„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 4. März 2018

Adrian Owen, Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod, München 2017

(Verlagsgruppe Droemer Knaur, Hardcover, 320 S., 19.-- €)

1. Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie
2. Bewußtseinskriterien I
3. Körper, Gehirn und Bewußtsein
4. Bewußtseinskriterien II
5. Ethik und Seele

Was Adrian Owen zu der Frage, wie man Bewußtstein feststellen und messen kann, beizutragen weiß, hat vor allem etwas mit Statistik zu tun. Die Statistik erstreckt sich sowohl auf die mit PET- und fMRT-Scannern verbundene Errechnung von Durchschnittswerten (vgl. Owen 2017, S.31) wie auch auf die Kriterien, die Owen und sein Team für die ‚Messung‘ des Bewußtseins anwenden. Ob es nun um Gedächtnisfunktionen geht (vgl. Owen 2017, S.112) oder um das Verstehen von Wortbedeutungen (vgl. Owen 2017, S.97 und S.104): es ist das durch die Häufigkeit des Auftretens von Reizen ausgelöste ‚Priming“ (Owen 2017, S.280), das die ‚Spuren‘ legt, auf deren Basis ‚unser Gehirn‘ Assoziationen produziert, die Owen mit Bewußtsein gleichsetzt.

Das Problem dabei ist, daß diese Assoziationen immer produziert werden, da das Gehirn (bzw. das Unterbewußtsein) ständig aktiv ist. Das „Verstehen von Sprache“ ist, wie Owen schreibt, „ein fortlaufender Prozess“ (vgl. Owen 2017, S.101) und findet auch „auf einer niedrigeren, eher automatischen Ebene“ statt, „nicht so sehr als Erfahrung, die reflektiert werden konnte, sondern als einfachere Assoziation“ (vgl. Owen 2017, S.97). Es gibt also keinen Grund, beim ‚Aufleuchten‘ der entsprechenden Gehirnbereiche von enem wachen Bewußtsein auszugehen. Die Phänomene, um die es eigentlich geht, wenn wir von ‚Bewußtsein‘ sprechen, bewegen sich auf einer Ebene, die der objektiven Messung nicht zugänglich sind. Aus philosophisch-phänomenologischer Perspektive handelt es sich bei diesen Bewußtseinsphänomenen um Expressivität, Rekursivität und Intentionalität, die zugleich als Kriterien zum Nachweis für Bewußtsein gelten müssen.

Dabei hängen Expressivität, Rekursivität und Intentionalität eng zusammen. Expressivität meint das Bedürfnis des Menschen, sich selbst auszudrücken. Um sich selbst zu verstehen, muß er sich anderen Menschen mitteilen, die ihm mit ihrer Reaktion widerspiegeln, inwiefern ihm das gelungen ist. Damit beginnt das, was ich mit Michael Tomasello ‚Rekursivität‘ nenne. Die volle Rekursivität, im umfassenden Sinne, beinhaltet das persönliche Interesse an der subjektiven Befindlichkeit (Intentionalität) des anderen Menschen. Tomasello bezeichnet das als geteilte bzw. gemeinsame Intentionalität. Edmund Husserl nennt das schlicht ‚Intersubjektivität‘.Erst diese drei Bewußtseinsmodi zusammen ergeben also das volle, seiner selbst gewisse, subjektive Bewußtsein.

Auch Adrian Owens statistisch basierte Kriterien zielen auf diese Bewußtseinsmodi; er versäumt es aber, sie analytisch sauber herauszuarbeiten. Ungeachtet dieses begrifflichen Defizits verweist sogar sein eigenes Verhalten als Forscher, das durch persönliche Betroffenheit geprägt ist (vgl. Owen 2017, S.23 und S.25 und meinen Blogpost vom 01.03.2018), nochmal auf die besondere Bedeutung insbesondere der Rekursivität. Immer wieder kommt Owen auf sein persönliches Anliegen zu sprechen, verstehen zu wollen, wie es im ‚Inneren‘ seiner Wachkomapatienten, z.B. von Juan, aussieht:
„Ich wollte wissen, wie es sich anfühlte, dort zu sein, wo er war – mit all den klinischen Apparaturen und diagnostischen Werkzeugen, die wir in Fällen wie seinen einsetzten.“ (Owen 2017, S.250)
An anderer Stelle spricht Owen von seiner Verwirrung, als es ihm nicht gelingt, in seinen Scanneraufnahmen „das ungestüme Wesen“ seiner Exfreundin wiederzuerkennen. (Vgl. Owen 2017, S.180f.) Dieses Bedürfnis, sich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen und von dort eine Rückmeldung zu erhalten – „Hallo! Ich bin hier, und ich nehme Dich wahr!“ –, scheint letztlich der innerste Motor von Owens Forschung zu sein. Es bildet zugleich das eigentliche ‚Wesen‘ unseres Bewußtseins.

Was die Intentionalität betrifft, wird sie auf seiner Suche nach dem Bewußtsein zu Owens wichtigstem Instrument. Nachdem Owen sein Forschungsdesign an verschiedenen anderen Bewußtseinsfunktionen ausgerichtet hatte, zieht er mit einem Verweis auf zwei Wachkomapatienten folgendes Fazit:
„Bestimmte Funktionen eines normalen Bewusstseins waren gegeben – Sprachwahrnehmung bei Debbie, Gesichtserkennung bei Kate. Aber das reichte nicht, um zu folgern, dass die eine oder die andere über ein Bewusstsein verfügte. Dies war, gelinde gesagt, frustrierend“ (Owen 2017, S.84)
Schließlich gelangt Owen zu der Einsicht, daß Intentionalität untrennbar zum Bewußtsein dazugehört:
„Und dann wurde mir in einem jener Momente der Inspiration, die nur auftreten, wenn man sie am wenigsten erwartet, plötzlich klar, dass Absicht und Bewusstsein untrennbar miteinander verbunden sind; wenn sich das eine nachweisen ließ, konnte das andere als gegeben angenommen werden.“ (Vgl. Owen 2017, S.111) 
Owen resümiert, daß auch bei seinen bisherigen „Gedächtnisexperimenten“ immer schon Intentionalität involviert gewesen sei. (Vgl. Owen 2017, S.111) Wenn der Patient sich an bestimmte Dinge erinnern soll, muß er sie fokussieren. Er muß entscheiden, seinen „Aufmerksamkeitsscheinwerfer“ auf ganz bestimmte Momente einer Situation oder eines Ortes oder eines Satzes zu richten und andere in den Hintergrund treten zu lassen, um diese Situationen, Orte oder Sätze erinnern zu können:
„Wir haben einen ‚Aufmerksamkeitsscheinwerfer‘ angeschaltet, wie einige Vertreter der kognitiven Neurowissenschaft es nennen. Für Gegenstände innerhalb dieses Scheinwerferlichts bestehen gute Aussichten, im Gedächtnis gespeichert zu werden, ob ich will oder nicht. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand richte, bildet sich in meinem Gehirn eine ‚Repräsentation‘ (ein Abbild) davon ab ... Die bildet die physiologische Grundlage der Aufmerksamkeit: Ein Gegenstand der dinglichen Welt, etwa ein Objekt, das ich anschaue, wird auf ein Netzwerk feuernder Neuronen im Gehirn umkopiert.“ (Owen 2017, S.112f.)
Diese Textestelle bietet ein schönes Beispiel dafür, wie bei den Neurowissenschaftlern philosophisch gehaltvolle Überlegungen mit gleichermaßen floskelhaften wie gedankenlosen Analogien einhergehen: einerseits verbindet Owen den Begriff der Intentionalität mit einem grundlegenden Mechanismus der menschlichen Gestaltwahrnehmung; andererseits aber vergleicht Owen die Gedächtnisfunktionen mit einem Photokopierer! Und letztlich wird dann doch wieder alles auf ein „Netzwerk feuernder Neuronen“ reduziert.

Doch immerhin: der Gestaltwahrnehmungsmechanismus, den Owen hier beschreibt, die Fokussierung eines Vordergrunds und das Absinken aller anderen Aspekte einer Wahrnehmung in einen der Aufmerksamkeit entzogenen Hintergrund, bildet einen wichtigen Bestandteil der menschlichen Intentionalität. Das hat Owen völlig richtig erkannt. Es gelingt sogar einem Kollegen von Owen, Martin Monti, diesen Mechanismus zu verwenden, um mit Wachkomapatienten zu kommunizieren. (Vgl. Owen 2017, S.228) Die bisherige Kommunikationsmethode – die Wachkomapatienten sollten sich vorstellen, Tennis zu spielen oder in ihrer Wohnung herumzugehen –, war für einige der Wachkomapatienten zu anstrengend, um erfolgreich mit Owen und seinem Team kommunizieren zu können. (Vgl. Owen 2017, S.229) Monti verwendete stattdessen zwei übereinander geblendete Bilder in einem Photo, ein Haus und ein Gesicht. (Vgl. ebenda) Die Hauswahrnehmung und die Gesichtswahrnehmung werden von unterschiedlichen Gehirnbereichen realisiert und können also im Scanner unterschieden werden. Je nach dem, ob der Wachkomapatient nun eine Frage beantworten oder verneinen wollte, brauchte er nur auf ein und demselben Photo entweder das Gesicht oder das Haus zu fokussieren. Das jeweils andere Bild tritt in den Hintergrund und wird nicht mehr wahrgenommen. Das ist viel weniger anstrengend als die Vorstellung eines Tennisspiels. Zugleich belegt die Fähigkeit des Wachkomapatienten, mal das Gesicht und mal das Haus im Vordergrund zu halten, daß er nicht nur automatisch auf Anweisungen reagiert, sondern bewußte Handlungsentscheidungen trifft, also über Bewußtsein verfügt.

Nach demselben Prinzip funktionieren Kippbilder, die z.B. mal als Hasenkopf, mal als Entenkopf oder mal als das Gesicht einer schönen jungen Frau, mal als das Gesicht einer weniger schönen alten Frau wahrgenommen werden können. Immer ist es der Betrachter, der nach eigenem Gutdünken dieselbe Figur mal als das eine, mal als das andere wahrnimmt.

Owen weist nochmal auf den wirklich bemerkenswerten Umstand hin, daß all das auf der Grundlage eines einzigen Photos geschieht, also dieselben neurophysiologischen Stimuli zu unterschiedlichen Wahrnehmungserlebnissen führen:
„Erstaunlich dabei ist, dass der Stimulus (das Bild mit übereinandergeblendetem Gesicht und Haus) vollkommen unverändert bleibt; es ändert sich nur der Aspekt des Bildes, auf den sich der Proband konzentriert.“ (Owen 2017, S.229)
Das hätte eigentlich für Owen nochmal ein Anlaß sein müssen, etwas gründlicher über das Bewußtsein nachzudenken. Zum einen kann kein bildgebendes Verfahren sichtbarmachen, was genau ein Mensch bei einer konkreten Wahrnehmung sieht und empfindet. Nicht einmal wenn dabei unterschiedliche Gehirnbereiche in Anspruch genommen werden wie bei der Haus- oder bei der Gesichtswahrnehmung. Das wäre aber der eigentliche Bewußtseininhalt, um den es geht! Gedankenlesen ist also, anders als Owen meint (vgl. Owen 2017, S.288), eben nicht möglich. Selbst bei einer Gehirn-Computer-Schnittstelle werden Gedanken nicht gelesen (vgl. Owen 2017, S.152, 166f., 288), sondern kommuniziert. Es ist der mitteilungswillige Locked-in-Patient, der der Apparatur beibringt, seinen Fokus auf einzelne Buchstaben eines Alphabets zu ‚erkennen‘. Erst diese Prozedur ermöglicht es den Beobachtern, zu lesen was der Patient ihnen zu sagen hat. Auch hier eröffnet sich wieder die bedeutungsstiftende Differenz zwischen sagen und meinen, wie wir sie von Helmuth Plessner kennen. Es ist Owen selbst, der diese Problematik unter den Stichworten der „Mehrdeutigkeit“ und der „Ambiguität“ anspricht. (Vgl. Owen 2017, S.102f.)

Zum anderen haben wir es bei der Gestaltwahrnehmung keineswegs bloß mit irgendwelchen statistisch induzierten, auch automatisch sich vollziehenden Assoziationsroutinen zu Wahrnehmungsbildern oder Wortbedeutungen zu tun. Es braucht vor allem ein waches, aufmerksames Bewußtsein, um die jeweilige Bedeutung einer Situation oder einer Wahrnehmung durch eine Neuausrichtung der Aufmerksamkeit immer wieder neu zu bewerten.

Letztlich wird das Bewußtsein immer dort ‚wach‘, wo die automatischen Routinen an ihre Grenzen stoßen, wo also Störungen im Mensch-Welt-Verhältnis auftreten. Dann taucht das Bewußtsein aus der Grauzone der Automatismen auf, also aus dem Bereich, wo der gesunde Körperleib, unserem Bewußtsein entgegenkommend, den Kontakt zur Welt und zu unseren Mitmenschen aufrechterhält, ohne daß wir das ständig kontrollieren müßten.

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