischen Körper und Gehirn auf die Differenz zwischen Gehirn und Bewußtsein, insofern sich das Bewußtsein vom Gehirn löst und beide nicht mehr miteinander harmonieren.

Adrian Owen selbst nimmt eine vergleichbare Differenzierung im Verhältnis zwischen Gehirn und Körper vor, wenn er schreibt: „Das Gehirn ist nicht mit irgendeinem anderen Organ des menschlichen Körpers vergleichbar.“ (Owen 2017, S.265) – Dieses Zitat beinhaltet, daß das Gehirn einerseits ein Organ ist wie die anderen menschlichen Organe und zugleich anders. Owen führt diesen Gedanken aber nicht weiter aus, insofern er es versäumt, das Bewußtsein in diese Verhältnisbestimmung mit einzubeziehen. Stattdessen verbleibt er auf der Ebene des Organvergleichs: erstens läßt sich das Gehirn – bislang – nicht transplantieren wie die anderen Organe (vgl. Owen 2017, S.265), und zweitens enthält es Owens Ansicht zufolge, wie schon in den vorangegangenen Blogposts erwähnt, anders als die anderen Organe den Wesenskern unserer Ich-Identität (vgl. Owen 2017, S.266).

Dabei enthalten Owens Fallbeispiele alle Zutaten zur Akzentuierung einer Anthropologie des Körperleibs, wie sie Plessner entwickelt hat. Owen beschreibt, wie die Familien, Eltern oder Ehegatten, ihre komatösen Angehörigen nicht aufgeben und sie nicht nur pflegen, sondern in ihren Lebensalltag integrieren. Sie reden mit ihnen wie mit völlig normalen wachen Menschen, gehen mit ihnen ins Kino, und sie denken sich ausgefallene Therapien aus, um ihre körperliche Gesundheit zu gewährleisten bzw. wiederherzustellen, anstatt sie im Krankenhaus oder in einer spezialisierten Pflegeeinrichtung ‚einzulagern‘ (vgl. Owen 2017, S.141) und sie dort sich selbst zu überlassen, da sie dem fachärztlichen Urteil zufolge sowieso nichts mehr mitkriegen und praktisch schon tot seien. So schreibt Owen z.B. über Winifred, der Ehefrau eines Wachkomapatienten:
„Während ich beobachtete, wie Winifred mit Leonard umging, fragte ich mich, was einen Menschen wirklich ausmacht. Leonard war eindeutig da, er saß direkt vor mir, aber ein wichtiger Teil seines Wesens war nicht präsent. Für mich jedenfalls nicht. Für Winifred war Leonard vollständig anwesend, selbst jene Anteile, die für alle anderen unsichtbar blieben. Leonard lebte in seiner Frau weiter. Es schien so, als trüge sie sein Bewusstsein und hielte es lebendig und gegenwärtig, bis er eines Tages wieder selbst dazu imstande war.“ (Owen 2017, S.276)
Was Owen hier beschreibt, erinnert an die natürlichen, gesunden Funktionen des Körperleibs, die Helmuth Plessner in „Lachen und Weinen“ (1941/1950) und in der „Anthropologie der Sinne“ (1970) hervorhebt: zum einen als Partner und zum anderen als Widerpart unseres Bewußtseins. Die Widerspenstigkeit erleben die ihrer selbst bewußten Wachkomapatienten, wenn der Körper ihnen nicht mehr gehorcht und sie im Streit mit ihm liegen. Die andere Seite des Körpers als Partner unseres Bewußtseins beschreibt Plessner in „Lachen und Weinen“. Dort kommt unser Körper uns in ausweglosen Situationen, die unsere psychischen Kräfte übersteigen und die uns zu vernichten drohen, zur Hilfe. Wenn wir weinen oder wenn wir lachen, übernimmt der Körper die Kontrolle und befreit uns aus der subjektiv empfundenen Ausweglosigkeit.

So könnte man generell sagen, daß der Körperleib genau diese Funktion hat: unserem subjektiven Bewußtsein auf organischer und neurophysiologischer Ebene so weit entgegenzukommen, daß wir uns unserer selbst gewahr werden können.

Und bei Wachkomapatienten, die ihren Körper verloren haben – die also ihr Körper weder sind noch ihn haben –, übernimmt die Familie diese Funktion. Wo der Körper dem Bewußtsein des Wachkomapatienten nicht mehr entgegenkommen kann, nämlich als Körperleib, tun das an seiner Stelle die Angehörigen. So wird der Mensch, wo ihm Menschen auf menschliche Weise begegnen, wieder zum Menschen.

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